Neaera
Die Natur des Menschen

Interview

Nach einigen Abschiedsshows waren NEAERA Ende 2015 Geschichte. Fünf Jahre und einige Reunionkonzerte später steht mit „Neaera“ das siebte Album der Melodic-Death-Metal-Band ins Haus. Gitarrist und Texter Stefan Keller verrät, wie es dazu kam und lässt in die Gedankenwelt blicken, die hinter seinen nicht allzu optimistischen Lyrics steckt.

Zum Einstieg ein Blick in die Vergangenheit. 2015 habt ihr eure Auflösung bekanntgegeben. Damals hattet ihr gesagt, dass es zeitlich immer schwieriger für euch wurde, die Band weiter zu betreiben. Was genau löste euer erstes Gespräch über ein mögliches Ende von NEAERA aus? Und wie lange dauerte es danach, bis ihr Nägel mit Köpfen gemacht habt?

Stefan: Da war nicht nur Zeit im Spiel damals. Auf musisch-kreativer Seite kamen wir nicht richtig von der Stelle nach „Ours Is The Storm“. Wir haben relativ lange an vier Songs gearbeitet – keine davon sind übrigens auf dem neuen Album – und hatten unser gewohntes Tempo verloren. In textlicher Hinsicht fehlte mir der Drang sowie das Bedürfnis, mich zu bestimmten Themen zu äussern. Ich hatte das Gefühl, wir hatten alles gesagt. Auf beruflicher Seite fingen einzelne Bandmitglieder teilweise erstmals an, ernsthaft an ihrer beruflichen Ausrichtung zu arbeiten und darüberhinaus verteilten wir uns auf immer mehr unterschiedliche Städte: Münster, Essen, Köln, Berlin. Die Auflösung war unumgänglich, aber organisch, harmonisch und – wie man jetzt sieht – gesund und genau das Richtige! Natürlich zog sich das ganze auch etwas hin und war auch ein Prozess der Selbsterkenntnis und vielleicht auch Selbstfindung.

Die Auflösung hat nicht allzu lange angehalten. 2018 habt ihr einige ausgewählte Liveshows gespielt. Wie kam das zu Stande?

Stefan: Es kam wirklich recht überraschend. Die Impericon Festivals wollten uns supergerne mit dabei haben und haben unserem Freund und Booker Timo Birth ein Angebot übermittelt, das er an uns weitergegeben hat. Wir haben etwas überlegt, auch etwas diskutiert, und dann zugesagt unter der zwanglosen Devise: warum nicht? Könnt‘ ja geil werden. Und wenn nicht: dann sind wir danach schlauer.

Mittlerweile schreiben wir das Jahr 2020 und ihr habt eine neue Platte fertig. Wann und wie kam der Gedanke auf, doch noch ein Album zu machen?

Stefan: Es war tatsächlich kurz nach diesen Konzerten, dass es Tobias [Buck, Gitarrist] wieder in den Fingern juckte und er, nachdem er sich in Münster mit seinem veganen Restaurant selbstständig gemacht hatte, seine Lust und Freude am Gitarre Spielen und Komponieren wiedergefunden hatte.

Gab es innerhalb der Band auch Zweifel, ob das so eine gute Idee ist?

Stefan: Wir sind mittlerweile alle berufstätig und drei von uns haben Kinder. Zudem wohnen wir an unterschiedlichen Orten. Eine Albumproduktion inklusive allem, was dazu gehört, ist eine sehr aufwendige Angelegenheit. Kurzum: klar, da gab es schon die berechtigte Frage, ob wir das zum einen überhaupt schaffen und darüberhinaus auch gut hinbekommen, sodass es auch Spaß macht. Das tut es zum Glück.

Produzent der Platte ist Jacob Hansen, mit dem ihr bei „Let The Tempest Come“ und zuletzt 2007 für „Armamentarium“ zusammengearbeitet habt. Wieso habt ihr ihn wieder herangezogen? Standen auch andere Produzenten zur Debatte?

Stefan: Es stand nur Jacob zur Debatte. Der wuchtige aber organische Sound, den er uns auf „Tempest“ und „Armamentarium“ gemacht hat, gefiel und gefällt uns immer noch! Das ist etwas sehr, sehr Besonderes, denn Zeitlosigkeit ist eigentlich das Geilste, was man als Künstler erreichen kann. Dasselbe gilt im Übrigen für unseren Artworker Terje Johnsen aus Norwegen, dessen Arbeiten uns immer noch gefallen.

In den meisten Fällen heißt das Debütalbum einer Band schlicht wie die Band selbst. Ihr aber habt eurem siebten Album den Titel „Neaera“ gegeben. Warum? Standen überhaupt andere Vorschläge zur Debatte?

Stefan: „Armamentarium II“ war noch im Gespräch, fanden die anderen aber leider eher blöd. Ok, Spaß beiseite: Der Titel passte für dieses spezielle Album einfach zu gut. „Neaera“ soll auf mehreren Ebenen für die Essenz stehen: Wir haben seit 2003 dasselbe Line-up. Wir sind zusammen durch Konflikte, Probleme, Erfolg und Euphorie gegangen. Auf dem siebten Album sind es immer noch die fünf Typen, die sich damals entschlossen, NEAERA zu sein. Musikalisch bündelt das Album alle typischen Trademarks unseres Sounds. Auf der neuen Platte befinden sich auch Reminiszenzen an die ersten Schritte der Band. Und zuletzt ist textlich die Metapher von Unterdrückung und Freiheit der griechischen NEAERA immer noch aktuell und wird lyrisch anhand von aktuellen Situationen verarbeitet.

Wie seid ihr sieben Jahre nach „Ours Is The Storm“ an das Songwriting herangegangen? Hat sich an eurem Prozess gegenüber früher etwas verändert?

Stefan: Es hat sich auf dem siebten Album eine ganze Menge geändert. Hatten zuvor noch Tobias, Sebastian [Heldt, Schlagzeuger] und ich die Songs im Proberaum zusammengezimmert, haben wir dieses Mal eine modernere und gängigere Variante des Songwritings benutzt. Tobias hatte superviele geile Ideen, die er dann mit der Unterstützung unseres sehr geschätzten Produzenten Tristan Hachmeister in Osnabrück erstmals zu Songs gemacht hat. Diese wurden dann vorproduziert und von uns verfeinert. Zuletzt konnte ich mir dann mittels einer soliden Vorproduktion Gedanken zur lyrischen Ausgestaltung machen, was für mich richtig geil und total erfüllend war.

Als erste Single habt ihr „Torchbearer“ ausgewählt. Wie schwierig war die Entscheidung, welcher Song euer erstes musikalisches Lebenszeichen nach knapp sieben Jahren werden sollte?

Stefan: Tatsächlich relativ einfach! Nachdem alle Vocals fertig waren, stach „Torchbearer“ hervor und erfüllte für uns alle wesentlichen Kriterien für ein erstes Lebenszeichen.

Ihr habt dazu einen schlichten Performance-Clip in der Sputnikhalle in eurer Heimatstadt Münster gedreht. Gab es auch andere Ideen?

Stefan: Diese Idee war tatsächlich unsere einzige Idee. Wir wollten kein Klimmbimm oder Schnickschnack. Ähnlich wie die Songs, der Titel des Albums oder die Promofotos sollte auch das erste Video essentiell sein und einfach unmissverständlich rüberbringen, wofür die Band steht.

An welche falschen Führer ist „False Shepherds“ gerichtet?

Stefan: An Populisten aus der rechten Ecke, Pegida und die AfD. Es wird der für uns erschreckende Rechtsruck in Deutschland und auch Europa verarbeitet, der ja auch mit einer Etablierung von moralischen Tabubrüchen einhergeht, wie zum Beispiel auch in den USA zur Zeit stark zu beobachten ist. Die falschen Hirten sind diejenigen, die einem – meist auf dem Rücken anderer – einfache Lösungen zu komplexen Problemen anbieten und dafür Beifall und Zustimmung bekommen.

„Rid The Earth Of The Human Virus“ ist ein ziemlich provokanter Titel und gibt mir das Gefühl, dass ihr nicht gerade viel Hoffnung für unsere Zukunft auf diesem Planeten hegt. Ist dem tatsächlich so? Wovon genau handelt der Song?

Stefan: Der Song arbeitet mit der zunächst einmal provokanten These, dass die Welt ohne den Menschen besser dran sei. Aber so falsch ist es ja auch leider nicht. Es ist schon hart mitanzusehen, wie der Amazonas so radikal dezimiert wird oder dass die Menge von Müll, der Verkauf von SUVs oder der Konsum von Flugreisen oder Kreuzfahrten, trotz Klima- und Umweltproblematik einfach immer mehr ansteigt.

In meinem persönlichen Umfeld erlebe ich immer wieder, dass viele Menschen die Augen davor verschließen, dass unsere Gesellschaft auf den sicheren Untergang zusteuert. Im Internet findet man solche Leute erst recht in erschreckend großen Mengen. Woran glaubst du, liegt das?

Stefan: Ich denke es liegt in der Natur der Sache beziehungsweise des Menschen. Es ist sicherlich schwierig, sich und seine Lebensweise zu ändern. Aber es ist wohl noch schwieriger, sich die Zukunft vorzustellen oder Mitgefühl mit Menschen in anderen Ländern zu haben, deren Leben leider auch wegen unserer Lebensweise schlechter und teilweise lebensbedrohlich ist und dann deswegen sein Verhalten zu ändern. Und dann gibt es sicherlich in Deutschland zusätzlich noch das Problem, dass die Angst vieler Menschen, man wolle ihnen was wegnehmen, ihnen etwas von oben aufoktroyieren oder sie manipulieren, größer ist, als die Vernunft.

Einer der Songs trägt den Titel „Lifeless“ und einer „Deathless“. Sind die beiden Tracks inhaltlich miteinander verbunden? Oder gibt es sogar einen roten Faden, der sich durch die gesamte Platte zieht?

Stefan: Den gibt es! Die Texte werden ab „Lifeless“ auf der Platte persönlich beziehungsweise beziehen sich auf das Emotionale, während alle Texte zuvor im Grunde politischer beziehungsweise sozialer Natur sind. Das passt zu dem Titel der Platte. Neaera war ja eine versklavte und später selbst befreite Frau und ist somit für uns ein globales Sinnbild für Unterdrückung und Freiheit. Die Wut über die Welt, die in „Resurrection of Wrath“ zum Ausdruck kommt, ist da programmatisch. „Lifeless“ behandelt das Thema sexueller Missbrauch aus Täterperspektive, „Deathless“ aus Opferperspektive. Die Songs dazwischen, „Eruption in Reverse“ und „Torchbearer“, sollen im Sinne der Tracklist negative Folge und Hoffnungsschimmer solcher ekelhaften Taten darstellen, haben aber eigene zentrale Themen.

Im Sommer stehen für euch einige Shows auf dem Plan. Was kommt danach für NEAERA?

Stefan: Gute Frage! Ich könnte mir gut vorstellen, dass sich da irgendjemand schon Gedanken zu gemacht hat. Aber ehrlich gesagt sind wir im Moment alle viel zu aufgeregt, als das wir weiter denken könnten.

Quelle: Stefan Keller
25.02.2020

"Irgendeiner wartet immer."

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