Estrangement - Disfigurementality

Review

Viel Zeit ist nach der Veröffentlichung des Demos und der Split mit BEGRÄBNIS vergangen – Zeit die ESTRANGEMENT-Kopf JS wohl gebraucht hat um das Debüt in die Form zu bringen, die jetzt final zu hören ist. Um es gleich vorneweg zu nehmen: „Disfigurementality“ ist schwerer Tobak, der sich stilistisch, trotz starker Affinität zum Funeral Doom, niemals ausschließlich darauf beschränkt und ganz bewusst Grenzen überschreitet.

ESTRANGEMENT – Funeral Doom Klassick Wahn

Das einstündige Werk ist in seiner überschwänglichen Vielfalt in den ersten Durchläufen verstörend und schwer greifbar. Das Aufeinandertreffen von Metal und klassischen Instrumenten ist zwar nicht unbedingt neu, wird aber hier in seiner Komplexität und Mannigfaltigkeit extrem ausgereizt. Entsprechend schwierig und undurchdringbar gestalten sich die ersten Hördurchläufe, in welchen man Ohren und Geist an vermeintlich schräge Flöten- und Violinenklänge gewöhnen muss.

Das Album besteht im Grunde aus vier richtigen Songs – für Doom Metal in Durchschlagslänge – die von Interludes und kleinen Zwischensequenzen zusammengehalten werden und wie ein Puzzle in Gänze gebracht werden. Gerade diese Einschübe übertreffen die Experimentierfreude der langen Tracks noch um ein Vielfaches. Als Einleitung und Übergang funktionieren diese hervorragend, auch wenn hier viele Extreme aufeinandertreffen funktioniert das Konzept ausgezeichnet. So werden zum Beispiel auf „Fire Voices“ mantraartige Gesänge mit fast choralen Vocals kombiniert oder auf „Clusters“ gibt es Experimente aus dem Drone samt Flöten zu vernehmen.

Aber auch die metallischeren Kompositionen sind in sich vielseitig und komplex, überzeugen durch packendes Songwriting, so dass man nur erahnen kann wie viel Zeit und Energie darin steckt um ein derartiges Gesamtwerk abzuliefern. ESTRANGEMENT warten in jedem Song mit Überraschungsmomenten auf und so geht es zum Beispiel auf „Detritivore“ nach einem „The Red In The Sky Is Ours“-artigen Riff mit Violine in ein abgrundtiefes Funeral-Doom-Ende, das kein Stück aufgesetzt oder überpathetisch wirkt. Kein Album für jede Gemütslage, aber durch seine Imponderabilität nachhaltig spannend.

Das Rote Im Himmel war niemals unser – „Disfigurementality“

Im Gegensatz zu vielen Veröffentlichungen in Funeral-Doom-Nähe versinkt „Disfigurementality“ weder in Monotonie noch in absoluter Negativität. Seine erdrückende Tiefe manifestiert sich trotz Bedrohlichkeit und Düsternis vielmehr in seiner Vielfalt, ohne dabei konstruiert und gekünstelt zu wirken. Hörerinnen und Hörer sollten bereit sein, sich auf Überraschungen und Unerwartetes einzulassen. Wenn die ersten Berührungsängste abgeklungen sind, gewinnt dieses Album fortlaufend an Überzeugungskraft.

19.11.2022

- perfection is the end of everything -

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