Dimmu Borgir - Abrahadabra

Review

Jetzt darf ich’s ja sagen: ich kenne das neue DIMMU BORGIR-Album schon seit ein paar Monaten. Manchmal haben „technische Schwierigkeiten“, gerade bei digitalen Bemusterungssystemen, auch ihren Vorteil – in diesem Fall profitieren gleich zwei Parteien davon. DIMMU BORGIR, weil „Abrahadabra“ bei mir wirklich Langzeitwirkung entfalten konnte und auch entfaltet hat, und unsere werten Leser vom ersten vollständigen Review weltweit (?) zu dieser wie die Kronjuwelen gehüteten Platte.

Und wie ist sie nun? Sind die beiden vorab zugänglichen Songs, „Gateways“ und „Born Treacherous“, symptomatisch für das Album? Die Antworten: überraschend gut und jein.

„Born Treacherous“ ist nach dem üblichen orchestralen Intro (dem gelungen düster ausgefallenen „Xibir“) zwar ein packender Song, aber doch 100% DIMMU BORGIR, und das mit voller Absicht und bewusst eingesetzt. Einfache, aber dynamische Riffgrundlagen, Uhrwerk-Schlagzeug, Hollywood-Orchester und Shagraths wieder kernigere und naturbelassenere Stimme ergeben zusammen das seit zehn Jahren typische Gemisch aus Melodic Black Metal, Soundtrack und fast Industrial-artigem Effekteinsatz. Bis hierhin war’s also nichts mit der Neuerfindung und den mehreren Schritten nach vorn, die Silenoz in unserem Interview angekündigt hat. Das heißt aber nichts.

„Gateways“ ist meiner Ansicht nach nämlich schon von anderem Kaliber. Der eigentlich für DIMMU BORGIR-Verhältnisse recht gewöhnliche Song bekommt durch den Einsatz der ungewöhnlichen Stimme Agnete Maria Forfang Kjølsruds eine dramatische Wendung und wird deutlich von ihm geprägt. Zunächst schreckt das ab – nach dem fünften Durchlauf aber entfaltet diese charismatische Stimme eine ähnlich polarisierende Wirkung, wie es 1998 die von ICS Vortex tat und macht den Song zu einem Ohrwurm mit Widerhaken. Vergleichbares leistet auch der von THERION gekommene neue Basser Snowy Shaw, der im Verlauf des Albums ebenfalls seine cleane Stimme (die fast ein wenig an ULVERs Garm erinnert) einbringen darf, das allerdings in vergleichsweise erwartbarer Art und Weise und damit passend zu seiner unauffälligen, aber sehr effektiven Bassarbeit.

Trotzdem sind es diese außergewöhnlichen, mutigen Momente in den einzelnen Songs, die „Abrahadabra“ auch im Ganzen viel interessanter machen als seinen Vorgänger. Dazu tragen auch das nach 17 Jahren Bandbestehen gewagt betitelte „Dimmu Borgir“ mit seiner ruhigen, beinahe gothischen, deutlich choralen Ausrichtung bei, und vor allem „Ritualist“, dessen erste Minute mit Akustikgitarren, Kettenrasseln und entspanntem 4/4-Blast so extrem an „Stormblåst“ erinnert, dass diese Minute für mich das beste DIMMU BORGIR-Material seit 15 Jahren ist. Ein bisschen ist das, als wenn die drei kreativen Köpfe hier auf ihre eigenen Texte hören und sich das „forget we shall not“ aus „Dimmu Borgir“ zu Herzen nehmen würden: für einen Moment pfeifen sie darauf, was die Myspace-Generation von ihnen erwartet.

Außerhalb dieser leider zu seltenen Momente, in denen man den Willen der Band deutlich spürt, sich wieder zurück zu organischerer, verzaubernd wirkender Musik zu bewegen, ist „Abrahadabra“ im Wesentlichen einfach das neue DIMMU BORGIR-Album – allerdings eindeutig das beste seit knapp zehn Jahren und am ehesten mit „Puritanical Euphoric Misanthrophia“ vergleichbar. Es bietet die bis zur totalen Perfektion ausgearbeiteten Songs von „Death Cult Armageddon“, ein meiner Ansicht nach zwar etwas zu vordergründig eingesetztes, aber großartig agierendes Orchester, die mechanische Angriffslust von „Puritanical…“, aber auch ein Stück des Spirits von „Enthrone Darkness Triumphant“. Nur von dem im Vergleich zu 100% misslungenen „In Sorte Diaboli“ hat es glücklicherweise nichts. Auch etwas Magisches, Unheimliches aus den Neunzigern schwingt irgendwo im Hintergrund mit, und das nicht nur wegen der sicher nicht zufällig gewählten Crowley-Reinkarnations-Glauben-Atmosphäre im ausleitenden Mantra des finster verhallten „Endings And Continuations“ (vielleicht sind es auch die „Herr der Ringe“-Chöre, die hinter jedem zweiten Riff lauern…).

Die Hälfte der Songs sind nach ein paar Durchläufen echte Hits, aber trotzdem äußerst komplex arrangiert und nach etwas Einwirkzeit mit großen Momenten gesegnet und mit wiedergewonnener Spielfreude vorgetragen. Die nicht angesprochenen vier Songs „Chess With The Devil“, „The Demiurge Molecule“, „A Jewel Traced Through Coal“ und „Renewal“ (mit wirklich großem Refrain!) gehen zwar absolut in Ordnung, bewegen sich aber eher in sicheren Fahrwassern. Der von Andy Sneap zusammengebaute und perfekt austarierte Sound ist zwar natürlich extrem modern, aber überraschend saftig, lässt trotz der enormen Komplexität tatsächlich ein bisschen Luft zum Atmen und ist damit viel angenehmer hörbar als die letzten, überzogen klinischen Alben.

Fassen wir also zusammen: der (Branchen-)Riese DIMMU BORGIR, vor drei Jahren mit der Kinnlade schon ganz knapp vor dem Aufschlag auf den Boden einer harten Musikbusiness-Realität, hat sich wieder gefangen. Die Band klingt nach dem Rauswurf zweier Mitglieder wieder fokussiert, gewillt, motiviert. Dieses recht kurze und angenehm kompakte Album beweist, dass Shagrath, Silenoz und Galder es noch können, und es zeigt zumindest in Ansätzen und Details den Mut zu vorsichtigen Innovationen. Ich wünsche der Band, dass sie davon noch mehr wagen wird. Den Status haben sie, die Genialität auch, und dass irgendwo in den durch Fan- und Businesserwartungen zurechtgestutzen Musikern auch noch die visionären Jugendlichen stecken, die „For All Tid“ und „Stormblåst“ geschaffen haben – das kann man immerhin noch erahnen. Ich will nach „Abrahadabra“ sogar gerne wieder daran glauben. Weil man jede andere Band für solch ein Album in höchsten Tönen loben würde, haben sich diesmal auch DIMMU BORGIR die Weihe einer Kaufempfehlung verdient:

20.09.2010
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