The Gentle Storm - The Diary

Review

Es ist natürlich kein Zufall, dass THE GENTLE STORM genau diesen Namen tragen – schließlich bietet ein solches Oxymoron sehr viel Gelegenheit, mögliche (vielleicht nur scheinbare) musikalische und inhaltliche Widersprüche auszuloten (dass es sich bei „The Diary“ um eine Doppel-CD handelt, ist kein Zufall… aber psssst!). Dass THE GENTLE STORM speziell für mich als Rezensent zwei weitere gegensätzliche Eigenschaften mitbringen, hätten die beiden Künstler jedoch wahrscheinlich nicht geahnt: So ist mir Sängerin Anneke van Giersbergen durch ihre Zeit bei THE GATHERING, ihre Solo-Alben und ihre Gesangsbeiträge für das THE DEVIN TOWNSEND PROJECT alles andere als unbekannt – während mir Arjen Anthony Lucassen bisher nur namentlich ein Begriff ist; ich habe weder von AYREON noch von einem anderen seiner Projekte jemals auch nur einen Ton gehört. Entsprechend gespannt war ich natürlich auf das Aufeinandertreffen dieser beiden Musiker…

„The Diary“ ist ein Konzept-Album, das im siebzehnten Jahrhundert in… *trommelwirbel*… den Niederlanden spielt und von zwei Eheleuten handelt, die – aufgrund einer zwei Jahre andauernden Seereise des Ehemannes – nur über Briefe kommunizieren können. Ganz dem inhärenten Widerspruch des Projektnamens gerecht werdend, gibt es „The Diary“ (mindestens) als Doppel-CD: CD 1 liefert die „gentle version“, CD 2 dann die „storm version“ – beide CDs enthalten dabei dieselben elf Songs in jeweils unterschiedlichen Fassungen.

Lange halte ich es auf CD 1 – der sanften Album-Version – jedoch nicht aus: Bereits während des Openers „Endless Sea“, der auch als nicht besonders gelungener „Fluch der Karibik“-Soundtrack mit Annekes Gesang durchgehen könnte, beschleicht mich ein ungutes Gefühl, das Langeweile nicht unähnlich ist. Da greife ich lieber direkt zu CD 2, um mir die stürmische Version zu geben… Das ungute Gefühl von Langeweile weicht einem anderen unguten Gefühl: Enttäuschung. Das soll eine stürmische Version von „Endless Sea“ sein? Das klingt nach ziemlich lauem Lüftchen. Meine Hoffnung, dass „The Diary“ sich vielleicht im Verlauf der nachfolgenden zehn Songs zu stürmischen Höhen aufschwingt, wird jedoch bitter zerschlagen: Hier ist nichts, aber auch wirklich gar nichts, stürmisch – das ist öder sinfonischer Heavy bis Power Metal, der höchstens für einige Gitarrensoli das Attribut „progressiv“ verdient. Kurz gefasst würde ich Teil 2 von „The Diary“ als eine Mischung aus erschreckend durchschnittlichen NIGHTWISH, dem bereits erwähnten erschreckend durchschnittlichen „Fluch der Karibik“-Soundtrack und einer Prise „Disneys Pocahontas“ („Shores Of India“) bezeichnen.

Es steht dabei vollkommen außer Frage, dass Lucassen weiß, wie man Musik schreibt und arrangiert, und technisch über jeden Zweifel erhaben ist. Ebenso wenig kann es Zweifel daran geben, dass van Giersbergen singen kann. Technische Finesse und handwerkliches(!) Können allein haben mir persönlich jedoch noch nie gereicht, um Wertungen im höheren Bereich zu zücken – dazu braucht die dargebotene Musik nämlich etwas, das mich anspricht; das mir signalisiert, dass hier Herzblut geflossen ist. Das Gefühl habe ich bei „The Diary“ nicht eine Sekunde – und ich spreche immer noch von der „storm version“. Die „gentle version“ ist in meinen Ohren noch blutleerer und öder als die (leicht) metallische Fassung – man streiche die oben genannte NIGHTWISH-Orientierung.

Damit bin ich bei zumindest für mich zwei Erkenntnissen angelangt: Erstens ist meine konsequente Ignoranz AYREONs nichts, das ich in irgendeiner Weise bereuen müsste – zumindest nicht, wenn ich THE GENTLE STORM anhöre. Zweitens mag Anneke durch ihre Beiträge bei THE DEVIN TOWNSEND PROJECT und nun THE GENTLE STORM zwar den Weg zu einem größeren Publikum gegangen sein – daran, dass sie bei THE GATHERING berührender und authentischer war, besteht aber spätestens mit „The Diary“ kein Zweifel mehr.

23.03.2015
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