Der Weg Einer Freiheit
"Die Vocals sind auf 'Innern' experimentierfreudiger denn je."
Interview
Am 12. September 2025 veröffentlichen DER WEG EINER FREIHEIT ihr sechstes Studioalbum „Innern“, auf dem die Band über Leiden, Transformation und die Zerbrechlichkeit der menschlichen Psyche reflektiert. Wir sprechen mit Nikita Kamprad ausführlich über die Hintergründe und Besonderheiten des Albums.
„Innern“ heißt euer neues Album und es ist sehr introspektiv. Inwiefern war das für dich eine persönliche Reise, vielleicht auch im Vergleich zum Vorgänger?
Unsere Musik ist stark von meinem Charakter geprägt und von diesem In-sich-Hineinschauen. Das ist so gesehen nichts Neues, das war schon immer so. Ich bin Main-Songwriter der Band und habe im Prinzip alle Texte geschrieben – bis auf die erste EP und auf „Unstille“, da gab es ein paar Texte von unserem alten Sänger.
Die Musik, die ich schreibe, war von Anfang an durch das Bedürfnis geprägt, mich selber kennenzulernen – besser kennenzulernen. Jeder von uns struggelt irgendwie mit der Welt um uns herum. Gerade heutzutage werden wir von Negativität bombardiert wohin man schaut. Die Frage ist: Wie geht man damit um? Wie nah lässt man Dinge an sich heran? Ich glaube, sich selber besser zu verstehen, hilft auch, die Welt um einen herum besser zu verstehen. Es geht viel um Selbstwertgefühl und Selbstliebe – und darum, das nach außen zu tragen und auf andere zu projizieren.
Das wurde mir mit der Zeit immer wichtiger, das durch die Musik, aber auch durch die Texte zu erforschen. Es gab kein einzelnes einschneidendes Erlebnis, das ich nennen könnte, aber auf „Innern“ war das noch extremer der Fall. Vielleicht hängt das mit dem zusammen, was gerade in der Welt passiert, was manchmal wirklich kaum zu fassen ist. Das hatte auf jeden Fall einen starken Einfluss. Für mich ist das Album eine extreme persönliche Bereicherung und ich hoffe, dass auch die Zuhörer:innen etwas daraus für sich ziehen können. Das ist meine große Hoffnung.
Was war für dich das wichtigste, das du über dich selbst gelernt hast im Aufnahme- und Schreibprozess für „Innern“?
Ich habe akzeptiert, und das ist äußerst wichtig für mich geworden, dass ich die meiste Energie und Kraft aus mir selbst schöpfe, aus der Ruhe. Es klingt vielleicht plump zu sagen: „Ich bin am glücklichsten, wenn ich alleine bin.“ Da klingt auch eine leichte Traurigkeit mit, so ist es aber nicht gemeint. Mir ist es extrem wichtig, nach aufregenden Ereignissen – einer Tour, einem Festival oder diesem ganzen Promo-Prozess, mit Menschen zu reden – Zeit für mich zu haben. Das macht mir unglaublich viel Spaß, aber ich brauche immer wieder Zeit, die ich mir reservieren muss, um wieder bei mir anzukommen.
Früher habe ich das oft abgetan mit „brauche ich nicht“, „ich muss da einfach durch“ oder „ich bin da eben ein bisschen anders“. Jetzt habe ich akzeptiert, dass das wirklich wichtig ist – wahrscheinlich nicht nur für mich, sondern für jeden Menschen, ein bisschen Zeit mit sich selber zu verbringen. Deshalb habe ich das Album vorwiegend alleine geschrieben. Das ist einfach mein Ding, weil mir das am meisten Kraft spendet. Ich wusste es irgendwie schon immer und jetzt habe ich es gewissermaßen akzeptiert und auch als okay befunden.
Obwohl du nach innen schaust, tauchen trotzdem Sterne und kosmische Thematik auf – wirkt das nicht wie das Gegenteil des Inneren, eher das extreme Äußere?
Sehr romantisch ausgedrückt, hat jeder Mensch einen inneren Kosmos, eine innere Welt, ein inneres Universum. Manchmal denke ich auch daran, dass jeder Mensch mehr oder weniger in seiner wirklich eigenen Welt, in seiner eigenen Realität lebt. Was das überhaupt bedeutet, ist schwer zu definieren. Im Prinzip sind das Universum und die Sterne immer eine Metapher für diese unendliche Weite, die in jedem von uns steckt und die so viele Möglichkeiten offenhält.
Das hat sich von vornherein schon immer durch alle Texte gezogen, vor allem auf „Stellar“, allein der Name sagt es ja schon. Es geht immer um Sterne, um diese Unerreichbarkeit. Du weißt, da ist etwas, du willst dahin, aber du weißt nicht genau, wie. Wenn man zu den Sternen guckt, die sind so weit weg, die sind unerreichbar. Aber es ist auch nicht das Ziel, irgendwas zu erreichen.
Mit dem Album habe ich gelernt – und auch in der Band mit den anderen sprechen wir viel darüber: Was ist überhaupt Erfolg oder woraus besteht ein Ziel, das man erreichen will? Oft ist es nicht wirklich ein Punkt, sondern der ganze Prozess. Der muss erfüllend sein, der muss Spaß machen. Es geht jetzt auf die Band bezogen nicht um gute Reviews, Chart-Einstiege oder besonders gute Zahlen, es geht uns vor allem immer darum: Macht uns der Prozess Spaß? Erfüllt er uns oder nicht? Irgendwie steckt darin immer diese Metapher mit den Sternen, mit dem All. Das ist einfach was Schönes, finde ich.
Das zieht sich auch durch die Visuals, die ihr habt, das Album-Cover oder das Video zu „Marter“. Wie wichtig sind visuelle Elemente für dich?
Da bin ich ehrlich gesagt sehr zwiegespalten. Wenn ich ein Album geschrieben habe, fühlt es sich immer so an, als wäre das jetzt fertig. Aber dann hängt noch das Visuelle dran. Das kann auch ein schöner Prozess sein, aber ich muss mir dafür ein Konzept überlegen, die Texte noch einmal durchgehen, sie verständlich machen für jemanden, der sie nicht selbst geschrieben hat – und das ist immer extrem schwierig.
In unserem Fall sagen wir dann unserem Designer, Max Löffler: „So stellen wir uns das vor.“ Wir wollen aber nicht zu viel kontrollieren, er soll ja auch seine eigenen Ideen einbringen. Das ist immer ein Prozess, für den habe ich ehrlich gesagt noch keine richtige Linie gefunden. Musik schreiben und produzieren, das ist mein Ding. Aber sobald es ins Visuelle geht, tue ich mich nach wie vor ein bisschen schwer.
Mit dem Video zu „Marter“ hat es aber super funktioniert, wir sind extrem happy. Da haben wir jemanden gefunden, der nicht einfach unsere Vision umgesetzt hat, sondern gleich mit einer eigenen kam. Das war überraschend und cool. Manchmal muss man Glück haben, die richtigen Personen zu finden. Das haben wir diesmal gehabt, aber auch im Falle von Max Löffler, der unsere Artworks macht. Wir arbeiten schon seit vier Jahren mit ihm zusammen und er weiß mittlerweile, womit wir glücklich sind, was wir wollen. Da muss man gar nicht mehr so viel drüber reden. Ich hoffe, dass er uns noch lange erhalten bleibt.
Visuelle Ästhetik ist extrem wichtig – für die Fans, für das Label und im Musikbusiness allgemein. Das Cover ist oftmals das wichtigste, es steht sogar über der Musik. Mit diesem Gedanken kann ich mich wahrscheinlich nie anfreunden, aber das ist meistens das Erste, worauf die Leute achten. Viele urteilen dann oder schließen vom Cover auf die Musik. Eigentlich unmöglich, weil bei uns immer die Musik zuerst da ist und dann erst das Visuelle. Insofern ist es ein Trugschluss, aber daran kann man auch nicht so viel ändern.
Erst gestern habe ich ein Interview mit BLOOD INCANTATION gesehen. Sie haben noch während des Entstehungsprozesses des Albums am Artwork gearbeitet. Sie hatten sogar einen Dummy vom Cover, den sie ins Studio mitgebracht und präsent hingestellt haben. Während des Schreibens und Produzierens konnten sie das immer sehen und es hat tatsächlich Einfluss auf die Musik genommen. Das fand ich einen coolen Ansatz. Vielleicht motiviert das, auch mal anders herum zu denken: erst mal was Visuelles zu starten und dann die Musik. Aber meistens denke ich da nicht dran.
Kommen wir noch mal zurück zum Klang von „Innern“. Der Sound ist sehr direkt, aber auch vielschichtig. Gab es Entscheidungen, die dir beim Aufnehmen besonders wichtig waren?
Ja, bei der Produktion von „Noctvrn“ haben wir das erste Mal mit der Band zusammen live in einem Raum aufgenommen. Die ganzen Instrumente in vollen Takes pro Song, um den Fokus auf den Song selbst zu legen, nicht auf einzelne Parts. Uns war wichtig, dass der ganze Song funktionieren muss. Auf „Innern“ haben wir diese positive Erfahrung mitgenommen und weitergeführt.
Das kam nicht nur bei uns gut an, sondern auch bei den Fans. Die haben ab „Noctvrn“ gemeint: „Das klingt viel organischer, natürlicher und menschlicher.“ Genau das ist uns bei unserer Musik wichtig: dieses Menschliche. Gerade in der heutigen Zeit ist viel AI im Spiel – und ich gestehe, auch ich nutze das. Ich sehe es aber nicht negativ, ich habe in der Promo-Phase mehrere Textinterviews eingesprochen, transkribieren und verbessern lassen, ohne natürlich die persönliche Note zu verlieren. Das ist wichtig in diesem ganzen Prozess.
Bei „Innern“ war uns das sehr, sehr wichtig, dass die Musik uns als Menschen und unser Können widerspiegelt. Das hat beinhaltet, dass wir uns extrem gut auf die Aufnahmen vorbereiten mussten oder wollten. Jeder von uns hat das sehr ernst genommen. Teilweise hat das bis zu eineinhalb Jahre gedauert, bei unserem Drummer zum Beispiel, damit wir wirklich alle Songs in einem durchgehenden Take einspielen konnten.
Wir wollten wieder alles live aufnehmen, aber diesmal war das rein logistisch nicht möglich. Wir haben kein Studio gefunden, das groß genug war. Deshalb haben wir die Drums zuerst aufgenommen, dann habe ich die Vocals diesmal sogar vor den Saiteninstrumenten aufgenommen, das war auch etwas Neues. Dann haben wir uns in der abschließenden Session mit der gesamten Band bei mir im Studio getroffen, wo wir die beiden Gitarren und den Bass aufgenommen haben.
Wir haben uns alle angeschaut, selbst unser Schlagzeuger Tobi saß auf der Couch, hat mit Kopfhörer mitgehört und es war ein sehr, sehr gemeinschaftliches Erlebnis. Das hat uns extrem viel Spaß gemacht. Der Prozess war wirklich schön und hat uns als Band noch enger zusammengeschweißt.
Ihr seid schon lange ein eingespieltes Team, wie hat sich Alan Noruspur in die Band integriert und wie seid ihr zusammengewachsen?
Unser Kern besteht seit 2017 aus den beiden Nicos – Gitarre und Bass – plus Tobi und mir. Nach „Noctvrn“ fühlten wir uns so zusammengeschweißt wie nie zuvor. Wir wollten das natürlich auch so weiterführen, aber dann kam der Punkt, an dem unser Bassist Nico uns berichtet hat, dass er Vater wird. Wir haben uns natürlich extrem darüber gefreut, aber er hat schnell gemerkt, dass es jetzt andere Prioritäten in seinem Leben gibt.
Alan kennen wir seit 2019 und seitdem ist er wirklich ein sehr, sehr enger Freund von uns. 2023 hat er die Hälfte einer Tour für uns an der Gitarre ausgeholfen, da wussten wir schon, ihm kann man so etwas anvertrauen. Dass wir ihm auch noch den Bass anvertrauen konnten, war neu, aber er liebt das Abenteuer, er liebt die Herausforderung. Wir wussten, wir können uns auf ihn verlassen und dann hat er einfach mal schnell in einem halben Jahr das komplette Album am Bass gelernt und geübt.
Wir waren ständig im Austausch: Alan hat mir Full-Playthrough-Videos geschickt, die man theoretisch direkt auf YouTube stellen könnte. Da war mir klar: Er schafft das. Mit ihm haben wir dann die Aufnahmen am Bass durchgeführt. Nicht nur musikalisch, sondern auch rein menschlich hat er die Band extrem bereichert. Er hat Nico nicht ersetzt, das wollte ich auch klar machen, dass das kein permanenter Ersatz ist.
Wir haben sehr offen in der Band besprochen, dass wir nicht wissen, wohin die Zukunft uns führt und wie sehr Nico familiär eingespannt bleibt. Auch privat hat er einige andere Sachen und dadurch ist momentan Alan unser Bassist. Wie es in Zukunft weitergeht oder ob wir vielleicht sogar mal zu fünft auf der Bühne stehen, wer weiß. Alan kann beides, Gitarre und Bass spielen, mal sehen. Das ist noch relativ offen.
Gibt es darüber hinaus etwas, das ihr dieses Mal zum ersten Mal ausprobiert habt?
Ganz neu sind neue Gesangsstile, die ich über die letzten Jahre entwickelt habe. Zum Beispiel den Kehlkopfgesang in „Eos“. Der Song ist generell sehr technisch und sehr, sehr anspruchsvoll, auch live braucht es dann viel Konzentration.
Im letzten Teil von „Eos“ gibt es diese Mischung aus Scream und Cleangesang. Das war auch etwas Neues, was sich auf natürliche Art und Weise entwickelt hat, weil ich einen bestimmten Vocal-Part im Song „Morgen“ von „Noctvrn“ so zu singen angefangen habe. Ich dachte, das wäre mal cool und habe mich wohlgefühlt und dann haben wir das auf dem neuen Album auch so gemacht.
Vocals sind auf „Innern“ präsenter und experimentierfreudiger denn je. Das bedeutet, aus meiner Komfortzone herauszutreten – ein Risiko, aber es hat sich gelohnt. Ich bin froh, dass wir neue Richtungen ausprobiert haben.
Das Album ist wahnsinnig präzise und auf den Punkt. Auch im Arrangement wirkt es so, als würde man immer tiefer ins Innere vordringen, je weiter man hört. Um diese Präzision zu erreichen: Wie viel Material musstest du wegwerfen oder parken?
Auf musikalischer Ebene ehrlich gesagt kaum etwas. Der Anspruch war, jeden Song möglichst in einem kleinen zeitlichen Rahmen fertigzuschreiben. Meistens hatte ich die grundlegende Struktur eines Songs innerhalb eines, maximal zweier Tage fertig und konnte sie direkt den anderen schicken.
Das darf man sich nicht sonderlich ausgefeilt vorstellen. Oft waren es Copy-Paste-Riffs oder Platzhalter, die teilweise auch einfach im Song geblieben sind, weil sie dann Sinn gemacht haben. Das war eine verblüffende Erkenntnis. Der Teufel liegt dann im Detail. Fills, Melodien, Sounds, Effekte – das hat dagegen extrem viel Zeit gebraucht, weil es oft den Charakter eines Songs ausmacht.
Aber diesmal gab es kein Patchwork aus angesammelten Riffs oder verworfenen Teilen. Ich glaube, das trägt stark zur Kontinuität des Albums bei. Wie du sagst: Es wirkt wie eine Reise, dass sich das Album in seiner Gänze erst dann erschließt, wenn man es sich am Stück anhört. Das war uns auch wichtig und ich hoffe, dass die Leute das so tun und dass man dann das große Ganze auch erkennt.
Lyrisch war es etwas anders. Da schreibe ich oft einfach drauflos – manchmal füllt sich eine ganze Seite mit Wörtern, was für einen Songtext natürlich viel zu viel ist. Dann versuche ich, Struktur reinzubringen. Da fliegen natürlich einige Wörter wieder raus, bis ich in dem Fluss des Textes einen Sinn erkenne. Aber auch das war ein Prozess, den ich diesmal, wenn möglich, auf einen Tag beschränkt habe.
Ich kann nicht zwischen Tür und Angel schreiben, das konnte ich noch nie. Ich setze mich fokussiert hin und versuche, mich in einen Flow zu bringen. Dieser Flow-Gedanke ist ganz, ganz wichtig geworden, auch auf dem Album. Ich bin der Überzeugung, dass man das auch hört.
Ich hatte früher immer total Schiss, meine Texte zu veröffentlichen und habe mich damit nie wohlgefühlt. Vielleicht aus der Sorge heraus, dass Leute zu sehr interpretieren, das hinterfragen oder zu sehr in mich hineinsehen. Das hat sich mit dem neuen Album geändert. Wir haben bei den zwei Singles, die wir veröffentlicht haben, sehr viel Wert auf die Texte gelegt.
Die haben wir direkt in die Videobeschreibung mit reingenommen oder als Untertitel zum Ein- und Ausschalten. Wir haben sie sogar auf Englisch übersetzt, bevor Leute, die kein Deutsch können, ihre eigenen Übersetzungen anfertigen. Das finden wir immer cool, das haben die auch oft gemacht, aber damit man sicherstellen kann, dass der Sinn nicht verloren geht, haben wir englische Übersetzungen direkt mitgeliefert.
Ihr habt auch einen englischen Song auf dem Album, „Forlorn“. Auf „Noctvrn“ hattet ihr damit schon angefangen. Gibt es Stimmungen oder Emotionen, bei denen Englisch besser passt, oder entscheidest du das spontan?
Ich glaube nicht, dass ich auf Deutsch emotionaler singen kann als auf Englisch. „Noctvrn“ war da ein Experiment, aber ich habe herausgefunden, dass es wunderbar funktioniert. Auch die Fans sind da nicht unbedingt abgeneigt. Man hätte vielleicht meinen können, dass es hartgesottene Fans gibt, die uns vorwerfen: „Jetzt singt ihr auf Englisch, Kommerz!“ So etwas ist nicht passiert. Das hat uns gezeigt: Wenn es sich richtig anfühlt, kann man das einfach machen.
Mir war es auf dem Album eigentlich gar nicht danach, aber „Forlorn“ wurde nicht von mir geschrieben, sondern von unserem Gitarristen Nicolas. Der Song ist eine Kollaboration zwischen uns beiden. Nach den ersten vier, fünf Songs – wenn man das Interlude „Finisterre III“ mit dazunimmt – hatte ich das Gefühl, ich habe alles gesagt, was ich zu sagen habe. Nach „Fragment“ bin ich zugegebenermaßen in ein kleines Loch gefallen.
Wir waren bei ca. 35 Minuten Spielzeit. Das wäre ausreichend gewesen, aber das Label hat natürlich lieber ein bisschen mehr und dann hat Nicolas gesagt: „Ich hatte schon lange die Idee, auch mal was beizusteuern.“ Er hat nach einer Idee oder einem Starting Point gefragt und dann hab ich ihm ein Vier-Noten-Pattern auf der Gitarre geschickt. Das hat er mehr oder weniger in den Song verwurstet und auch den Text geschrieben. Nicolas fühlt sich mit Englisch wohler, und durch unsere Erfahrungen mit „Noctvrn“ war es für mich kein Problem, „Forlorn“ auch auf Englisch zu singen.
Ich musste lachen über die Platzierung des Songs: 35 Minuten lang reißt mir das Album den Boden unter den Füßen weg – und am Ende klingt es wie: „Wenn jetzt jemand verletzt ist, will ich es eigentlich gar nicht wissen.“
Darum geht der Song. Ich kann es nur aus Nicolas‘ Sicht beschreiben, aber er hat eine extrem harte Phase durchgemacht, kurz bevor er den Song geschrieben hat. Auf der einen Seite habe ich mir nach den fünf Songs, die ich geschrieben habe, erst mal ein bisschen Hoffnung gewünscht und dann kam „Forlorn“. Aber auch wenn der Song düster wirkt, steckt in ihm, wie im ganzen Album, ein großes Maß an Hoffnung und Erkenntnis: dass es Wege gibt, aus dieser Negativität herauszufinden.
Gibt es einen Song, der für dich die bedeutendste Hintergrund- oder Entstehungsgeschichte hat?
Ja, „Fragment“. Ich habe anfangs gesagt, dass ich ein Stück weit akzeptiert habe, eher der introspektive und introvertierte Typ zu sein. Das ist nichts Schlimmes, aber das zu akzeptieren hat mir viel Kraft gegeben. Vielleicht habe ich mich auch deshalb nach dem Schreiben von „Fragment“ so leer gefühlt – der Song ist my life in a nutshell. Lies dir den Text durch, dann weißt du, was ich meine.
Für mich ist es der emotionalste und persönlichste Song auf dem Album. Der macht mich nicht traurig oder emotional. Es war heftig als ich ihn geschrieben habe, aber es war auch extrem wichtig, dass er jetzt veröffentlicht wird. Deshalb würde ich sagen: „Fragment“ ist der Song für mich.
Ihr geht bald auf Tour. Was erhoffst du dir von der Live-Umsetzung der Songs? Gibt’s einen, auf den du dich besonders freust – oder einen, vor dem du ein bisschen Schiss hast?
Am meisten Schiss habe ich tatsächlich vor einem Song, den es schon länger gibt, es ist immer noch der Song „Aufbruch“. Die Clean-Passage habe ich damals geschrieben, ohne zu wissen, was ich kann, was mir gut tut und was meine Anatomie hergibt. Es erfordert extrem viel Konzetration für mich, diesen Part richtig zu singen. Es gibt Songs, die sind höher oder technisch komplizierter, aber vor denen habe ich nicht so viel Respekt – das ist irgendwie lustig.
Vor den neuen Songs, selbst den technischen wie „Eos“ zum Beispiel, habe ich nicht so viel Respekt, da freue ich mich extrem drauf. Allgemein freue ich mich sehr auf alle neuen Songs. Wir haben sie schon geprobt und sie funktionieren sehr gut. Ich glaube, weil sie so homogen geschrieben sind, werden sie auch live gut klingen.
Dazu gibt’s ein, zwei Oldies. Einen Song, den wir ganz, ganz lange nicht mehr gespielt haben und der oft gewünscht wird – ich kanns eigentlich verraten: „Vergängnis“. Wir haben ihn mit neuen Gitarrensounds angereichert und etwas neu arrangiert. Der Text stammt noch von unserem alten Sänger, es ist also weder mein Text noch mein Gesang gewesen. Das jetzt neu zu interpretieren, hat mir bei der Vorbereitung extrem viel Spaß gemacht, und ich hoffe, es kommt gut an.
Wir spielen ein 90-Minuten-Set. Das ist extrem viel, aber wir haben bei den finalen „Noctvrn“-Shows gemerkt, dass uns das sehr viel Spaß macht. Einfach 90 Minuten lang nur fallen lassen. Eine Dreiviertelstunde oder Stunde ist einfach zu kurz für unsere Songs – 90 Minuten lassen wirklich Zeit, in die Reise einzutauchen. Klar, es ist sau anstrengend, aber es macht echt Bock.
Glaubst du, ihr habt ein gutes Gespür dafür, welche Songs live am besten ankommen oder werdet ihr auch mal überrascht?
Da werden wir definitiv überrascht. Jeder nimmt Musik komplett anders auf. Ich wundere mich immer noch aus meiner persönlichen, songwritingtechnischen Sicht, wie Leute das erste Album so extrem abfeiern können. Das ist eben meine Sicht, klar, aber ja, teilweise werden wir überrascht.
Wir spielen auf der Tour auch „Ruhe“ von unserem ersten Album. Ein Song, der immer noch oft gewünscht wird. Selbst als wir ihn vor drei Jahren mal ausgepackt haben, kam er sehr gut an, deshalb spielen wir den auch wieder. Auch der Song wurde ein bisschen neu arrangiert und aufepeppt, das macht auch einfach Spaß für uns zu spielen. Es ist spannend zu sehen, was die Leute feiern – und was nicht.
Ihr seid zum Abschluss der Tour in der Christuskirche in Bochum. Wie ist es, in so einer besonderen Location aufzutreten?
Darauf bin ich extrem gespannt. Wir haben noch nicht so viele Erfahrungen in wirklich speziellen Venues. Die wirklich besonderen Venues waren zum Beispiel auf der Tour mit IGORRR und AMENRA, aber das waren große 2000er Venues – noch viel, viel größer als das, was wir jetzt spielen. Auf einer eigenen Headliner-Tour ist es jetzt wirklich das erste Mal, wo wir diese spezielleren Venues spielen, aber man sieht es an allein den Vorverkaufszahlen.
Speziell in Bochum, aber Berlin ist auch im Heimathafen etwas Besonderes und auch die Scala in Ludwigsburg. Das war ein Risiko, auch finanziell, weil die Deals da schlechter sind. Wir wollten es aber ausprobieren – und siehe da: Die Leute kaufen die Tickets. In Bochum ist schon über die Hälfte weg. Für 850 Leute, die da reinpassen, ist das unglaublich gut für unsere Verhältnisse, um es wirklich ehrlich zu sagen.
Darüber sind wir extrem froh und hoffen natürlich, dass unsere Musik durch diese Atmosphäre profitiert, aber davon sind wir eigentlich überzeugt. Wenn man sich Bilder oder Videos anschaut, wirkt es schon großartig. Ich würde meine Lieblingsband da jedenfalls sehr gerne sehen.
Hast du noch etwas, das du loswerden möchtest?
Ja, ich möchte den Ball mal zurückspielen: Ich finde es extrem wichtig, die Arbeit zu würdigen, die ihr – du und deine Kolleg:innen – für die Szene macht. Meistens unentgeltlich, das wissen wir. Das entspringt alles aus der Leidenschaft für die Musik. Das verdient Anerkennung, und deshalb vielen, vielen Dank – an dich persönlich, aber auch an alle anderen im Boot und vor allem metal.de selbst.