Wilderun - Veil Of Imagination

Review

Einige WILDERUN-Fans wunderten sich ja, warum das so lange gedauert hat, bis ein größeres Label auf die US-amerikanischen Senkrechtstarter aufmerksam werden würde. Nun ist es aber passiert – und der Zuschlag geht an Century Media. Die bringen ihr drittes Album „Veil Of Imagination“, das bereits im November 2019 in Eigenregie erschienen ist, jetzt noch einmal im ganz großen Stil heraus. Spätestens jetzt gibt es für Außenstehende also keine Entschuldigung mehr dafür, nicht wenigstens mal von den Bostonern gehört zu haben, was selbst in ihren Underground-Tagen schon schwer genug gewesen ist aufgrund ihrer passioniert schwärmenden Anhängerschaft.

WILDERUN hat die musikalische Abenteuerlust gepackt

Das alles kommt natürlich nicht von ungefähr: Hinter WILDERUN stecken studierte Köpfe, deren ursprüngliche Vision die progressive Verschmelzung melodischen Death Metals mit Folk gewesen ist, wobei die Herren von den nordischen Folk-Klischees absehen wollten und mehr ihre neuenglischen Wurzeln ins Spiel brachten, was 2012 im ersten Album „Olden Tales & Deathly Trails“ resultierte. Der Vergleich „TURISAS meets OPETH“ ist da ziemlich geläufig und wird sogar von der Band selbst zitiert. Der Nachfolger „Sleep At The Edge Of The Earth“ baute darauf auf, stockte den Sound jedoch um eine breitbandigere, symphonische Komponente auf. Beim Hören dieser Arrangements fällt es manchmal schwer zu glauben, dass diese aus der digitalen Konserve stammen.

Noch mehr klappt einem dann in dieser Hinsicht die Kinnlade beim nun vorliegenden, „neuen“ Album „Veil Of Imagination“ herunter, das sich als ausgewachsenes Symphonic-Werk präsentiert. Die Band scheint beim Schaffensprozess einem Auszug aus der Lyrik von Thomas Stearns Elliot gefolgt zu sein:

We shall not cease from exploration
And the end of all our exploring
Will be to arrive where we started
And know the place for the first time

Es ist fast wie ein Credo für den breit gefächerten, abenteuerlustigen Stil, den WILDERUN spielen und der sich partout keine Leine anlegen lassen möchte. Das von einem gewissen Dan Swanö abgemischte und von einem noch gewisseren Jens Bogren gemasterte Album behält den OPETHschen Melodic-Death-Stil bei und ordnet die Folk-Wurzeln dem ein bisschen mehr unter, ohne sie gleich aus dem Sound zu verbannen. Ein bisschen schlagen sie also noch durch, wie zu Beginn des Openers „The Unimaginable Zero Summer“ oder in „Far From Where Dreams Unfurl“, doch im Mittelpunkt steht ein Sound, der einer modernen Metal-Symphonie gleicht, in dem orchestrale Arrangements und Metal eine Symbiose eingehen.

„Veil Of Imagination“ ist eine wahre Metal-Symphonie

Arrangements sind natürlich nur ein Element und machen allein längst kein gutes Songwriting. Aber auch hier haben WILDERUN rein gar nichts anbrennen lassen. Die weiter oben erwähnte OPETH-Schlagseite ist nach wie vor präsent, nimmt aber beispielsweise in „O Resolution“ den in Sachen Rhythmik buchstäblich mitschwingenden Folk mit. Der klare Gesang von Evan Anderson Berry trägt auch noch einen Rest davon mit, besonders mit den wiederum leicht und elegant schwingenden Linien in „Sleeping Ambassadors Of The Sun“.

Doch viel wichtiger als das ist, dass die Bostoner das Buch geschrieben haben, wie eine wahre Metal-Symphonie zu klingen hat. Bleiben wir mal bei „Sleeping Ambassadors“: Der Song hat so einen organischen Fluss und scheint sich praktisch auf natürliche Weise zu ereignen, inklusive Åkerfeldt-Gedenk-Growls im metallischen Mittelteil, der Hook, welche die eröffnenden Gesangslinien wieder aufgreift, und der großartigen Männerchor-Sektion. Diese Passagen werden in der Reihenfolge nahtlos miteinander verknüpft, während der Song durch den bombastischen Schlussteil abgerundet wird. Die US-Amerikaner präsentieren eine gute Mischung aus Einfallsreichtum und Nachhaltigkeit, was sich durch das gesamte Album zieht.

Die Bostoner haben für jeden was dabei

Wer es Hook-orientierter und verspielter mag, findet dies in „Far From Where Dreams Unfurl“, das den mit Abstand bombastischsten Refrain der Platte enthält, locker auf einem Level mit den epischeren Stücken von BORKNAGAR. Strophe und Hook umschließen dabei einem Buchumschlag nicht unähnlich den technischeren Teil des Songs, in dem die Band richtig lebhaft aufspielt, dabei harmonisch stets im Rahmen bleibt und sich im ausreichenden Maße in Zurückhaltung übt, um nicht mit unnötigem Cheese auf die Nerven zu gehen. Dass das alles so elegant ineinander übergeht, zeugt einmal mehr vom umsichtigen Songwriting, durch das sich „Veil Of Imagination“ auszeichnet.

Und Apropos „Umschließen“: „Far From Where Dreams Unfurl“ selbst wird durch den Zweiteiler „Scentless Core“ eingefasst, der im ersten Part „Budding“ fast einem wilden Naturschauspiel gleichkommt, während der zweite Teil „Fading“ dem Titel gemäß sentimentaler, irgendwie sinnierend und zum Ende hin deutlich aggressiver ausfällt. Das wiederum leitet gekonnt in den folgenden Track „The Tyranny Of Imagination“ über, der mit Abstand düsterste und aggressivste Track der Platte. Besonders beeindruckend ist hier der schwer stampfende Groove, der den ersten Teil des Songs bestimmt.

Zwischen Perfektionismus und Zurückhaltung

Beim abschließenden „When The Fire And The Rose Were One“ gibt es dann noch einmal großes Kino für die Ohren zu bewundern. Hier leistet das Instrumentarium an sich die gesamte, expressive Arbeit, während der Gesang eine untergeordnete Rolle spielt. Die Arrangements von Dan Müller und Wayne Ingram sitzen nach wie vor wie angegossen, doch sie toppen das noch einmal mit einem lebhaften, beinahe nach einer Frühlingsmusik klingenden Flötenintermezzo, bei dem vermutlich nur die geübtesten Ohren sicher sein können, ob das nun aus der Konserve kommt oder nicht.

Das musikalische Bild, das die US-Amerikaner malen, lässt die Konturen zwischen den Genres endgültig verschwimmen. Es ist eine durchweg packende Metal-Symphonie, bei der Metal und orchestrale Arrangements stets ineinander greifen. Die Bostoner portionieren ihre Härte geschickt und sorgen so dafür, dass der reinen Ästhetik ein erdiger Gegenpol gegenübergestellt wird, sodass die Blüte der farbenprächtigen Melodiebögen stets erfrischend wirkt. Gleichzeitig üben sie sich zur rechten Zeit in Zurückhaltung, ersticken so jegliche Gefahr von Kitsch und Cheese im Keim. Doch bei aller Berechnung und Komposition bleibt stets Luft zum Durchatmen. Einzelne Grooves bleiben damit zwar auf der Strecke, doch das fällt im Gesamtbild kaum ins Gewicht.

WILDERUN ernten endlich den Lohn für ihre Arbeit

Das Album bietet einfach die fast vollendete Mischung aus Perfektionismus und Lebhaftigkeit. Es ist ein Juwel für Genießer und Analysten gleichermaßen. Dass sich Labels nicht schon früher um WILDERUN gerissen haben, scheint da fast paradox. Aber nun haben sie (fürs Erste) eine Heimat gefunden. Und wenn es in den vergangenen Monaten eine Band gegeben hat, die das mehr als verdient hat, dann sind es die Bostoner. Insofern: Gratulation zum Deal. Und – erneut – Gratulation zu einem grandiosen Werk, das zwar vorher auch nicht wirklich unbekannt war, nun aber endlich dank Century Media die Aufmerksamkeit erhält, die es verdient hat.

09.07.2020

Redakteur für Prog, Death, Grind, Industrial, Rock und albernen Blödsinn.

Exit mobile version