Post-Rock – Wer nicht hören will muss fühlen
1. April 2016 – Neuer Output von MOGWAI, EXPLOSIONS IN THE SKY und HAMMOCK

Special

Post-Rock – Wer nicht hören will muss fühlen

Ein Post-Rock-Special. Nee, ist kein Metal, wissen wir. Aber mal ehrlich: Wenn sogar Herrn Møllers Best-of-Staubsauger-Metal-Kolumne ihre Abnehmer findet, nehmen wir aus Ressort 5 das eben schon als deutlichen Hilfeschrei wahr. Allerhöchste Eisenbahn also, auch mal vermehrt angenehmen, gar gut produzierten Klängen zu frönen. Und der 1. April 2016 bringt reichlich frisches Material mit: Die neuen Alben von MOGWAI, EXPLOSIONS IN THE SKY und HAMMOCK sowie weitere handverlesene Perlen alternativer Gitarrenmusik scheinen förmlich dazu geschaffen, der Chefredaktion mal ordentlich die Lauscher durchzuspülen.

Herr Møller: Nietengürtel ab- und Kopfhörer angelegt!

#1 MOGWAI – „Ether“ („Atomic„, 2016)

Die Legende ist zurück – und spaltet die Fans. Schenken wir treuen SLAYER-Anhängern Glauben, entsprechen 6/10 Punkten dem schlimmstmöglichen Verriss, zu welchem gehässige metal.de-Autoren fähig sind. Denjenigen, die „Repentless“ ernsthaft für die brutalste Presswurst des Jahres 2015 halten, tue ich es in meiner gerne Empörung gleich. Für die unverzeihliche „Rave Tapes„-Rezension aus dem Jahre 2014 stelle ich Gehör und Musikalität meines Kollegen Kostudis jedenfalls bis heute in Frage.

Den Hiroshima-Soundtrack „Atomic“ habe ich folglich besser gleich selbst unter die Lupe genommen. Und mich einer weiteres Mal vom magischen Minimalismus der mauligen Musterknaben des Post-Rocks einlullen lassen. (5 Euro in die Alliterationskasse!) Wem – meinem Kollegen ähnlich – von der guten, alten „Ein-Motiv-ein-Song“-Herangehensweise im Laufe eines fünf Minuten-Tracks die Füße einschlafen – bitteschön. Alle anderen dürfen sich an den nach wie vor reduzierten, aber zauberhaften Ergüssen einer Pionier-Band erfreuen, die nach und nach immer weiter in elektronische Synthesizer-Welten abdriftet.

Alex Klug

Mist, hier tut was nicht.Whoops! Hier sollte eigentlich ein Video- oder Audio-embed erscheinen. ...

#2 BOARDS OF CANADA – „Reach For The Dead“ („Tomorrow’s Harvest“, 2013)

…und damit unumstößliche Assoziationen an ihre Landsleute BOARDS OF CANADA weckt. Ein Name, der im Jahre 2010 übrigens tatsächlich schon mal in einer metal.de-Rezension auftauchte. Und das, obwohl ich meine „Cheri Cheri Lady“-Vinyl darauf verwettet hätte, dass ich es war, der den exquisiten Electronica-Geschmack bei metal.de eingeführt hat.

Dabei würden BOARDS OF CANADA eigentlich auch ganz gut in Herrn Møllers Kindergekreisch-Sammlung passen. Das schottische Downtempo-/Trip-Hop-Duo ist nämlich so dermaßen Black Metal, dass es ihm nicht nur an Corpsepaint, sondern zugleich auch an eigener Website, Interviews und jeder Form von Marketingstrategie mangelt. Letzter Live-Auftritt: 2001. Kann man schon so machen.

Nichtsdestoweniger haut das verschlossene Brüderpaar schon seit den Neunzigern alle paar Jahre bockstarke Alben raus. Alben, die elektroaffinen Post-Rock-Freunden hiermit mal ganz deutlich ans Herz gelegt seien. Denn schließlich wäre es angesichts solch ausgefallener Dystopie-Soundtracks wie „Tomorrow’s Harvest“ ein Jammer, wenn sie auf ewig bei mir im Plattenschrank versauern müssten – nur um dann im Zweifelsfall von Querulanten wie Kostudis wieder nicht verstanden zu werden.

Alex Klug

#3 MILHAVEN – „DRZ“ („Automata“, 2012)

Vielleicht habe ich „Rave Tapes“ nicht verstanden. Vielleicht war es aber auch einfach keine herausragende Scheibe. Wer weiß das schon. Was hingegen unbestrittener Fakt ist: Vor vielen, vielen Jahren spielte im Dresdner AZ Conni die ganz fabelhafte Band MILHAVEN. Post-Rock aus Bochum. Zwei Dinge, die sich eigentlich von vornherein ausschließen. Auf den zweiten Blick allerdings stellten sich die vier Herrschaften aus dem Pott nicht nur als durchweg angenehme Zeitgenossen heraus, sondern auch als ausgewiesene Live-Macht. Na gut, vielleicht hatte der ein oder andere der Beteiligten vor dem Gig ein wenig zu tief ins Glas geschaut. Oder war es gerade deswegen so magisch? Eine Frage, die wohl auf ewig unbeantwortet bleibt. Die Erinnerung an vier wippende, schwankende Gestalten im Nebel wird hingegen niemals vergehen.

Tatsächlich haben MILHAVEN mit „Automata“ so etwas wie den heiligen Underground-Gral des deutschen Post-Rock errichtet. Herzstück der Scheibe ist dabei das überlange „DRZ“. 16 geballte Minuten Naivität, Minimalismus und Dramatik. Natürlich kein Song, durch den der gemeine YouTuber mal eben durchskippt. Und sicherlich auch nicht das Beste, was in puncto Produktion und Tightness auf dem Markt ist. Aber eben eine der charmantesten und tiefgründigsten Kompositionen, welche hierzulande jemals zustande gebracht wurden. Vorhang auf für MILHAVEN.

Anton Kostudis

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#4 HAMMOCK – „Glassy Blue“ („Everything And Nothing“, 2016)

Wem das mit dem aufmerksamen Zuhören hingegen nicht so liegt oder wer einfach Post-Rock für den nächsten Wellness-Marathon sucht, der darf sich heute getrost die neue HAMMOCK ins Regal stellen. Das amerikanische Gitarren-Duo versteckt auf „Everything And Nothing“ zwar dreimal so viele Details wie die aktuellen MOGWAI- und MG?A-Scheiben zusammen, das Produkt könnte für ein Ambient-Album aber bekömmlicher kaum sein. Schon die abwechslungshalber nicht instrumentale Vorabveröffentlichung “Glassy Blue” lädt zum eifrigen Immer-wieder-Neuentdecken ein.

„Everything And Nothing“ bietet 76 Minuten shoegazigen Ambient-Post-Rock und ist ab heute im Under-Under-Underground-Plattenladens eures Vertrauens erhältlich. Oder vielleicht doch besser im Online-Shop.

Alex Klug

#5 WE LOST THE SEA – „A Gallant Gentleman“ („Departure Songs“, 2015)

WE LOST THE SEA hingegen haben im vergangenen Juli wohl eines der besten Post-Rock-Alben des Jahres 2015 rausgebracht – und sich dabei direkt mal ganz dreist bei HAMMOCK bedient. Allerdings (zum Glück?) nur beim Albumtitel der 2012 erschienen „Departure Songs“. Ansonsten haben die Longtracks des australischen Sechsers etwa so viel mit HAMMOCK zu tun wie Herr Møller mit gut produzierten Metalalben.

Nach dem Suizid des Sängers Chris Torpy im Jahre 2013 haben sich WE LOST THE SEA ihrer Misere auf ziemlich ausgefallene Art und Weise angenommen. Auf „Departure Songs“ verarbeiten sie tragische Todesfälle im Namen von Forschung und Wissenschaft – zum Wohle der Menschheit. Dabei nimmt die Truppe von Tschernobyl bis zur Challenger-Katastrophe (den 33-Minuten-Song binden wir jetzt hier mal lieber nicht ein) einfach alles mit und liefert dank Sprachsamples, erdiger Live-Produktion und erstklassiger Vinyl-Aufmachung eines DER akustischen wie haptischen Vinyl-Releases des Jahres ab. Für Freunde der ausufernden Spielweise ein absoluter Geheimtipp, den Ressortleiter Kostudis aufgrund seiner unwissenden Stänkerei über die letzte GODSPEED-Platte leider übersehen hat. Schade.

Alex Klug

#6 EXPLOSIONS IN THE SKY – „Disintegration Anxiety“ („The Wilderness„, 2016)

Nun gut, der Kollege hätte ja auch mal Bescheid sagen können. Vielleicht sind ihm aber ein paar wichtige Facebook-Postings oder ein entspannter Schmökerabend bei Kerzenschein dazwischengekommen, das lässt sich heute nicht mehr vollständig rekonstruieren. Fakt ist, dass EXPLOSIONS IN THE SKY, von vielen als „Götter des Post-Rock“ bezeichnet, jüngst (genauer: heute) mit ihrer neuen Scheibe um die Ecke gekommen sind. Ebenjene ist beileibe kein Feuerwerk der Melodien und Effekte, dafür aber zum ersten Mal angenehm natürlich und charmant gehalten.

Exemplarisch für die Scheibe steht „Disintegration Anxiety“ – ein Song, der eben nicht nach Standard-Muster gestrickt, nicht durch endlose Nachbearbeitung völlig glattgebügelt und vor allem: in keinster Weise langweilig ist. Rhythmus und Melodie, diesmal nicht im drögen Gleichschritt, sondern als cleveres Stilmittel. Angenehm anders, eben.

Anton Kostudis

#7 OCEANSIZE – „Meredith“ („Everyone Into Position„, 2005)

Es war ein ungemütlich verregneter Tag im Februar vor elf Jahren. Die Bandkumpels drückten mir ein flaches, recht lieblos verpacktes Päckchen in die Hand. „Alles Gute zum Geburtstag“, murmelten sie. Ich entfernte die Pappe und zog eine CD hervor. „Everyone Into Position“ stand auf dem Cover. Ich hatte keinen Schimmer, was für eine Band das ist, bedankte mich aber artig. Die Platte wanderte in die Gitarrentasche, die Bandprobe begann. Und ungefähr dieselben Schwierigkeiten, welche unsere Truppe aus frisch Wahlberechtigten seinerzeit beim Stricken guter Songs hatte, charakterisierte den Erstkontakt mit OCEANSIZE einige Tage später. Natürlich hatte ich das Geschenk im Dederonhalfter vergessen. Dann, zu allem Überfluss, als sich das silberne Scheibchen erstmals in der heimischen Anlage drehte, fummelten fünf Briten irgendwelche überlangen Songs zwischen Indie, Prog und atmosphärischem Rock daher. Machen wir’s kurz: Das Album zündete nicht.

Nicht gleich. Denn im Gleichklang mit der tickenden Lebensuhr arbeitete sich das Album immer weiter voran, tief in mein Innenleben, wo es schließlich gewissermaßen explodierte und konsequenterweise beträchtliche Wirkung hinterließ. Heute sehe ich „Everyone Into Position“ als eines der herausragendsten Werke der experimentellen Gitarrenmusik an. „Heaven Alive“, „A Homage To A Shame“, das unglaubliche „Music For A Nurse“…was für Perlen. Ein Song aber überstrahlt alle anderen auf diesem Album: „Meredith“. So viel Gefühl, so simpel und doch so viel Tiefe. Dieser – wenn dieser Begriff im Post-Rock überhaupt erlaubt ist – Refrain. Der blanke Wahnsinn. Und auch heute noch kommt es vor, dass ich auf nächtlichen Autofahrten diese Platte in den Player schiebe, die Lautstärke so hoch drehe, dass der Innenraum in bedenkliche Resonanzsurrung gerät, auf die Straße blicke und denke: Ohne dieses wunderbare Stück Musik würde mir etwas fehlen. Denn ohne OCEANSIZE – kein Post-Rock.

Anton Kostudis

#8 SIGUR RÓS – „Varúð“ („Valtari“, 2012)

Kein Post-Rock übrigens auch ohne SIGUR RÓS. Aber das wusstet ihr vermutlich schon. Wohl auch, dass die introvertieren Isländer über eine Eigenschaft verfügen, die einem in jedem anderen Pressetext bestenfalls vorgelogen wird – sie sind enorm wandelbar. Zum Glück! So kam es, dass Jónsi und Kollegen nach zwei verhältnismäßig poppigen (und kommerziell erfolgreichen) Platten plötzlich das ruhigste Projekt ihrer gesamten Karriere angingen.

Vier Pianos, spärliche Drums, verwaschene Songstrukturen: „Valtari“ ist zerbrechlicher als Toleranzschwelle des geneigten 08/15-Black Metallers – und benötigt ebenso viel Liebe und Geduld, bis es von Außenstehenden wirklich verstanden werden kann. „Varúð“ zeigt einen der vergleichsweise harschen Moment eines der besten Ambient-Alben der letzten Jahre.

Alex Klug

#9 THIS WILL DESTROY YOU – „Little Smoke“ („Tunnel Blanket“, 2011)

Stichwort: Ambient. Es gibt unterschiedliche Formen von Leere. Angenehme Leere ist, wenn du am sommerlichen Freitagnachmittag nach Feierabend nach Hause kommst und noch keiner deiner Kumpels auf deine Einladung ins Freibad reagiert hat. Unbequeme Leere ist, wenn du an einem Freitagnachmittag im Berufsverkehr dem etwas zu plötzlich bremsenden Neuwagen vor dir draufgerauscht bist, nach ekligem Papierkram und einer langen Odyssee mit den Öffentlichen endlich vor deiner Haustür stehst, dir der Schlüssel abbricht und der Ersatz zwei Etagen höher liegt. Zweiteren Gemütszustand – einen zwischen Ratlosigkeit und Verzweiflung – vertonen THIS WILL DESTROY YOU.

Das Gute daran: Die US-Amerikaner füllen die Leere mit ihrer Musik. Das Schlechte: Es ist in den allerseltensten Fällen erheiternd. Das gilt auch für das epische „Little Smoke“ vom überragenden 2011er-Album „Tunnel Blanket“: Langgezogene Spannungsbögen, schier endlos wabernde Melodien, schiere Trostlosigkeit. Befindet sich der Hörer allerdings ausnahmsweise mal nicht in einer wie oben beschriebenen aussichtslosen Lage, können THIS WILL DESTROY YOU auch unglaublich schön sein. Aber hört selbst.

Anton Kostudis

#10 MAYBESHEWILL – „Take This To Heart“ („I Was Here For A Moment, Then I Was Gone„, 2011)

Dass die Briten die Gitarren nach ihrer derzeit noch laufenden Abschiedstour an den Nagel hängen, ist wohl so ziemlich die bitterste Nachricht des Jahres für Post-Rock-Freunde. Noch bitterer ist es allerdings, wenn ein Verehrer der Band (wir nennen lieber keine Namen) ein Date der Tour aufgrund seines altersschwachen Autos verpasst. Anders gesagt: Es gibt Dinge im Leben, über die es sich bis zum allerletzten Atemzug zu ärgern lohnt. Während Kollege Klug immerhin noch ein Abschiedsgespräch führen durfte, muss ich meine große Liebe nun aus der Ferne verabschieden.

MAYBESHEWILL mögen nie den Status von Genregrößen wie CASPIAN oder EXPLOSIONS IN THE SKY erreicht haben, sind aber dennoch eine der wichtigsten und einflussreichsten Bands des Post-Rock-Segments. Warum? Weil sie nicht nur absolut stimmige und mitreißende Musik veröffentlicht haben, sondern vor allem, weil sie dabei stets eigenwillig und unkonventionell zu Werke gingen: wüst, ruppig, hart, vertrackt und doch auf wundersame Weise zugänglich von der ersten Sekunde an. Das Paradebeispiel: die 2011er-Platte „I Was Here For A Moment, Then I Was Gone“. Diese Truppe ist so Rock ’n‘ Roll, wie es eine Post-Rock-Band sein kann. Und noch ein bisschen mehr.

Anton Kostudis

01.04.2016
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