Kadavar
Frischzellenkur für Retrorock

Interview

„Rough Times“, Album Nummer vier der Berliner Retro-Rocker KADAVAR, zeigt die Band einmal mehr in Hochform. Die Scheibe zeigt aber auch eine dezente Weiterentwicklung, wenngleich in den bekannten Grenzen. Denn die Faszination der Musik aus den Sechzigern lebt bei den Bandmitgliedern fort. Wir baten Schlagzeuger Christoph „Tiger“ Bartelt zum Gespräch, und der erzählte dann auch offen, warum „der alte Scheiß der heiße Scheiß“ ist.

Tiger über…

 

… den Albumtitel „Rough Times“

„Rough Times“ bezieht sich auf heute und jetzt. Es gibt viele Teilbereiche: Manche Songs sind persönlich und haben mit Gefühlen zu tun, die wir in der Zeit beschäftigt haben, wo wir die Platte geschrieben haben. Manche Songs befassen sich damit, wie wir die Welt sehen, mit bestimmten Geschehnissen und dem politischen Klima.

… Neuerungen bei jedem Album

Wir haben nicht unbedingt probiert, uns von dem Retro-Image wegzubewegen, das wir haben. Aber trotzdem wollen wir uns mit einer neuen Platte immer wieder selbst überraschen. Es ist wichtig, wenn man sich weiterentwickeln will, dass es für einen selber frisch ist. Die Siebziger sind immer noch unsere Verwurzelung und unsere Schule. Für mich ist das neue Album eine ziemliche Frischzellenkur, das hören auch viele Leute, dass wir da nicht ganz so dogmatisch herangegangen sind wie vielleicht beim ersten Album.

… die Frischzellenkur auf „Rough Times“

Das beginnt damit, dass bei uns die Situation eine frische war, weil wir in ein neues Studio eingezogen sind. Das Studio haben wir uns gebaut, und es hat uns Anfang des Jahres ein paar Monate Arbeit gekostet. Gleichzeitig muss eine neue Platte für uns auch immer etwas Neues sein. Viele der Ideen, die anfangs im Schreibprozess zu „Rough Times“ hatten, klangen uns zu sehr nach den Alben, die wir schon hatten, vielleicht auch als eine Art Überbleibsel davon oder eine Art Nachgeburt. Anfangs haben wir noch versucht, ein paar Dinge daran zu ändern, haben wir gesagt: Diese Dinge verfolgen wir jetzt nicht weiter. Dann hatten wir neue Ideen, die sich frischer und aktueller anfühlten. Wir hatten das Gefühl, das gehört da jetzt drauf. Die anderen Sachen sind alt und diese sind neu. Es ist schwer zu beschreiben, aber es war für uns ein großer Schritt in eine andere Richtung. Ich bin mir sicher, dass viele Leute denken, das klingt ganz ähnlich wie vorher. Aber man denkt selber krasser, wenn man tagtäglich damit beschäftigt ist und nicht nur das Endprodukt kennt.

… das Selbstverständnis von KADAVAR

Ich wähle da meistens den kleinsten gemeinsamen Nenner und sage Rock beziehungsweise Hard Rock. Ich fühle mich nicht so wohl, das zu spezifisch zu bezeichnen, das sollen andere machen, wenn sie das wollen. Und außerdem muss man sich für die Zukunft immer ein Hintertürchen offen halten. (lacht)

… die Vorstellung davon, was zu KADAVAR passt und was nicht

Es kann sich immer ändern, was wir für Musik machen wollen und was geändert werden muss. Wir haben dieses Mal mit weniger Kontrolle und mehr Experiment gearbeitet. Es gibt Songs, die sind etwas einschlägiger, gerade auf der ersten Hälfte der Platte. Songs, die sich auf der B-Seite befinden, sind diese Experimente, die wir schon bei den früheren Alben hatten, wo wir aber dachten, vielleicht überfordern wir unsere Zuhörer damit oder es ist nicht die richtige Zeit. Oder wir können uns gar nicht vorstellen, dass das zu uns passt. Nach drei Alben kann man, so finde ich, so etwas auch mal trauen. Wir entscheiden immer zusammen, was auf eine Platte kommt, und da sind wir auch eigentlich immer einer Meinung.

… das Songwriting

Die Songs sind halb von mir und halb von Lupus [Sänger und Gitarrist von KADAVAR; Anm. d. Red.]. Was diesmal anders gewesen ist, dass wir noch eigenständiger zu Hause gearbeitet und Songs länger ohne die anderen ausgearbeitet haben. Jeder konnte seine Ideen erst einmal jungfräulich verwirklichen, bevor er sie der Band präsentiert. Ich merke schon, dass man den Songs unseren Charakter stärker anhört. Wir jammen zwar auch, aber daraus entstehen dann nicht notwendigerweise neue Songs. „Lost Child“ zum Beispiel habe ich zum großen Teil zu Hause vorbereitet, habe den Song aber nicht ganz fertig mitgebracht. Beim Introteil haben wir gemerkt, dass da noch etwas fehlt und versucht, zusammen etwas zu finden. So ein Song wird immer durch die Band fertig gestellt.

Kadavar - Band 2017

… die Magie der Dreierbesetzung

Jeder hat ein Drittel beizutragen. Das heißt jeder hat sehr viel Platz, muss ihn aber natürlich auch ausfüllen. Das ist beim Trio die Herausforderung. In Fünferbesetzung mit zwei Gitarren ist es immer recht schnell einfach, einen dichten Sound zu bekommen. Da kann sich beispielsweise der Bass ganz anders verhalten. Wir als Dreiergespann sitzen stunden- und tagelang zusammen und arbeiten kleine Feinheiten heraus, damit es zu dritt genauso klingt. Das war schon immer die Herausforderung, und schon bevor wir uns gegründet haben, fanden wir das die einzige Option. Es hat etwas Spezielles an sich, aber wir wollten auch speziell sein.

… das eigene Studio

Es gibt am Stadtrand von Berlin jede Menge alte Fabriken, die sich dazu eignen, sie selber auszubauen. Wir haben die Räume ausgebaut, damit die Akustik stimmt, und eingeteilt. Meinen Teil des alten Equipments haben wir einfach im neuen Studio wieder aufgebaut, das bildet einen großen Teil der Regie. Unsere ganzen Verstärker sind da und meine Bandmaschine ist wieder topfit. Mit der hatten wir die ersten zwei Alben aufgenommen.

… analoge Technik

Ich setze natürlich auf analoge Technik, denn das lässt sich mit Digitaltechnik nicht simulieren. Ich bin auch ein Freund von altem Equipment: Alt ist immer besser als neu, wenn es um Technik geht. Ich würde nicht sagen, dass das notwendigerweise für die Musik auch so gilt, aber was in den sechziger Jahren von Ingenieuren entworfen worden ist, das ist im Grundsatz seitdem nicht mehr verbessert worden. Es gibt natürlich auch neue Sachen, aber der alte Scheiß ist der heiße Scheiß, den wollen alle haben, und der wird immer teurer. Nicht ohne Grund.

… sein altes Sonor-Drumset

Es ist ein bisschen älter als ich, vierzig Jahre wird es alt wohl alt sein. 1975 hatte Sonor sein 100-jähriges Jubiläum, und danach haben sie ein paar Jahre lang diese Sets gebaut. Eigentlich wollte ich ein Ludwig Vistalite  [ein transparentes Drumset aus Acryl; Anm. d. Red.] haben, konnte es mir aber damals nicht leisten. Dann habe ich ein ähnliches, ebenfalls transparentes Set gesucht und bin über eine private Kleinanzeige in Reutlingen auf mein Sonor-Set gestoßen. Damit bin ich jetzt auch glücklich geworden und habe es auf allen Platten und bis auf eine auch auf jeder Tour in Europa gespielt.

… die Faszination an den Sechzigern und Siebzigern

Das kann man ganz einfach damit zusammenfassen, dass da die Rockmusik entstanden ist. Natürlich gab es mit dem Blues und dem Rock’n’Roll Vorläufer, aber zwischen 1960 und 1970 ist das zu etwas geworden, was man heute als Rock ansieht. Das kann man jetzt nostalgisch nennen, aber klassische Musik hat auch irgendwo ihren Anfang gehabt. Man könnte jetzt sagen, wir hören die Musik unserer Elterngeneration wieder, und es ist auch so, dass ich über meine Mutter ganz viel davon mitbekommen habe. Aber trotzdem wird es ja immer so bleiben, dass die Rockmusik in diesem Zeitraum entstanden ist. Und die Musik hat weitergelebt, und sie lebt in uns weiter und in dem, was wir tun. Das könnte man, muss man aber nicht rückwärtsgewandt nennen. Die letzten vierzig Jahre Musikgeschichte sind ja nicht spurlos an uns vorbeigegangen. Wenn man will, kann man auch so etwas wie Punk in unserer Musik sehen. (lacht) Zehn Prozent vielleicht.

… Berlin als Sehnsuchtsort

Ich habe nicht so ganz gewusst, was mich erwartet, als ich nach Berlin gezogen bin. Außer dass mein Bruder schon damals in Berlin gewohnt und ich ihn ein paar Mal besucht hatte. Es war vielleicht Abenteuerlust gewesen und dass ich Großstadtluft schnüffeln wollte. Man hat irgendwie Träume gehabt, und die hatten auch mit Musik zu tun, allerdings war das ganz abstrakt. Wenn man so eine Stadt besucht, ist das oft ganz inspirierend. Ich wollte vielleicht ein bisschen mehr erleben als das, was ich in Münster erleben konnte. Ich habe zwar nicht genau gewusst, was ich finden wollte, aber ich habe versucht, das herauszufinden.

Es ist ja eine oft gehörte Geschichte: Es gehen viele Leute nach Berlin, um Musik zu machen. Das war bei uns allen der Fall. Und das haben wir mit vielen Leuten gemeinsam, dass man sich erst ein paar Jahre treiben lassen muss, bevor man überhaupt ankommt.

Galerie mit 22 Bildern: Kadavar - European Tour 2023 in Berlin
06.10.2017

- Dreaming in Red -

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