Agalloch - Marrow Of The Spirit

Review

AGALLOCH aus den USA gehören eigenartigerweise seit Jahren zu den Kultbands innerhalb des Black Metal-Genre. Ob sie nun eher im Naturmusikalischen wildern, sich Klassikzitaten bedienen oder harscher Black Metal melancholische Urständ feiert, immer wurde kollektiv gejubelt seitens der sich gern philosophisch gerierenden Anhängerschar. Interessant war in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass AGALLOCH gern von Leuten gehört werden, welche auch NICK CAVE, CASH oder TOM WAITS zu ihren Favoriten zählen oder musikalische Mathematik der Sorte BJÖRK, PORTISHEAD oder NEUROSIS. Mir Philister gefielen die Alben von AGALLOCH auch, allerdings ganz konnte sich deren Magie mir nicht erschließen. „Marrow Of The Spirit“ nun, das neue Album, eröffnet (erwartungsgemäß) mit Naturgeräuschen; Bachrauschen wird von Celloklängen kontrastiert („They Escaped The Weight Of Darkness“).

Weit harscher als zuletzt tönt dann schwarzmetallisch und zugleich postrockig schiefes Riffing: „Into The Painted Grey“ entführt in „The Olden Domain“, das umtriebige Norwegen der Frühneunziger muss dem Hörer die Sinne vernebeln. Das mit einem Klasse-Groove ausgestattete Break lehrt den Lauschenden im eigenen Wohnzimmer das Fürchten. Der Überlängesong bleibt obskur, die Gefahr vage, die Spannung unheilvoll. Die schrägen Leads erinnern mich an französischen Black Metal, dort mäandern helle Töne auch gerne über die Tonleiter hinaus, eine jenseitige Freiheit suchend. Ich muss gestehen, dass mir der komplexe, dennoch für AGALLOCH-Verhältnisse überraschend stringent komponierte Eröffnungstrack nach fünfmaligem Hören viel besser gefällt als anfangs. Akustisch schwebend beginnt „The Watcher’s Monolith“, um sodann in melodischen, sehr melancholischen Schwarzmetall auszuufern. Es wird geflüstert, kehlig gefaucht, die Akustische klingt heavier als die Elektrische, Klargesänge aus unbekannter Richtung verführen.

Auf jeden Fall sind AGALLOCH drohender, härter, garstiger als zuletzt, behalten jedoch ihre Klasse bei, wenn es darum geht, eine Atmosphäre herbstlicher Einsamkeit, die traurige Weite entlaubter Wälder oder die erste Ahnung des aufziehenden Winters als Hörbilder entstehen zu lasen. Schmerzliche Erinnerungen dann in „Black Lake Nidstang“: Immer wieder bricht sich die Natur Bahn, monoton, dennoch voll karstiger Schönheit. Ein Geräusch, kaum zu ertragen, urbanen Ursprungs (Sägewerk?) erinnert daran, dass AGALLOCH immer auch der Gegenwart verhaftet sind. Postrockige Elemente durchziehen jeden Song. Hier tönen plötzlich Zauberblumen des Mittelmeers, PACO DE LUCIA spielt versonnen, die Elektrische deutet Qualen an, Konflikte, Zerrissenheit. AGALLOCH zelebrieren ihre Musik, halten die Balance zwischen den Enden der Parabel. Okkult tönt der Flüstergesang, harsch ist der Sound: wo OPETH versuchen, möglichst sauber, glatt, fein produziert die Einsamkeit abzubilden, versuchen sich AGALLOCH am Schwarz-Weiß-Foto: sie verbleiben im rauen, scharfkantigen Bereich, die Zwischentöne lassen Farben erahnen, es kommt auf Kontraste an. Verzweifelt der Aufschrei des Individuums am schwarzen See, unheilvoll die Geräuschkulisse, welch sich unaufhaltsam vorwärts schiebt. AGALLOCH haben etwas übrig für PINK FLOYD-Klangcollagen, das ist klar.

„Ghosts Of The Midwinter Fires“ mutiert nach einigen Ausflügen in die kurz golden schimmernde Erntezeit zu einem mit unendlich traurigem Chorus ausgestatteten Midtempo-Black Metal-Song voll farbenreicher, hintergründig-folkloristischer Instrumentalparts. Farbenreich? Jawohl, denn AGALLOCH verbleiben keineswegs im Grau der Unentschiedenheit. Der plötzlich anschwellend-schwebende Sirenton erinnert uns traumatisch an das vorhin beschriebene Sägewerk. Der Anteil der blackmetallischen Vocals hat wieder zugenommen, andererseits zeigen AGALLOCH Experimentierfreude. Im letzten Track „To Drown“ lassen es die US-Amerikaner beinahe instrumental ausklingen, erneut mit diesem seltsam zerrissenen Akkord, welcher von akustischen Strukturen, einsamer Klassik, monotonen Drumbeats, beinahe industriell anmutenden Soundcollagen und abschließendem Meeresrauschen besänftigt wird. Leise Flüsterpassagen bilden hier nur den Hintergrund für dieses seltsame Grundmotiv, welches sich schneidend durch die Lieder von „Marrow Of The Spirit“ zieht.

AGALLOCH sind interessanter geworden, haben die unterschiedlichen Facetten ihres Schaffens m. E. besser zusammengeführt als zuletzt. Die aufgebotenen Stile sind verwoben, stehen nicht für sich, ergeben ein Ganzes. Diese Veröffentlichung lädt ein, zuzuhören, sich auf den Fluss des Geschehens einzulassen. Es ist eine wirklich gute CD geworden; nun zähle ich mich auch zu den Anhängern der Band.

16.11.2010
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