Igorrr - Spirituality and Distortion

Review

Experimentelle Musik ist manchmal ein bisschen so, als würde man um jeden Preis ein schrottreifes Fahrzeug mit möglichst extravaganten Ersatzteilen aufmotzen wollen. In der Theorie wird dann mit einigen gekonnten Handgriffen aus einer klapprigen Kiste ohne Straßenzulassung schnell ein flotter Flitzer, der allerorts für neidvolle Blicke sorgt. In der Praxis bleibt ein verrosteter Opel Astra jedoch auch mit auffälligem Heckspoiler und glänzenden Felgen letztendlich einfach nur ein Opel Astra. Soll heißen: Ganz egal, wie aufwendig das Drumherum auch sein mag, letztendlich kommt es immer auf den Kern an – auch in der Musik!

Wie gut, dass IGORRR mit „Spirituality and Distortion“ mal eben einen feuerspuckenden Monstertruck mit 2000 PS unter der Haube, Kühlergrill aus Massivgold und Carbon-Flügeltüren zusammengebastelt haben. Klingt nach einem ganz schön wilden Gefährt? Nun, wer Klassik, Electronic, Barock, Balkan, Death und Black Metal so souverän vereint, gehört fraglos auf die Überholspur. Schnallt euch lieber an, denn das französische Mastermind Gautier Serre lädt erneut zum unvergesslichen Höllentrip!

IGORRR – Zwischen Genie und Wahnsinn

Schubladendenken und IGORRR – das passt einfach nicht zusammen. Bereits der unfassbar vielschichtige Opener „Downgrade Desert“ trumpft mit orientalischen Klängen, atmosphärischer Schwermütigkeit und zahlreichen Spannungsmomenten auf. Spätestens nach dem atemberaubend abwechslungsreichen Geniestreich „Nevous Waltz“ und dem bizarr-kakophonischen, dennoch fesselnden „Hollow Tree“ wird klar: „Spirituality and Distortion“ ist ein mustergültiges Beispiel dafür, wie vertonter Irrsinn zu klingen hat. Kleinere Lückenfüller wie das vorab veröffentlichte „Very Noise“ oder „Musette Maximum“ sind zwar durchaus ideenreich, können mit der Genialität von tanzbaren Ausnahmenummer wie „Camel Dancefloor“ oder dem abgedrehten „Barocco Satani“ jedoch nicht annähernd mithalten.

IGORRR schütteln sich nicht nur Song um Song eine weitere Überraschung aus dem Ärmel, die das ohnehin schon durch und durch facettenreiche Album mit weiteren, oftmals unerwarteten Details ausschmückt, sondern haben sich mit CANNIBAL CORPSE-Urgestein George ‚Corpsegrinder‘ Fisher für das gleichermaßen lärmende wie technisch versierte „Parpaing“ todesmetallische Unterstützung am Mikrophon besorgt. „Spirituality and Distortion“ ist vor allem dank des gelungenen Wechsels aus chaotischen, unerbittlichen Lärmlawinen und den perfekt durchkomponierten Klassik- bzw. Barock-Parts nicht nur unglaublich stimmig, sondern von Anfang bis Ende ein Hochgenuss – zumindest für diejenigen, denen diese Kontrastierung nicht zu verkopft erscheint.

Tatsächlich muss man sich auf IGORRR einlassen können, denn vieles wird gerade neuen Hörern anfangs doch recht willkürlich und befremdlich erscheinen. So entfalten das detailverliebte „Himalaya Massive Ritual“ oder das vor Kreativität nur so strotzende „Polyphonic Rust“ erst nach mehrmaligem Hören ihre ganze Energie, dürften aufgrund des nicht immer hörbaren roten Fadens manch einen womöglich jedoch zuvor bereits abgeschreckt haben.

„Spirituality and Distortion“ – Das Chaos regiert

Zunächst einmal muss man festhalten, dass IGORRR mit „Spirituality and Distortion“ ordentlich abgeliefert haben. Kaum jemandem gelingt es so gut wie Gautier Serre, derart viele, scheinbar unkombinierbare Stile miteinander zu einem derart fantastischen Album zu vermengen. Das bedeutet jedoch auch, dass die Platte gerade denjenigen, die sich nach musikalischer Konvention und stilistischer Ordnung sehnen, tendenziell unzugänglich bleibt. Nichtsdestotrotz können all jene, die gerne einmal einen Blick über den Tellerrand werfen, unbesorgt zu IGORRR in eingangs erwähnten Monstertruck steigen, es sich in der Fahrerkabine neben Gautier Serre bequem machen und die knapp einstündige Fahrt zwischen Chaos und perfekter Inszenierung genießen.

23.03.2020
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