Atrocity
Interview mit Alexander Krull zu "Die Gottlosen Jahre"

Interview

Atrocity

ATROCITY haben es sich und ihren Fans noch nie leicht gemacht – davon zeugen die bisherigen Werke und Projektalben der Ludwigsburger, und davon zeugt der neueste Streich „Die Gottlosen Jahre“: Das ist in erster Linie ein dokumentarischer Rückblick auf siebenundzwanzig Jahre ATROCITY, der genügend Stoff zum Schwelgen in der Vergangenheit bietet. Metal.de hat fix Kontakt zu ATROCITY-Boss Alex Krull aufgenommen, der sich nicht zweimal bitten ließ, um die letzten Jahre Revue passieren zu lassen. Wir schrieben eifrig mit und stellten einige Bonusfragen, die die Dokumentation leider nicht beantwortet.

Fangen wir mal mit etwas Schönem an: Jede Menge Kollegen finden nette Worte über Dich und die Band, und Tom Angelripper adelt Dich, indem er sagt, dass Du einen eigenen Stil entwickelt hast und eine Persönlichkeit bist. Komplimente sind natürlich immer schön, aber welches bedeutet Dir besonders viel?

Das ist natürlich schwer zu beantworten. Man freut sich über alle Äußerungen, in denen Respekt bekundet wird für deine Arbeit oder was man für die Szene getan hat. Dazu muss man wissen, dass ich mein Leben komplett dem Metal verschrieben habe, und das meine ich auch so: Ich habe mit sechs angefangen, Hard Rock zu hören, da gab es noch keinen Metal, hatte mit vierzehn meine erste Band, bin später sogar wegen meiner langen Haare vom Gymnasium geflogen, was bis zum Anwalt ging. Das war für mich also schon früh eine Lebenseinstellung. Dann ging das weiter mit Tapetrading, und im Umfeld der Rockfabrik in Ludwigsburg haben wir auch selbst die Szene mit gefördert, indem wir Konzerte und Festivals veranstaltet haben. ATROCITY gibt es jetzt seit siebenundzwanzig Jahren. Und wenn es dann am Ende lobende Worte gibt, freue ich mich, klar, aber ich freue mich auch über offene und kritische Worte, sofern da der nötige Respekt mitschwingt.

Eine Frage zum Zeitpunkt der Veröffentlichung: Die Dokumentation hätte natürlich gut zum 25jährigen Jubiläum der Band gepasst – wann habt Ihr mit den Planungen für die DVD begonnen und als was habt Ihr das Package konzipiert?

Ja, das stimmt, wobei wir zum 25jährigen Jubiläum die Wacken-Show gespielt haben, die wir ja jetzt mit auf die DVD gepackt haben. Ursprünglich sollte die DVD eine Best-Of mit einer vielleicht nicht ganz so umfangreichen Dokumentation werden. Dann haben wir uns aber überlegt, dass wir das richtig angehen sollten. Wir haben eine Ausschreibung gemacht, um an altes Videomaterial zu kommen, und es gab ziemlich viel Feedback von Leuten, die mitwirken wollten – alte Musikerkollegen, Kumpels, Freunde. Irgendwie ist das dann ein immer größeres Projekt geworden, das sich mehr oder weniger verselbständigt hat und ein paar Jahre beansprucht hat. Damit angefangen haben wir 2007.

Okay…

Na ja, du musst das mal so sehen: Wir waren einerseits von der Fülle des Materials überrascht, das es von uns gibt. Es gab noch viel mehr als das, was jetzt auf der DVD zu sehen ist – wir haben sogar ganze Kapitel weglassen müssen. Andererseits musste das eingescannt oder digitalisiert werden, was natürlich ein Riesenaufwand ist. Das hat einfach seine Zeit gedauert, bis das alles fertig war.

Die Dokumentation ist sehr fokussiert auf die Musik bzw. die Alben, nicht aber auf die Musiker. Dadurch bleiben natürlich viele Fragen im Raum stehen, beispielsweise über Line-Up-Wechsel. Warum habt Ihr auf diese Aspekte von ATROCITY verzichtet?

Wir haben uns aus Zeitgründen dafür entschieden, weil die Dokumentation nicht länger als drei Stunden werden sollte – wir wollten das nicht weiter ausufern lassen. Ich finde auch im Nachhinein, dass das eine absolut richtige Entscheidung war. Ob jetzt die Besetzungswechsel oder die Labelwechsel, im Grunde genommen ist das gar nicht so interessant, und vieles wiederholt sich auch. Bei den Line-Up-Wechseln waren es eigentlich immer familiäre Gründe oder dass man sich auseinanderentwickelt hat. Auf der DVD stehen halt die musikalische Entwicklung bei ATROCITY und die Band als Ganzes im Mittelpunkt, und nicht einzelne Personen. Und diese ganzen dreckigen Rock’n’Roll-Geschichten sind bei einer Band wie MÖTLEY CRÜE auch viel interessanter (lacht). Wobei, so ganz ohne ist unsere DVD natürlich auch nicht – wir hatten Bombenanschläge, uns haben irgendwelche Sonderkommandos der Polizei auf der Autobahn aus dem Bus geholt… (lacht)

Eine Sache, die ich im ersten Moment komisch fand: Warum erzählst Du eigentlich alles auf Englisch, während beispielsweise die ganzen ex-Mitglieder auf Deutsch sprechen?

So hundertprozentig genau kann ich das nicht sagen. Uns war es wichtig, dass die DVD international veröffentlicht werden kann. Und wir hatten seinerzeit mit LEAVES‘ EYES eine DVD gemacht, die komplett in Englisch war, weswegen wir es schon gewohnt waren, alles auf Englisch vorzutragen. Außerdem hatten wir bei ATROCITY natürlich englische und deutsche Texte gekreuzt, weswegen das vielleicht nicht ganz ungewöhnlich ist, dass wir das bei der DVD auch so machen. Und zuletzt hatten wir es den Bandmitgliedern und Interviewpartnern freigestellt, in welcher Sprache sie ihre Antworten geben, und die meisten von ihnen haben sich dann für ihre Muttersprache entschieden.

Wenn Ihr probt, was sprecht Ihr eigentlich? Deutsch, Englisch, Niederländisch?

Das ist momentan oder schon seit ein paar Jahren nicht so ganz einfach, wie auch bei unserer Zweitband LEAVES’ EYES. Liv spricht ja perfekt Deutsch, aber seit der Zeit mit LEAVES‘ EYES hatten wir ja immer wieder Bandmitglieder aus dem Ausland, und so lange die aus Österreich kamen, ging’s ja (lacht). Nein, im ernst: Mittlerweile haben wir ja drei Bandmitglieder aus Holland, weswegen wir teilweise Deutsch, teilweise Englisch sprechen. Joris (Nijenhuis, Drums; Anm. Red.) und JB (van der Waal, Bass, Anm. Red.) verstehen zwar Deutsch, aber wir sprechen Englisch miteinander. Sander (van der Meer, Gitarre; Anm. Red.) hat früher schon in Deutschland gewohnt und spricht perfekt Deutsch.

In der Dokumentation erzählst Du, dass früher das Haus Deiner Eltern häufig auch Herberge für befreundete Musiker war. Wie muss man sich diese Szenerie vorstellen?

Das war Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger, bevor ich bei meinen Eltern ausgezogen war. Wir hatten ständig Freunde aus anderen Bands zu Besuch, und wenn Bands wie NAPALM DEATH in Deutschland auf Tour waren, sind die bei uns zu Hause vorbeigekommen. Und dann habe ich auch selbst Tourneen veranstaltet, wo die Bands bei mir daheim gepennt haben. Natürlich auch die Schwedenbands ENTOMBED oder DISMEMBER… gerade DISMEMBER sind ja auch mal auf Tour gestrandet und haben dann eine ganze Woche bei mir gewohnt. Oder SINISTER, als sie ihre Platte („Cross The Styx“, 1992; Anm. Red.) hier aufgenommen haben.

Wie standen Deine Eltern dem gegenüber, und wie muss man sie sich vorstellen?

Meine Eltern sind eigentlich eher konservativ, haben aber andererseits eine liberale Ader und sich immer sehr tolerant verhalten (lacht). In meinen Teenagerzeiten haben sich Freunde aus der Metalszene und auch Grufties, wie sich damals die Gothics noch nannten, bei mir zu Hause getroffen, und dann waren wir dort zig Leute, manchmal mehr, manchmal weniger. Und wenn Bands bei mir vorbeigeschaut haben – vier, fünf Nasen sind das immer (lacht). Neulich habe ich Mike Amott getroffen, der hat auch direkt nach meinen Eltern gefragt (lacht). Der kam nach der CARCASS-Tour mit seiner damaligen Freundin einfach mal zwei Wochen auf Urlaub zu mir.

Andersherum war es aber auch so: Wenn wir unterwegs waren, waren wir bei anderen Musikern daheim. Als wir die „Hallucinations“ in Florida aufgenommen hatten, waren wir auch mal bei David Vincent zu Hause auf Besuch, und die ganzen Bands von OBITUARY bis hin zu DEICIDE kamen zu uns ins Studio oder ins Hotel. Und Mike von NOCTURNUS hat uns durch die Gegend gefahren.

Sind Deine Eltern auch zu Euren Konzerten gekommen?

Mein Vater war letztes Jahr das allererste Mal bei uns auf einem Konzert. Er war seinerzeit mit CARCASS in den Weinbergen und hat denen unsere schwäbische Idylle gezeigt. Dabei kann er kein Englisch, aber sie haben sich dann eben mit Händen und Füßen verständigt. Meine Mutter wiederum war schon früher bei uns auf Konzerten. Das war auf der Tour mit Yasmin, da konnte sie nicht mehr nein sagen. Aber die Musik findet sie schrecklich, ausgenommen vielleicht die akustischen Sachen. Als sie aber das Cover von „Die Gottlosen Jahre“ gesehen hat, war sie schockiert.

Bruno Kramm erzählt, dass ihm ein Fan nach „Die Liebe“ seine ganzen DAS-ICH-Plattensammlung zugeschickt hatte, weil der so enttäuscht gewesen war. Ist Euch jemals etwas ähnliches passiert?

Ich finde das ziemlich hart und weiß nicht, was das soll. Wenn sich eine Band mit einer anderen Band zusammentut und sie ein Projektalbum zusammen machen, dann geht ja davon die Welt nicht unter. Wir haben eher andere Sachen erlebt: Bei dem ersten „Support The Underground“-Festival 1989 habe ich mal auf der Bühne ein Hakenkreuz zerschlagen, weil ich das Gefühl hatte, dass sich unter den Fans auch Leute mit einer fragwürdigen Einstellung befinden. Und dann haben ein paar dieser Typen unsere Single verbrannt, Bilder von uns durchschossen oder unsere Patches von ihren Kutten abgerissen… Da wusste ich aber, dass wir genau richtig gehandelt haben.

Andererseits gab es im Zug unserer musikalischen Abenteuer oder Eskapaden (lacht) auch Leute, die gesagt haben, dass sie nur mit unseren Death-Metal-Sachen etwas anfangen können und nicht mit unseren Projekten. Damit habe ich überhaupt kein Problem, denn dann finden die Leute ja immerhin eine Seite der Band gut. Wir haben uns ja nie von irgendwas abgewendet oder gesagt, dass wir nichts mehr mit harter und brutaler Musik mehr zu tun haben wollen: Auf „Atlantis“ gibt es ja auch schnelle und brutale Stücke, wie zum Beispiel “Reich of Phenomena”.

Sonst war aber der grundlegende Tenor der Fans uns gegenüber immer positiv, selbst wenn der Presse unsere Alben nicht gefallen haben. Im Rückblick haben wir die Sachen immer so gemacht, wie wir sie machen wollten, und deshalb sind sie auch authentisch. Außerdem sind wir dadurch in der Lage, alles machen zu können. Glaub mir, ich habe das schon oft von Musikerkollegen gehört: „Ihr könnt so verschiedene Sachen machen und veröffentlichen, aber wenn wir das mit unserer Band machen würden, dann würden alle Fans wegrennen.“

Ich habe noch ein paar Bonusfragen, die beim Durchsehen von „Die Gottlosen Jahre“ auf der Hand liegen: Wann hast Du den Plan über Bord geworfen, Cindy Crawford zu heiraten?

(lacht) Ich glaube, dieser Ausschnitt entstand irgendwann morgens um vier. Schön, dass der auch auf der DVD gelandet ist. Aber Cindy Crawford war seinerzeit schon ganz… und ist eigentlich immer noch ganz lecker, oder? (lacht)

Deine Nasenring-Ohrring-Ketten-Kombi Mitte der Neunziger war schon ziemlich cool. Trägst Du die heute noch?

Nein, die trage ich nicht mehr. Das war damals okay, habe diese Kombination aber eigentlich nur für das Video angezogen und vielleicht ein paarmal so. Seinerzeit waren einige Leute ernsthaft schockiert, dass ich einen Schmuck trage, der angeblich eine gewisse Erniedrigung für den Menschen darstellt, wenn er wie ein Ochse rumläuft. Das fand ich witzig. Heutzutage interessiert das aber keine Sau mehr.

Ihr hattet mit der deutschen und der französischen Polizei (ungewollt) Probleme. Jetzt mal Hand auf’s Herz: Wenn Ihr noch mal von militanten Tierschützern angegriffen werdet, von welchen Beamten möchtet Ihr lieber geschützt werden?

Das ist eine berechtigte Frage (lacht). Bei der Sache mit den militanten Tierschützern in England, die ja trotz eines Polizeiaufgebots eine Bombe in die Halle schmuggeln konnten, hatten wir schon ein mulmiges Gefühl. Wir haben die Tour mit DEICIDE damals ja bis zum Ende durchgezogen, wenn auch mit vier Securitys um uns herum und Geheimhotels. Andererseits hätte jederzeit etwas passieren können, und es wäre die Sache nicht wert gewesen, wenn jemand ernsthaft verletzt worden wäre.

Bei der Sache mit dem deutschen Staatsschutz, der uns auf der Autobahn aus dem Bus geholt hat, mit Hubschraubern über unserem Bus, haben wir anfangs auch noch gelacht. Aber als wir unsere Wummen aus dem Bus geholt haben und sie den Beamten präsentierten, hatte ich ganz schnell einen Pistolenlauf am Hals. Das war natürlich unbedacht von uns, das konnten die Polizisten nicht wissen. Ganz anders die Sache in Paris, da waren wir völlig unschuldig. Aber wir haben uns von Obrigkeiten nicht immer alles gefallen lassen.

Es war einfach eine andere Zeit damals. Wir wollten beispielsweise in Augsburg eine Releaseparty zur „Todessehnsucht“ veranstalten und hatten das Event entsprechend plakatiert. Abends kam das Jugendamt an und wollte alles absagen, weil sie dachten, wir würden zum kollektiven Massenselbstmord aufrufen. (lacht) Dann habe ich sie gefragt, was sie wegen der anderen Titel, die da auf dem Plakat stehen, machen wollen: „Reign In Blood“ – ersaufen jetzt alle in Blut? Aber das haben sie wahrscheinlich auch nicht verstanden, weil es auf Englisch war.

Welches der Ex-Mitglieder hat heute den langweiligsten oder kuriosesten Job?

Das kann ich gar nicht für alle sagen, aber was ganz lustig ist: Richard Scharf, unser Gitarrist bis Mitte der Neunziger, hatte seinerzeit tatsächlich seine Gitarre an den Nagel gehängt – er habe musikalisch alles gesagt, was er sagen wollte. Er ist dann Kameramann geworden und hat uns 1998, als wir im Vorprogramm eines Bundesligaspiels des VfB Stuttgart aufgetreten waren, im Stadion für’s Fernsehen gefilmt. Kurioser Zufall (lacht).

In den letzten Jahren gab es eher wenige reguläre ATROCITY-Alben, jetzt soll es gleich eine Trilogie geben. Worum geht es da, und wann soll sie fertig werden?

Diese Trilogie mit dem Titel „Okkult“ bereiten wir schon sehr lange vor und wird auch ein etwas längerfristiges Projekt. Nicht dass andere nicht auch schon Alben-Trilogien gemacht haben, aber um die eigentlichen Alben wird es ein Konzept geben, das so noch niemand gemacht hat – schon gar nicht im Metal. Was das ist, kann ich aber noch nicht verraten. Was ich aber sagen kann, ist, dass wir derzeit an vierzig bis fünfzig Songs arbeiten und mit den Aufnahmen bereits begonnen haben. Wir wollen die Aufnahmen bis zum Sommer fertig haben, damit der erste Teil noch 2012 erscheinen kann. Wenn also die Erde dieses Jahr untergeht, können wir immerhin „Okkult 1“ als Soundtrack zum Weltuntergang anbieten (lacht). Musikalisch wird es ein richtig heftiges, episches Metalalbum werden! Nicht eins zu eins „wie in den goldenen Techno Death-Metal-Tagen“, wie das mancher gerne sehen würden, aber keine Bange, es sind definitiv einige brutale, aber auch düstere und bombastische Sachen dabei, und zum Teil geht es noch mehr in die Fresse als je zuvor. Mit unseren neuen Mitstreitern haben wir auch Musiker am Start, denen es nicht heftig genug sein kann. Und wir werden uns definitiv nicht wiederholen.

Was hat es mit dem Film „Dreath“ auf sich, bei dem Du und die anderen Jungs von ATROCITY mitwirkt?

Das ist ein Filmprojekt, das noch in der Entstehungsphase ist und dessen erster Teil die auf der DVD gezeigte Sidestory ist. Ich wurde gefragt, ob ich darin einen Part übernehmen möchte, genauso wie andere Metalmusiker auch, wie beispielsweise Ralf Scheepers von PRIMAL FEAR. Der Film hat eine ziemlich abgefahrene Story, eine Mischung aus brutalem, epischem Fantasy-Stoff und Metalmusik. Das Script sah schon super aus. Ein bisschen ähnelt das Projekt dem von „Iron Sky“, das anfangs auch nur als Idee existierte, zu der man dann Trailer angefertigt hat, bevor dann der eigentliche Film abgedreht wurde. Auf jeden Fall waren die Dreharbeiten cool: Ich musste Ralf umschießen – ich glaube, er ist von mir dreißig oder vierzigmal am Boden umgemetzelt worden. Also, ich fand’s geil (lacht).

Ein gelungenes Schlusswort, und zum Abschluss noch ein Hinweis zur gelungenen DVD „Die Gottlosen Jahre“: Die Dokumentation soll beim kommenden Wacken Open Air zumindest in Teilen gezeigt werden.

02.05.2012

- Dreaming in Red -

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