Angra - Cycles Of Pain

Review

Grenzdebile Pappmaché-Dinos, klischeetriefende Sci-Fi-Konzepte, inakzeptable Kriegsrhetorik, kaum hörbare Gitarren. Mit diesen Unsäglichkeiten ist der früher recht wertfreie Terminus ‘Power Metal’ in den letzten zehn, fünfzehn Jahren in Verruf geraten und es ist vermutlich allen klar, auf welche Bands hier angespielt wird. In solchen Zeiten ist man auch völlig ohne ‘Früher war alles besser!’-Schwurbelattitüde enorm dankbar für eine verlässliche Konstante wie ANGRA. Seit über 30 Jahren ziehen die begabten Brasilianer ihr eigenes Ding zwischen Power Metal, Prog und lateinamerikanischer Folklore auf zumeist höchstem Niveau durch und enttäuschen auch mit ihrem neuesten Opus “Cycles Of Pain” nicht.

ANGRA demonstrieren staubfreie Tradition

Vielmehr fühlt man sich in die selige Hochphase des Power Metal der Neunziger versetzt, als BLIND GUARDIAN, GAMMA RAY, SYMPHONY X und Co. Ihre Highlights veröffentlichten – allerdings mit einem angenehm zeitgenössischen Anstrich. Auf “Cycles Of Pain” präsentieren sich ANGRA unverkennbar als sie selbst und doch gelingt eine Vielfältigkeit, für die andere Bands ihre Seelen verkaufen würden. Zuhauf zeigen sie, was sie am besten können: Kernigen Power Metal mit rauen Gitarren, hymnischen Refrains und zahlreichen progressiven Breaks. Das wunderbare Eröffnungsdoppel “Ride Into The Storm” und “Dead Man On Display”, aber auch die Nackenbrecher “Gods Of The World” und “Generation Warriors” klingen einerseits typisch ANGRA, andererseits immer noch frisch und vergnügt.

Nun wäre es aber auch keine Platte von Rafael Bittencourt und seinen Mannen, wenn nicht hin und wieder Momente brasilianischer Folklore aufblitzen würden, wie wir es seit “Holy Land” kennen. In diesem Metier gefallen sich ANGRA auf “Cycles Of Pain” ebenfalls sehr gut. “Tides Of Change, Part II” ist beispielsweise eine perfekte Symbiose aus getragenem Prog Metal und einem geradezu radiotauglichen, aber keineswegs störendem Refrain – zudem wird im Mittelteil kurz das Samba-Intro von “Carolina IV” (von “Holy Land”) zitiert. “Vida Seca” und das ebenfalls sehr starke “Faithless Sanctuary” zeigen diese Spuren unmetallischer Einflüsse ebenfalls, wobei es schon immer beeindruckend war, wie leichtfüßig ANGRA derlei Parts in bratende Riffs übergehen lassen. Mit dem Titelsong, der latent an DREAM THEATER in den Neunzigern erinnernden Halbballade “Here In The Now” und dem Abschluss “Tears Of Blood” finden sich noch drei Songs, die das Korsett in nachvollziehbarem Maße ein bisschen auflockern – fertig ist ein hervorragendes, zehntes ANGRA-Studioalbum.

“Cycles Of Pain” zeigt ANGRA in gewohnter Klasse

Fans können hier also bedenkenlos zugreifen, denn mit “Cycles Of Pain” ist der ohnehin recht konsistenten Diskografie von ANGRA ein weiteres Highlight hinzuzufügen. Das außerirdische Niveau von Großtaten wie “Temple Of Shadows”, “Holy Land” oder auch “Rebirth” erreichen sie zwar nicht ganz, doch bietet “Cycles Of Pain” einen gelungenen Querschnitt aller bisherigen Alben, ohne eine Retro-Platte zu sein. Übrigens muss noch mal laut die Frage in den Raum geworfen werden, warum Fabio Lione seine Karriere so lange mit RHAPSODY (in welcher Inkarnation auch immer) verschwendet hat und nicht direkt nach dem Ausstieg von André Matos bei den Brasilianern eingestiegen ist. Auf “Cycles Of Pain” macht er einen hervorragenden Job, kann die gesamte Palette seiner Stimmfarben einsetzen und hört sich auch viel weniger albern an, wenn er nicht gezwungen wird, die immergleichen Phrasen von Drachen, Zwergen und Elfen hintereinander rauszupressen. Großes Kino!

27.10.2023

Redakteur | Koordination Themenplanung & Interviews

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