Whitechapel
Von Selbstfindung und der Sache mit dem Cleangesang

Interview

Als Überraschung kann man „The Valley“ allemal bezeichnen, denn WHITECHAPELs neue Scheibe und der damit einhergehende neue Sound erwecken das Gefühl, dass es nach all den Jahren genau so kommen sollte und vielleicht auch um der Band Willen musste. Vorbei sind die Zeiten des allzu düsteren und aussichtslosen Deathcores und wo in den vergangenen Jahren Konsequenz, stellenweise jedoch auch Vorhersehbarkeit Platz hielten, treten nun Vielseitigkeit, Experimentierfreude und nicht zuletzt noch mehr bzw. andere Emotionen in den Vordergrund.

Doch ein paar Fragen kommen auf: Wie hat sich dieser neue Sound entwickelt? War der Band selbst klar, dass sie sich mit „The Valley“ scheinbar neu erfindet? Frontmann Phil beantwortet diese und weitere Fragen.

„Die Musiker der Band schreiben die Musik und ich packe lediglich die Texte dazu.“ Der Schaffensprozess lief dabei laut eigener Aussage wie immer und dass die Truppe ein über die Jahre eingespieltes Team ist, ist ab der ersten Minute spür- und hörbar. Aber „The Valley“ ist nicht nur abwechslungsreicher, ausgeglichener und persönlicher, weiteres Thema sind auch die beiden ersten Worte, die bei einem Gespräch über das Album zuallererst fallen müssen: „Cleangesang“ und „mutig“. Neben Experimentierfreudigkeit, neuen Einflüssen und absichtlichem Überschreiten bisher bekannter „Grenzen“ ist das in diesem Genre ein bekanntermaßen heikles Thema (SUICIDE SILENCE, anyone?!) und der nächste Shitstorm nicht weit. Ist man da nicht nervös, wie die Welt auf so eine Veränderung reagiert? Hat das mit Mut zu tun? „Nein, wir schreiben einfach die Musik, die uns gefällt und machen uns keine Sorgen über Kritik. Wenn es Leuten gefällt, ist das für uns nur ein zusätzlicher Bonus.“ Nun gut. Das mag allen voran auch daran liegen, dass die einstigen Knoxvill’schen Jungs mit tellergroßen Plugs inzwischen „alte (und erfolgreiche) Hasen“ im Business sind, aber der Weg vom Newcomer zum Influenzer für den Deathcore ist sicherlich nicht mit Unsicherheit oder Ängsten hinter sich zu bringen. Nach all der Arbeit an sich und ihrer Musik sind sie dabei verständlicherweise nicht nur stolz auf sich, sondern wissen auch um ihre Stärken.

„The Valley“ – Based on true events by WHITECHAPEL

„Was das Thema anbelangt, hatte ich schon in der Vergangenheit den Wunsch, es umzusetzen, aber diesmal hat sich die Musik einfach angefühlt, als wäre sie genau richtig.“ Und damit wären wir schon beim nächsten Stichwort: Der lyrische Inhalt des Albums basiert auf wahren Gegebenheiten. Die Kindheit und Erlebnisse von Phil Bozeman waren schon seit jeher Leitthema von WHITECHAPEL, aber ein derart öffentlicher Seelenstriptease kommt unerwartet. Die Texte erzählen unter anderem von seiner Beziehung und der dissoziativen Störung seiner Mutter, nachdem sein Vater verstarb, als auch von den Problemen und Konflikten mit seinem Stiefvater und den daraus resultierenden Aggressionen, Gedanken und teilweise auch Wunschvorstellungen. Dabei richtete Phil sich vor Veröffentlichung besonders über seinen Instagram-Account direkt an die Fans und bei den Erzählungen über diese verstörende Kindheit, nicht zuletzt beim Blick in die Tagebücher seiner Mutter und ihren diversen gespaltenen Persönlichkeiten, dürfte es den Zuschauern den einen oder anderen kalte Schauer über den Rücken gejagt haben. Viele Fans bewundern diese Veränderung offenkundig, Phil selbst erscheint extrovertierter, als je zuvor – zumindest auf seinem Instagram-Channel und bei seinen Texten und Hunden, jedoch nicht unbedingt bei diesem Interview. Passend zum vermeintlichen Herzen des Albums wurden wegen ihrem Anteil der Geschichte und der Möglichkeit der künstlerischen Darstellung auch die Songs „When A Demon Defiles A Witch“ und „Hickory Creek“ als bewegende und nachdenkliche Videos umgesetzt.

Was macht „The Valley“ aus – die Musik oder die Texte?

Zwei weitere große Punkte kommen beim Anhören und „Verstehen“ sofort in den Sinn: Wie geht der Rest der Band mit diesen starken Erinnerungen oder Gefühlen um? Die Marke WHITECHAPEL ist keine One-Man-Show und ein Interview über „The Valley“ ohne Fragen über den lyrischen Inhalt oder auf der anderen Seite der (für die Band) neuen Stilmittel scheinen schlichtweg unmöglich. Gerät bei dieser Dominanz des Inhalts die Musik und auch das Altbekannte, was Fans sicherlich erwarten und auch erhoffen nicht irgendwie in Vergessenheit? Diese Fragen sind je nach Betrachtungsweise sicherlich etwas unangenehm, aber auch hier zeichnet sich die langjährige Zusammenarbeit und auch tiefe Freundschaft zwischen den Bandmitgliedern abermals ab: Jeder weiß genau, worauf er sich einlässt, nimmt Bezug zu seinem Teil der Songs, aber Jeder lässt dem Anderen seinen Freiraum und so lebt das Ganze von ganz allein. Und es funktioniert. „Ich denke die Musik ist für uns alle das, was es schon immer war – nur eben weiterentwickelt.“

Doch macht diese Offenlegung persönlicher Details nicht auf irgendeine Art angreifbar? Ist dieses Album eine Art der Verarbeitung der Vergangenheit, um damit abzuschließen? Und wie mag es sich wohl anfühlen, solche Songs live zu spielen – immer und immer wieder? „Es ist für mich inzwischen sehr einfach über all das zu sprechen, weil es fast schon 20 Jahre her ist. Natürlich habe ich diesbezüglich vielleicht den größten Bezug zu den Songs, bzw. deren Inhalt, jedoch beeinflusst mich das keineswegs negativ.“ Dabei scheint es, als haben sich WHITECHAPEL nicht nur in musikalischer Hinsicht und als Band weiterentwickelt: „Ich habe schon immer offen über meine Vergangenheit gesprochen, unabhängig davon, ob es dabei um Musik oder einfach normale Gespräche ging. Ich bin glücklich mit mir selbst und schäme mich für nichts.“ Passender hätte man das Gefühl zum Album nicht in Worte packen können.

Quelle: Interview mit Phil Bozeman
07.05.2019

The world is indeed comic, but the joke is on mankind.

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