Impure Wilhelmina - Antidote

Review

Metal und Melancholie scheinen wie füreinander geschaffen, zumindest wenn man Bands wie INSOMNIUM und KATATONIA als Maßstab nimmt, die einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf zeitgenössischen Metal ausüben. Da erscheint es seltsam, dass IMPURE WILHELMINA nicht im gleichen Atemzug genannt werden. Die Genfer um Michael Schindl haben sich, einst in deutlich ruppigerem Gewand gestartet, von dort in etwas ziemlich Einzigartiges gewandelt. Es hat längst ein gewichtiger Fokus auf Klargesang und damit ein Hymnencharakter Einzug gehalten, um den herum kreativ gerifft wird. Die Gitarren brechen zwar nie aus ihrem rhythmischen Korsett aus, sorgen dank weitläufiger, mal über dem Song hinweg segelnder, mal drunter durchtauchender Licks, Arpeggios und dergleichen dennoch durchgehend für Bewegung im Sound.

Eigentlich müssten IMPURE WILHELMINA längst hoch oben im Melancholie-Olymp mitmixen

Und mit „Antidote“, ihrem neuen Album, setzen die Schweizer diesen Pfad unbeirrt fort, verfolgen die Doom-Ausläufer des Vorgängers „Radiation“ aber teilweise etwas konsequenter als zuvor. Wer besagten Vorgänger noch im Hinterkopf hat, kann sich „Antidote“ entsprechend als dessen noch weiter ausgefeilte Fortsetzung vorstellen. Die Genfer bewegen sich wieder punktgenau auf dem Grat zwischen Rock und Metal mit allerhand transzendentaler Gitarrenarbeit, wobei Moll-Harmonien das Klangbild bestimmen und die Schwermut ein stetiger Begleiter ist. Songtitel wie der des Openers „Solitude“ oder des Rausschmeißers „Everything Is Vain“ sowie fast schon programmatische Zeilen der Marke „And we mourn and sing this song“ („Gravel“) bekräftigen diesen Eindruck.

Die große, pathetische Geste ist dabei selbstredend nie wirklich weit entfernt und erneut bemühen IMPURE WILHELMINA eine Reihe von düsteren Gleichnissen, die ihre Songtexte bevölkern. Bittere Pillen wie „Midlife Hollow“ bekommt der Hörer zuhauf zu schlucken, Pillen die schon nicht mehr nach Midlife Crisis, schon gar nicht nach ästhetischem Sadboy-Trübsal, sondern nach der Herbeisehnung des Todes klingen, während man in einem Dead-End-Job gefangen ist. Der Trick ist der, dass statt klischeebehaftetem Genöle vom Reißbrett der fast irgendwie an Indie oder Post-Punk gemahnende Gesang Schindls ertönt, der aufgrund seiner nicht immer ganz perfekten Darbietung eine ästhetische Fragilität ausstrahlt.

Medizin muss bitter schmecken? „Antidote“ schmeckt schlicht und ergreifend!

Das fordert einige Gewöhnung, wenn man mit der stimmlichen Präzision eines – sagen wir mal: Kjetil Nordhus verwöhnt ist, funktioniert nach einiger Einarbeitung jedoch großartig – vor allem in den mehrstimmigen Passagen! Was Schindl dagegen deutlich zugänglicher von der Zunge geht, sind die vereinzelten Schreie, die hier und da eingestreut werden. „Unpredicted Sky“ enthält ebensolche und fühlt sich in Kombination mit der schweren Rhythmik fast wie ein monumentaler Post-Metal-Monolith an. „Dismantling“ zieht zum Ende hin sogar richtig an und endet in etwas, das die Hook des Songs wieder aufgreift, dabei aber ziemlich nah an gängigem Post-Black Metal vorbeizieht, inklusive Blastbeats, melancholisch eingefärbter, mehrstimmiger Gitarrenleads zum Dahinschmelzen und – erneut – heiserem Gekeife.

Ein schönes Detail innerhalb der Lyrics ist deren oftmals parallel aufgezogene Struktur, in der über das Vers-Refrain-Schemata hinaus gewisse „Vokabeln“ innerhalb eines Songs wiederholt werden. Das ist effizient und effektiv zugleich und lässt Songs wie „Midlife Hollow“ oder „Vicous“ fast wie musikalisch umgesetzte Mantras erscheinen. Dadurch wirken die zum Ausdruck gebrachten Emotionen umso unausweichlicher und erdrückender. Zwar machen IMPURE WILHELMINA das nicht ausnahmslos auf allen Songs, Ausnahmen sind „Torrent“ sowie der instrumentale Titeltrack, aber der Trick kommt oft genug zum Einsatz und funktioniert immer wieder. Besonders effektiv ist diese Herangehensweise im Rausschmeißer „Everything Is Vain“, der seinem Titel getreu der wohl traditionellste Doom-Stampfer der Trackliste ist.

IMPURE WILHELMINA liefern einen hervorragenden Partykiller

Wie all die Schwermut, Hoffnungslosigkeit und Frustration mit der Gesellschaft mit dem übergeordneten Begriff „Antidote“ zusammenpassen? Vielleicht passt dieser Deutungsansatz: Statt ein Gegenmittel zu finden, ist die Therapie jene, dass alles an Negativem gebündelt und von der Seele gesungen wird. Sozusagen die Konfrontation [oder besser: der Aderlass, Nachtr. d. Red.] als dauerhafte Therapie statt die Vermeidung als vorübergehendes Schmerzmittel. Ob das im Sinn der Schöpfer ist, wird wohl nur intensive, längerfristige Beschäftigung mit dem Material bestätigen können. In jedem Falle ist „Antidote“ ein hervorragendes Album, mit dem IMPURE WILHELMINA erneut großes, stimmungsvolles Gefühlskino abliefern.

Der einzige Moment, in dem der nicht fertig ausgebildete Klargesang tatsächlich auch nach mehrmaligem Hören noch ein bisschen irritiert, ist die Hook von „Unpredicted Sky“, speziell wenn Schindl mit der Zeile „I need cold days and warm nights / Beauty uninjured by time“ in höhere Stimmlagen vordringt, die er noch nicht ganz im Griff hat. Doch das Gesamtpaket drum herum ist einfach so stimmig, so souverän umgesetzt und dank einer erdigen Produktion wunderbar authentisch in Szene gesetzt, dass man da gerne ein Auge zudrückt. „Antidote“ ist eines der Alben, die schon ein ziemlicher Party Pooper sind. Aber selten war es so schön, sich die „Gude Laune“ verderben zu lassen.

17.05.2021

Redakteur für Prog, Death, Grind, Industrial, Rock und albernen Blödsinn.

Exit mobile version