Corinna Engel & Christian Kaiser
Seelenvernichter

Special

Corinna Engel & Christian Kaiser

Wird die Gesellschaft kränker oder werden nur mehr Diagnosen gestellt? Streß, Burn-Out, Belastungen im Beruf und im Privatleben, Existenzängste – seit einiger Zeit finden sich immer häufiger Beiträge und Titelthemen dazu in großen Illustrierten und Nachrichtenmagazinen. Zu diesem Kreis gehört auch ein Thema, welches schon länger bekannt aber nicht minder aktuell ist: Mobbing.

Patient Mensch / Patient Gesellschaft

In ihrem gemeinsamen Buch „Seelenvernichter“ deuten die beiden Künstler Corinna Engel und Christian Kaiser an, dass es im 21. Jahrhundert möglicherweise an der Zeit ist, diesen Begriff neu zu definieren. Nicht nur, weil er von der Realität eingeholt wurde, sondern weil wir es mittlerweile mit ganz neuen Formen zu tun haben, die nicht nur den Mensch als Individuum fordern, sondern auch die Gesellschaft selbst.
Engel und Kaiser sorgten bereits im vergangenen Jahr mit ihrem Bildband „Heroin Kids“ für mächtig Furore. Die drastische Natur ihrer Fotos drogensüchtiger Kinder findet sich nun in der Sprache ihres Buches wieder. Die Protagonistin ist Anja, ein 13-jähriges Mädchen aus dem unteren Rand der Mittelschicht, deren Tatsachenbericht die beiden Autoren in einer Art chronologischer Collage als Ich-Erzählung aufbereitet haben. Tagebucheinträge, innerer Monolog und unmittelbare Schilderungen fließen in kompakte, kurz gehaltene Kapitel, Szenen von Schmerz und Leid, die dem Leser einiges abverlangen werden. Gleich zu Beginn wird man schonungslos ins Geschehen geworfen, wird Zeuge, wie eine vermeintlich feucht-fröhliche Party in einem Strudel von Gewalt und Vergewaltigung endet.

Schon hier muss man erkennen, dass bereits ein großer Teil der Seele Anjas „vernichtet“ wurde. Als Leser ist man an dieser Stelle zum hilflosen Zeugen verdammt, neben einem jungen Mädchen, magersüchtig, Borderline-Symptome, welches sich bereits in ihr hoffnungsloses Schicksal ergeben zu haben scheint. Anjas schulisches Umfeld ist durch Mobbing geprägt, sie ist der Spielball und Mülleimer für alle, die von ihr keinerlei Gegenwehr oder sonstige Konsequenzen zu befürchten haben. Ignorante Lehrer und eine offenbar überforderte Mutter sehen keine Signale, und der einzige Hoffnungsanker ist ein abwesender, toter Vater. Mit dieser Figur der liebenden und treusorgenden Vaterfigur eröffnet „Seelenvernichter“ eine Parallele zu Jochen Ziems Roman „Boris, Kreuzberg, 12 Jahre“. Es gibt noch mehr Berührungspunkte. Der Aspekt eines inkriminierenden und demütigenden Handyvideos, unter dem Anja zu leiden hat, findet sich auch in Kilian Riedhoffs beeindruckendem Dokudrama „Homevideo“, während in den USA gerade „Bully“ von Lee Hirsch aktuell ist.

Hackordnung des 21. Jahrhunderts

Was die verarbeiteten Sujets eint, ist eine Steigerung dessen, was in der Öffentlichkeit bisher als ‚Mobbing‘ begriffen wurde. Benachteiligung am Arbeitsplätz, Rufschädigung, Lästereien – war Mobbing früher vielleicht noch der stete, den Stein aushöhlende Tropfen, der die Betroffenen auf Dauer psychisch zermürbt, so sorgt Anjas Geschichte für eine krasse Diskrepanz zum modernen Pendant dieses Begriffs. Mobbing ist hier vor allem Gewalt, brutalster Mißbrauch, sexuelle Erniedrigung. In ihm findet sich das Bild einer kannibalistischen Gesellschaft, die vermeintlich Schwächere zu „Opfern“ degradiert. Die Bedeutung dieses Wortes erfährt damit ihre völlige Umkehr, weg von einem Menschen, dem Mitgefühl gebührt, zur defacto-Erklärung seiner Vogelfreiheit.
Selbstbewusstsein wird über die Erniedrigung anderer Menschen definiert. Engel und Kaiser illustrieren das mit einer sehr offenen, bisweilen auch plakativen und vulgären Sprache, die dennoch ohne aufgesetzt zu wirken sehr authentischen Milieu-Slang wiedergibt (hier vor allem Milieus wie z. B. in Berlin-Neukölln).

Anja reagiert darauf mit einem kompletten seelischen Rückzug. Inneres Hilfebedürfnis wird unterdrückt, es fehlt die Kraft zur Äußerung, für Signale, die deshalb an der stumpfen Oberfläche ihres Umfeldes wirkungslos abprallen. Ein Kapitel ihres Buches listet eine ganze Reihe von Regeln auf, die sich Anja auferlegt hat, und anhand derer man in bedrückender Weise erkennen kann, welch pathologisches Ausmaß dieses Verhalten bereits angenommen hat. In jeder Situation zwingt sie sich zur totalen Anpassung, zur totalen Dissoziation. Sie sieht sich selbst nur noch als ein Roboter, eine Maschine ohne Gefühle.
Doch die Feindseligkeit ihres Umfeldes führen nicht zur Isolation, zur Einkapselung. Verzweifelt nach Anerkennung und Zuneigung ringend, wendet sie sich immer wieder ihren Peinigern zu. Das, was ihr an Liebe fehlt, sucht sie ausgerechnet dort, wo ihr das pure Gegenteil entgegenschlägt. Interessanterweise kann man auch an ihr einige Verhaltensmuster und Gedankengänge beobachten, die sich sonst gegen sie richten, aber offenbar abgefärbt haben. Pauschale und oberflächliche Verurteilungen anderer Menschen, Definition über das eigene Aussehen und Statussymbole sind auch Anja nicht fremd. So sehr sie „Opfer“ ist, beneidet sie die Täter um ihren Status, und würde als Teil einer solchen Clique vermutlich genauso rücksichtslos vorgehen.

Doch eine Chance, in dieser perversen Hackordnung aufzusteigen, hat Anja nicht. „Seelenvernichter“ gelangt zu einem traurigen Höhepunkt, den man als Leser nur deshalb nachvollziehen kann, weil er reale Vorbilder hat, von denen die Nachrichten schon zu oft berichtet haben. Im Nachwort von „Seelenvernichter“ thematisieren die beiden Autoren den „authentischen“ Bericht, der stellvertretend für viele Schicksale stehen soll. Problematisch erscheint mir hier die (vielleicht auch bewusste) Fixierung auf den Begriff „Mobbing“. In den gewalttätigen Zusammenhängen, die „Seelenvernichter“ ebenso wortgewaltig schildert, trifft man den Begriff in der Realität nicht mehr an, weshalb ich befürchte, dass man das Erzählte vorschnell in den Bereich der Fiktion schieben könnte. Zu krass, zu drastisch – weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Diese schutzreflexartigen Reaktionen konnte man damals auch bei Jochen Ziems Buch beobachten, und viele Jahre vorher auch beim bekannten „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Man wünscht sich, es wäre nur Fiktion, obwohl man dafür vor der Realität die Augen verschließen müsste. Handyvideos, Happy Slapping und erst vor ein paar Tagen wieder ein erschreckender Vorfall in Berlin, als es während einer Klassenfahrt zu sexuellem Mißbrauch unter Klassenkameraden kam.

Ein Fazit am Ende der Gewalt?

Engel und Kaiser liegen richtig mit ihrer Feststellung, dass die Gewalt im mittel- und unmittelbaren Umfeld, konsumierte wie erfahrene Gewalt, direkte Konsequenzen nach sich zieht, vor allem eben bei Kindern und Jugendlichen. Je brutaler die (geistigen) Vorbilder, so natürlicher erscheint Gewalt als Teil des erlernten Verhaltens. Schade ist jedoch, dass sich die Autoren offenbar nicht in der Lage sehen, ein Fazit zu formulieren, welches meiner Ansicht nach, gerade für den geschilderten Fall des Mädchens Anja, auf der Hand liegt: Kommunikation.
Vor allem fehlende, ausbleibende, scheiternde Kommunikation und Empathie ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch. Man möchte meinen, eine Gesellschaft, die nicht mehr miteinander redet, hat sich bald nichts mehr zu sagen und wird statt Wörtern nurmehr mit Fäusten reagieren. Doch all das, was „Seelenvernichter“ so schonungslos schildert, muss offen kommuniziert werden, um endlich ein klares Bewusstsein zu schaffen für die vielfältigen Probleme, die letztendlich diese Gewalt überhaupt erst erzeugen. Wir müssen weg von der überraschten Erkenntnis, vom Schock des Unglaublichen, weg von all den Verdrängungs- und Rechtfertigungsritualen. Nur Justitia kann sich erlauben, eine Augenbinde zu tragen, wir, die Gesellschaft, nicht. Kinder sind solange unschuldig, bis sie zu Tätern werden. Es kann nicht das Ziel dieser Gesellschaft sein, das Versagen zu akzeptieren und Folgen schönzureden.

Wenn „Seelenvernichter“ zwischen Fakt und Fiktion steht, dann befindet es sich dort genau an der richtigen Stelle, und verdient die Beachtung beider Seiten. Das schweigende Leid im Alltag ist viel lauter, als wir uns vorstellen wollen – und genau deshalb darf „Seelenvernichter“ auch so laut sein.

29.03.2012

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