Metallica - 72 Seasons

Review

Nach der Veröffentlichung von „Hardwired…To Self-Destruct“ versprach Schlagzeuger Lars Ulrich in Interviews regelmäßig, es werde nicht nochmal acht Jahre bis zum nächsten METALLICA-Album dauern. Nun steht „72 Seasons“ sieben Jahre nach seinem Vorgänger in den Läden. Ulrich hat damit Wort gehalten. Eine verdammt lange Wartezeit haben METALLICA-Fans trotzdem hinter sich.

METALLICA sind im Mid-Tempo gefangen

Die Frage, ob sich das Warten gelohnt hat, dürfte für hitzige Diskussionen sorgen. Wie bei jeder Platte der Band seit dem „Black Album“. „72 Seasons“ ist wieder einmal alles andere als reiner Fanservice. Wer sich nach der knackigen New-Wave-Of-British-Heavy-Metal-Hommage „Lux Æterna“ und dem an klassisch-komplexe Thrash-Songs der Band erinnernden Titelsong mehr von dieser Richtung erhofft hat, schaut im Laufe der 77 Minuten in die Röhre.

Stattdessen geben sich METALLICA, ähnlich wie auf dem Vorgängeralbum, oft dem Mid-Tempo hin. Einzig das an vorletzter Position stehende „Room Of Mirrors“ und das ebenfalls schon länger bekannte „Screaming Suicide“ bewegen sich in etwas höheren Temporegionen. Das führt auf dem mit 77 Minuten Spielzeit nicht gerade kurz geratenem Album zu einigen Durchhängern. Tracks wie „Crown Of Barbed Wire“ oder „Chasing Light“ dümpeln im Riffsumpf vor sich hin, ohne auf den Punkt zu kommen oder der Dramaturgie von „72 Seasons“ etwas Neues hinzuzufügen.

Das Spiel mit den Kontrasten

Auf anderer Ebene zeigen METALLICA, dass sie es immer noch verstehen, einem Album einen schlüssigen Spannungsbogen zu verpassen. Die wenigen schnelleren Songs sind gut über die Platte verteilt. Damit lockern sie das Geschehen auf – und knallen im Kontrast zu den oft schleppenden Rhythmen umso.

Doch das soll nicht heißen, bei den restlichen Songs der Platte sei nichts zu holen. „Shadows Follow“ kommt mit einem schmetternden Beat daher, der augenblicklich zum Kopfnicken anregt. „Sleepwalk My Life Away“ punktet derweil durch seine Atmosphäre, während sich der Refrain von „Too Far Gone?“ augenblicklich in die Gehörgänge fräst.

METALLICA brauchen einen richtigen Produzenten

Problematisch ist allerdings die Länge mancher Songs. Mit Ausnahme von „Lux Æterna“ und „Too Far Gone?“ geht kein Song in weniger als fünf Minuten über die Zielgerade. Dabei hätte Tracks wie „If Darkness Had A Son“ oder das erwähnte „Crown Of Barbed Wire“ von einer Trimmung durchaus profitiert, anstatt dieselben Riffs um X-ten Mal zu wiederholen.

METALLICA hätten sich für „72 Seasons“ dringend einen richtigen Produzenten vom Kaliber Rick Rubin oder Bob Rock ins Boot holen sollen, der sich auch mal traut, „Nein“ zu den Alphatieren Ulrich und James Hetfield zu sagen. Der Songs aus dem Album kickt, die nicht stark genug sind und die Band bei den Arrangements unterstützt.

Greg Fidelman, der bereits „Hardwired“ produzierte und bei „Death Magnetic“ als Toningenieur involviert war, ist dafür offensichtlich nicht der richtige Mann. Sonst hätte er Ulrichs totproduzierten Schlagzeugsound verhindert, hinter dem sich genauso gut ein Drumcomputer verstecken könnte. Dadurch geht viel Dynamik flöten.

Ein ewiger Streitpunkt

Ein Kritikpunkt, der nach den ersten Singles und so ziemlich jeder METALLICA-Platte der jüngeren Vergangenheit aufkam, ist die gefühlte Beliebigkeit von Kirk Hammetts Soli. Tatsächlich entpuppt sich die Arbeit des Lead-Gitarristen auf „72 Seasons“ als zweischneidiges Schwert.

Wenn er im Soloteil von „Screaming Suicide“ gekonnt Richie Blackmores Licks aus dem DEEP PURPLE-Klassiker „Speed King“ zitiert und mit seinen typischen Wah-Eskapaden verbindet, macht das durchaus Spaß. An andere Stelle verzettelt sich Hammett in Blues-Klischees, wenn er beispielsweise das Überlange Solo im Titelsong nicht gänzlich sinnvoll füllt. Auch hier hätte einer Kürzung mancher Parts Wunder bewirken können. Zumal Hammett in den Lead-Passagen abseits der Soli regelmäßig sein Gespür für einprägsame Licks unter Beweis stellt.

Rob Trujillo ist endlich bei METALLICA angekommen

Während Hammett an manchen Stellen strauchelt, blüht Rob Trujillo am Bass vollends auf. „72 Seasons“ ist zweifellos das Album, auf dem er seine Rolle bei METALLICA endlich gefunden hat. Bei gleich drei Songs steht Trujillo als Co-Songwriter neben Ulrich und Hetfield im Booklet. In „Sleepwalk My Life Away“ ist Trujillos Bass sogar federführend, vom grandiosen Intro bis zum emotionalen Refrain.

Und Hetfield? Der liefert seine mit Abstand beste Gesangsleistung seit drei Jahrzehnten ab. So zerbrechlich, emotional, vielseitig und in den richtigen Momenten laut und aggressiv hat sich der METALLICA-Frontmann lange nicht mehr gezeigt. Die persönliche Note der Songtexte auf „72 Seasons“ spiegelt sich in seiner Performance jederzeit wider. Insbesondere im abschließenden Epos „Inamorata“ brilliert Hetfield wie selten zuvor.

Hetfield zeit sich stark wie selten zuvor

So problematisch die Länge mancher Songs und damit von „72 Seasons“ insgesamt ausfällt, stellt sich ausgerechnet der mit elf Minuten längsten Track in der METALLICA-Geschichte als Albumhighlight heraus. Das liegt nicht zuletzt an Hetfields bockstarker Gesangsleistung, bei der er sich ein ums andere Mal Melodiebögen entlockt, die man so noch nie von ihm gehört hat. Und Mittelteil ist da wieder Trujillos Bass, der wunderbar komplementär zu den Gitarren arbeitet.

„72 Seasons“ steht seinem Vorgänger, „Hardwired“, in jeglicher Hinsicht nahe. Die Produktion ist ähnlich geraten, es gibt jede Menge Mid-Tempo-Songs und am Ende des Tages zu viel Füllmaterial, das es angesichts der stattlichen Länge des Albums nicht gebraucht hätte. Doch genau wie „Hardwired“ bietet „72 Seasons“ das beste Songmaterial, das METALLICA in den vergangenen 30 Jahren auf die Beine gestellt haben, irgendwo zwischen Rückbesinnung auf ihre Wurzeln und konsequenter Weiterentwicklung. Das ist verdammt viel wert – und lässt so manche Länge problemlos verschmerzen.

15.04.2023

"Irgendeiner wartet immer."

Exit mobile version