Lost Society
Modern-Metal-Therapie

Interview

LOST SOCIETY stehen niemals still. „No Absolution“ war für manchen Old-School-Thrash-Fan schon schwer zu schlucken. Doch das neue Album, „If The Sky Came Down“ kommt einem Schlag ins Gesicht all jener gleich, die sich von den Finnen musikalischen Stillstand wünschen. Modern-Metal-Riffs treffen auf elektronische Samples, Klargesang kommt in beinahe jedem Song zum Einsatz und statt Partylaune und eine Dicke-Hose-Attitüde zu propagieren, setzt sich Frontmann Samy Elbanna in den Texten mit Depressionen, Suchtverhalten und anderen dunklen Seiten des Lebens auseinander. Da herrscht Redebedarf, weswegen wir den rundum sympathischen Kreativling zum ausführlichen Gespräch baten.

Labelwechsel ohne Drama

Hey Samy, heute wollen wir über die neue LOST SOCIETY-Platte sprechen, „If The Sky Came Down“. Nachdem eure ersten drei Alben über Nuclear Blast erschienen, habt ihr „No Absolution“ ohne sie gemacht. Jetzt seid ihr zurück. Was ist da passiert?

Es war eine recht natürliche Entwicklung. Als wir das erste Album aufgenommen haben, hatte sich bei uns jede Menge Musik angestaut. Für das zweite Album sind wir nach einigen ausgedehnten Touren schnell wieder ins Studio gegangen und das dritte kam danach ebenfalls recht zügig. Um ehrlich zu sein, hatten wir nach diesen drei Alben das Gefühl, uns mehr Zeit nehmen zu wollen, um Musik zu schreiben und genau auszuarbeiten, was wir aussagen wollen und wo wir mit der Band hinwollen. Das Label hat direkt verstanden, dass wir Zeit brauchten, um uns weiterzuentwickeln. Ich bin sehr dankbar dafür, dass uns die dafür nötige Zeit einräumten. Wir brauchten vier oder fünf Jahre, um „No Absolution“ zu schreiben. Für das Album konnten wir leider nicht touren, aber danach haben wir uns mit Nuclear Blast wieder zusammengefunden. Es arbeiten einige neue Leute da und sie hatten sofort ein Verständnis dafür, wo wir hinwollen. Auf der einen Seite fühl es sich an, als wären wir nie weggewesen und trotzdem fühlt es sich frisch an. Anders als manche vielleicht denken, gab es da kein Drama.

„Man merkt es, wenn Bands krampfhaft versuchen, einer bestimmten Gruppe von Menschen zu gefallen.“

Du sprichst die Entwicklung von LOST SOCIETY bereits an. „If The Sky Came Down“ schlägt eine ganz andere Richtung ein als eure bisherigen Alben. „No Absolution“ ging auch schon in eine andere Richtung als die ersten drei Alben, aber diesmal setzt ihr noch mehr auf moderne Sounds. Wieso habt ihr eure musikalische Richtung so verändert? Die ersten beiden Alben waren sich recht ähnlich. „Braindead“ hatte zum ersten Mal auch langsame Songs. „No Absolution“ war dann eine echte Überraschung und „If The Sky Came Down“ ist ebenfalls eine.

Das trifft es sehr gut. Die ersten beiden Alben stellen eine Art Ära dar. Dann kam das dritte Album, das vierte und jetzt das fünfte. Unsere musikalischen Wurzeln liegen ganz klar bei IRON MAIDEN, CHILDREN OF BODOM, SLIPKNOT und solchen Bands. Das wird immer ein großer Teil von uns sein. Aber wir lieben Musik als Ganzes und denken nicht in Schubladen. Wir hatten das Gefühl, wir würden uns selbst belügen, wenn wir nicht all unsere persönlichen Einflüsse in unsere Musik fließen lassen. In der Ära von „Fast Loud Death“ und „Terror Hungry“ haben wir viel VIO-LENCE oder alte METALLICA gehört. Deswegen kam diese Musik auf natürliche Weise aus uns heraus, wenn wir die Gitarren in die Hand nahmen. Auf „Braindead“ und den folgenden Alben hatten wir immer weniger das Gefühl, daran gefesselt zu sein, nur um eine bestimmte Schicht von Fans zu bedienen. Im Metal gibt es ein Paradoxon. Ich liebe Metal und Punk, wegen der Idee, man könne machen, was man will. Doch wenn man das wirklich tut, erzählen einem plötzlich alle, das sei nicht erlaubt oder man dürfe bestimmte Musik nicht hören. Dazu sagen wir: Warum nicht? Ein Album ist eine Art Tagebuch über die Zeit in deinem Leben, in dem es entstanden ist. Mit „Braindead“ und „No Absolution“ haben wir für uns selbst festgestellt, wie viel Musik wir lieben und dass wir das in unseren Sound einbringen können. Mit „If The Sky Came Down“ haben wir beschlossen, unseren Stil so weit wie möglich aufzustellen. Wir sagen „Fuck you“ zu allen, die meinen, das ginge nicht. Deswegen nehmen die Fans es so gut. Also versteh mich nicht falsch, natürlich gibt es die Leute, die enttäuscht sind oder so. Aber man kann eben keine Musik schreiben, die allen gefällt und das sollte man nie anstreben. Doch dass sich so viele Leute von den neuen Songs angesprochen fühlen, liegt daran, dass sie auf natürlich Weise entstanden sind. Wir springen nicht mit jedem Album auf einen Trend auf. Ich denke, man merkt es, wenn Bands krampfhaft versuchen, einer bestimmten Gruppe von Menschen zu gefallen.

LOST SOCIETY lösen extreme Gefühle aus

Wie du schon erwähnt hast, gibt es immer die Leute, die meinen, man dürfe dieses oder jenes nicht machen, weil man in der Vergangenheit etwas anderes getan hat. Wie sehr verfolgst du solche Konversationen online? Es gab auf Social Media einige stark negative Reaktionen auf die neuen LOST SOCIETY-Songs.

Ehrlich gesagt liebe ich es, dass es bei diesem Album entweder heißt „Ich liebe euch“ oder „Ich hasse euch“. Wenn deine Kunst so kraftvolle Gefühle in beide Richtungen auslöst, machst du auf jeden Fall etwas richtig. Ich habe so etwas noch nie persönlich genommen, schließlich habe ich auch zu vielem meine eigene Meinung. Es ist jedes Menschen Recht, zu sagen, wenn ihnen etwas gefällt oder nicht gefällt. Ich hoffe nur, dass alle sich die Zeit nehmen, ihre eigene Meinung zu formen, indem sie das Album hören und sich nicht vorher schon durch andere Menschen in ihrer Wahrnehmung beeinflussen lassen. Also nicht nach dem Motto „Hör dir das an, aber behalte im Hinterkopf, dass die Band früher so und so klang.“ Dann geht man schon mit einem vorgefertigten Bild an das Album heran. Ich hoffe, alle sind selbstständig genug, um sich ihre eigene Meinung zu bilden, bevor sie sich die Kommentare anderer durchlesen.

Wie nimmst du aus heutiger Sicht eure ersten beiden Alben wahr, jetzt, nachdem ihr eine vollkommen andere musikalische Richtung eingeschlagen habt? Passen sie noch zu euch? Ich habe zum Beispiel mehrere Setlists gecheckt, die ihr dieses Jahr gespielt habt und fand darin nichts von den ersten beiden Alben.

Ich denke, das ist ein sehr natürlicher Prozess. Wären diese beiden Alben nicht so, wie sie sind, wären wir jetzt nicht hier. Ich sehe das nicht im Sinne, dass wir uns verändert haben, sondern dass wir erwachsen geworden sind und uns als Menschen weiterentwickelt haben. Du kannst dich vor deiner Vergangenheit nicht verstecken. Deine Entscheidungen im Leben machen aus dir die Person, die du heute bist. Dem kannst du nicht entkommen. Du kannst nur versuchen, es anzunehmen. Wenn es um Setlists oder ähnliches geht, können wir gerade bei 40 oder 45 Minuten nicht alle zufriedenstellen. So ist das im Leben. Wenn wir solche kurzen Sets spielen, passt ein Song über Party und Biertrinken nicht zwischen zwei Tracks über schwierige persönliche Themen. Viele Fans werden uns unterstellen, wir würden die Vergangenheit ignorieren. Aber so ist das nicht.

LOST SOCIETY verarbeiten persönliche Erfahrungen

Die vergangenen zwei Jahre hatten einen großen Einfluss auf das Album. Beim Lesen der Texte hatte ich das Gefühl, dass sie sehr stark von persönlichen Erfahrungen aus dieser Zeit halten. Mentale Gesundheit erscheint mir ein wiederkehrendes Thema auf „If The Sky Came Down“ zu sein. Ist das korrekt?

Absolut. Das gesamte Album ist das persönlichste Album, an dem ich je beteiligt war, aufgrund meiner Erfahrungen in den vergangenen zwei Jahren. Die Pandemie spielte dabei keine so große Rolle. Aber plötzlich brach mein ganzes Leben über mir zusammen. Ich befand mich in einem Ort, an dem ich nie gedacht hätte zu landen. Ich hatte mir vorgenommen, als letzten Akt in meinem Leben ein Album zu schreiben, dass als Abschied an alle Menschen aus meinem Umfeld fungiert. Jetzt ist es nur noch einen Monat bis zur Veröffentlichung und für mich ist es verrückt, dass ein Album mit einem so tragischen und düsteren Hintergrund mein Leben gerettet hat. Während des Schreibens und der Aufnahme des Albums habe ich den Funken im mir wiedergefunden, der zuvor komplett verschwunden war. Mentale Gesundheit ist definitiv ein großer Teil des Albums. Und es ist großartig zu sehen, wie viele Leute uns schon nach den ersten drei Singles geschrieben haben, wie sehr sie sich in den Songs und den Lyrics wiederfinden. Ich fing an, Musik zu schreiben, weil ich es großartig fand, wie sehr sich Leute mit Musik verbunden fühlen können, die jemand anderes geschrieben hat. Dass ich das jetzt für andere Menschen machen kann, ist für mich das Beste überhaupt. Das gibt mir einen Grund, auf dieser Welt zu sein.

Wie hast du dich bei dem Gedanken gefühlt, dass Menschen weltweit so viel Persönliches über dich erfahren werden, bevor die erste Single aus dem Album erschien? Hattest du Angst davor, so viel von dir preiszugeben?

Das Verrückte ist, während wir an dem Album gearbeitet haben, habe ich nie darüber nachgedacht, dass sich negative Reaktionen schlimmer anfühlen könnten, wenn die Songs so einen persönlichen Hintergrund haben. Aber jetzt habe ich das Gefühl, dass das einfach ein therapeutischer Prozess war. Wenn man seine persönlichen Gefühle in seine Kunst fließen lässt, erreicht man das höchste Level als Künstler. Ich habe das Gefühl, die vergangene zwölf Jahre dafür geübt zu haben. Würde ich diese Gefühle nicht einbringen, wäre das nicht ehrlich. Es ist verrückt, dass ich mir über mögliche Reaktionen keine Gedanken gemacht habe. Rückblickend wird mir klar, wie furchteinflößend das sonst hätte sein können. Aber nach den vergangenen zwei Jahren bin ich mir sicher, dass nichts passieren kann, was mich noch mehr runterzieht als diese harte Zeit.

Foto: Sam Jamsen

04.10.2022

"Irgendeiner wartet immer."

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