St. Anger
Früher war ALLES besser! Oder?

Special

Wir haben alle ein dunkles Geheimnis. „Leichen im Keller“, wie es im Volksmund so schön heißt. In meinem Fall ist es nicht annähernd so glamourös, wie ich es mir wünschen würde. Meine sogenannte Jugendsünde beschränkt sich darauf, dass ich in den frühen Teenagerjahren als Messdiener in einer katholischen Kirche in München gewirkt habe. Das war es. Man ist damals einfach so in diese Rolle reingewachsen. Ein paar Jahre später bin ich dann zu unchristlichen Veranstaltungen wie dem „Full Of Hate“ mit Bands wie MORBID ANGEL und CANNIBAL CORPSE am Ostersonntag oder den Anfangstouren von ENTOMBED, DISMEMBER und UNLEASHED gepilgert. Eine Beichte habe ich nie abgelegt – und die Absolution demnach auch nie erhalten.

Wer jetzt denkt, die Geschichte wird durch diverse kleine Gaunereien à la „Im Klingelbeutel waren auch stets ein, zwei Scheinchen für mich dabei“ oder „Heimlich habe ich mich mit Messwein volllaufen lassen“ oder „Nach kurzer Zeit war ich weihrauchabhängig“ frisiert, wird bitter enttäuscht sein. Zwar ist dem Herrn Kaplan Woche für Woche die Zornesröte ins Gesicht gewandert, als ich mit meinen weiß-roten Nike-Basketballschuhen und im „Killers“-Shirt von IRON MAIDEN zur Sonntagspredigt erschienen bin, rebellischer wurde mein Umgang mit den Gottesmännern aber nicht. Abgesehen von regelmäßigen Lachkrämpfen vor dem Altar, wenn die Flügelmänner mal wieder den Einsatz beim Hinknien verkackt haben.

Der Dienst als Ministrant war und ist freilich ein Ehrenamt, dass lediglich an den hohen Feiertagen mit einem Obolus entlohnt wurde. Und zwar für jeden, der beim Schmücken der Kirche mit Kerzen, Blumen und Kränzen behilflich war. Eine nicht binäre Sprache ist hier übrigens obsolet, weil Ministrantinnen seinerzeit nicht zugelassen waren, was aber gut zu meiner Situation als Bursche mit Flaum unter der Nase und Pickeln im Gesicht passte, der mitten in der Adoleszenz steckte und im strengen (unfreiwilligen) Zölibat lebte.

Jedenfalls rackerten wir uns ein paar Stunden mit körperlicher Arbeit im Dienste der Kirche ab und erhielten später vierzig DM bar auf die Kralle. Der Stundenlohn für diese Kinderarbeit wäre nach heutigen Maßstäben eine Farce und der einzige Grund, warum ich mir die Finanzspritze zwei Mal im Jahr gesichert habe, war weniger ein theologischer als vielmehr ein metallisch-ideeller. Schnurstracks ging es nach getaner Arbeit nämlich ein paar Meter vom Viktualienmarkt die Kaufinger Straße rauf, bis ich die – für mich – heiligen Buchstaben „WOM“ (World Of Music) am Eckhaus gegenüber dem C&A erblickte.

Für alle, die diese letzte Bastion der Mainstream-Plattenläden nicht mehr kennen: Der WOM war einst Szenetreff, Merchhändler, Ticketvorverkaufsstelle und der Ort, wo man in Platten reinhören konnte. Hin und wieder streiften wichtig wirkende, viel ältere Personen durch die Gänge, die uns mit selbst entworfenen Flyern für kleine JUZ-Konzerte versorgten. Persönlich war ich jeden Nachmittag im WOM. Natürlich habe ich immer mit den gleichen pubertierenden Metal-Nerds die immer gleichen Platten aus den Fächern gezogen und über die Musik gefachsimpelt oder einfach das Cover bewundert. Der wahre Grund für mein tägliches Erscheinen war allerdings das Mädel vom Ticketvorverkauf. Sie war vielleicht fünf, sechs Jahre älter als ich, was in dieser Zeit eine nie zu überbrückende Entfernung war. Während ich mich täglich obercool vor den Tourplakaten rumdrückte, würdigte SIE mich keines Blickes. Und obwohl ich unsterblich verliebt war, weiß SIE bis heute nicht, dass ich existiere.

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Hoppla, bin ich wieder abgeschweift? Heute war alles anders. Mit frisch duftenden vierzig Mark in der geballten Faust rauschte ich an der Ticketverkäuferin vorbei und zog mit einer überheblichen Geste eines Mannes, der sein eigenes Geld verdiente, „Clandestine“ von ENTOMBED und „Human“ von DEATH aus dem Regal.

In die Alben hatte ich im Vorfeld reingehört und in den Magazinen nur das Beste über sie gelesen. Magazine waren Anfang der 90er natürlich nur im Printformat erhältlich, Fanzines wurden selbst kopiert und Videoclips haben wir beim Headbangers Ball geschaut. Hin und wieder haben wir uns gegenseitig Platten, CDs und VHS-Kassetten geliehen (von denen bestimmt fünfzig ihren Weg nicht mehr zu mir gefunden haben).

Heute ziehe ich mein Smartphone aus der Hosentasche und höre unendlich viel komprimierte Musik auf meinem Spotify-Family-Account für 15 € im Monat. Eine Band hat ein neues Video? YouTube wird es schon richten. Und wenn mir der Schwof nicht taugt, skippe ich das Werk einfach und klicke auf den nächsten Vorschlag.

Die Wertschätzung an der Kunst, mit allem, was sie dazu werden lässt: Pffft! Wen interessieren schon so schnöde Dinge wie ein liebevoll inszeniertes Cover-Artwork, das nicht etwa digital mit Maus und Software oder gar mittels künstlicher Intelligenz entstanden ist. Früher wurde noch der ganz große Pinsel mit Ölfarben geschwungen oder Bandmitglieder haben Logos und Demohüllen mit einem schwarzen Edding in kindlicher Selbstüberschätzung einfach selbst gestaltet.

Songs, die analog aufgenommen wurden, in denen jeder Spur eine stunden-, tage- oder in Einzelfällen sogar wochenlange Vorbereitungszeit zugestanden wurde, damit wirklich das letzte Flirren einer Gitarrensaite genau so klang, wie es sich die Band wünschte, interessieren heute nur noch peripher. Schnell rein, schnell aus – so lautet das Motto flächendeckend.

Den Schwarm mit einem speziell zusammengestellten Tape beeindrucken oder im Freundeskreis mit schwer erhältlichen Importscheiben angeben? Schnöde Sinnlosigkeiten im Hier und Jetzt. Stattdessen werden Playlists geteilt und niemals komplett durchgehört.

Gerade kapiere auch ich es: Ich klinge wie ein arroganter Snob aus der „Früher war alles besser“-Generation. Das war es nicht. Bin ich ein tiefgründigerer Musikliebhaber, weil ich für meine ersten Platten schwer arbeiten musste? Auf keinen Fall. Bin ich ein Connaisseur, weil ich es liebe, ein Vinyl aus dem Innersleeve zu holen, daran zu schnuppern und spätestens beim Knistern der Plattennadel Befriedigung zu verspüren? Wohl kaum. Es kommt gar nicht darauf an, wie man Musik hört und wann man damit angefangen hat. Es kommt auf die Leidenschaft, das Lebensgefühl und die Verbundenheit an. All diese Attribute lassen sich auch heute erfüllen.

Und doch: Als vor zwei Jahren das Gesamtwerk der schwedischen Deather von DISMEMBER noch einmal als Vinyl-Boxset namens „Historia Mortis“ erschien und ich die Vorbestellung aufgrund eines längeren Auslandsaufenthaltes verpasst habe, kam mir schon in den Sinn, dass ich hier das Opfer war. Warum? Nun, nachdem das Boxset restlos vergriffen war (im Originalpreis übrigens für weniger als 200 €), versuchte ich mein Glück auf einschlägigen Seiten für Kleinanzeigen und Auktionen. Dort sollte „Historia Mortis“ 500 € und mehr kosten, obwohl es wenige Wochen auf dem Markt war. Für mich konnte das nur heißen, dass einige geldgeile Nicht-Metaller:innen die Sets auf Vorrat gekauft und über die unsägliche wie unbelastbare Preisbestimmungsplattform Discogs gleich mal den Wert der Box im hochkarätigen Bereich bestimmt hatten. Und hier war ich: Mit 13 Jahren das erste DISMEMBER-Konzert besucht. Die Band gehörte für mich zu den wichtigsten Ratgebern während meines Erwachsenwerdens, also hätte ich doch ein Vorrecht auf den Erwerb der Box besitzen müssen. Oder etwa nicht?

Ein vierzig, fünfzig Jahre altes Album hat die Zeit, zu so einem Wert zu reifen. Ein frisches Gesamtwerkt als Wiederveröffentlichung sicherlich nicht. Nachdem ich mich unbescheiden, wie ich war, mit einigen Händlern per PN angelegt hatte, ruderte ich zurück und kaufte das Set letztlich für 450 €.

Was lernen wir aus dieser Geschichte? Wahrscheinlich nichts. Es handelt sich um eine Kolumne, in der die persönliche Meinung oder Erinnerungen geteilt werden sollen. Mehr nicht. Ich bin mir aber ganz sicher, dass es da draußen noch viele andere gibt, die es einst kaum erwarten konnten, bis der Geburtstag gefeiert wurde oder Weihnachten vor der Tür stand. Das waren die Momente, in denen wir neue Platten geschenkt bekamen und zur Musik eine innige Beziehung aufbauten. Ganz einfach, weil der inflationäre Zugang zu mehr schlichtweg fehlte. Waren das die besseren Zeiten für Musikliebhaber:innen? Keine Ahnung. Aber es war auf jeden Fall die beste Zeit meines Lebens!

15.06.2025

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