Sentenced - North From Here

Review

Nicht nur in Schweden war Death Metal zu Beginn der Neunziger Jugendtrend und nationaler Kulturexport Nummer eins zur gleichen Zeit. Auch die nordöstlichen Nachbarn in Finnland entwickelten eine eigenständige und höchst originelle Szene, die sich deutlich von den meisten schwedischen Bands unterschied und keinen Deut schwächer war, jedoch auch oft im Schatten der (mitunter sehr radikalen) Black-Metal-Banden des Landes (BEHEXEN, IMPALED NAZARENE) stand.

SENTENCED aus Muhos sind nicht nur im Death Metal, sondern auch im Gesamtkontext der finnischen Metal-Geschichte ein Unikum. Wer vor allem die melancholisch rockenden, nicht übermäßig harten Alben der Band ab “Down” (1996) kennt, wird SENTENCED auf ihren ersten Alben kaum wiedererkennen, wechselte das Quartett doch zunächst mit jedem Album hörbar den Stil. War das Debüt “Shadows Of The Past” noch ein gutes, aber unauffälliges, traditionelles Death-Metal-Album im Stile der US-Vorreiter, schien der Band klar zu sein, dass sie in der sich rasant entwickelnden Szene so kein Alleinstellungsmerkmal besitzen. Ein interner Wechsel (Gitarrist Miika Tenkula gab das Mikro an Bassist Taneli Jarva ab, der deutlich mehr Black Metal in den Sound brachte) und eine stilistische Öffnung sorgten für eines der originellsten Skandi-Death-Metal-Alben aller Zeiten und für die vielleicht scheuklappenbefreiteste Extrem-Veröffentlichung Anno 1993.

SENTENCED inszenieren sich als scheuklappenfreie Grenzgänger

Nicht nur der Sangeswechsel macht sich auf dem SENTENCED-Zweitling “North From Here” bemerkbar. Im Gegensatz zu der überschaubaren Anzahl von Einflüssen auf das Debüt, schienen die vier Jungspunde beim Songwriting des Zweitlings sämtliche juvenile Engstirnigkeit über Bord geworfen zu haben. Klar – der Mantel des Albums ist pechschwarzer Death Metal. Doch darüber hinaus wurde nicht nur Black Metal in überdeutlichem Maße verarbeitet, sondern auch Funk Rock (die Jungs waren bekennende PRIMUS- und FAITH-NO-MORE-Fans), jazzige Einflüsse (für die ATHEIST als Einfluss dienten) und Prog-Anleihen. Sämtliche Blicke über den Tellerrand verwässern jedoch niemals die kalt-nordische Atmosphäre und dienen eher als Widerhaken, die die Wirkung des Albums so langlebig machen.

Denn wenn schon “North From Here” inzwischen fast dreißig Lenze auf dem Buckel hat, so entdeckt man auch nach hunderten von Durchläufen noch unbekannte Details in den ausladenden und verworrenen Kompositionen. Allein der majestätische Opener “My Sky Is Darker Than Thine” verbrät mehr Riffs und Breaks in einem Song, als auf dem Vorgänger überhaupt zu finden waren. Nicht umsonst zählt auch das nach ähnlichem Muster verfahrende DARKTHRONE-Debüt “Soulside Journey” (und vermutlich ganze Wagenladungen von Ritalin) zu den Einflüssen von SENTENCED während des Songwritings.

“North From Here” ist große Death-Metal-Kunst

Immer wieder trumpfen die Finnen mit der höchst originellen Mischung aus hektischer, stets durchdachter Raserei und elegischen Melodien auf. Die gezielten Erwartungsbrüche (siehe u. a. die Leads in “Wings”) in der Melodieführung stellen dabei ein besonderes Alleinstellungsmerkmal des Albums dar. Zudem wartet “North From Here” mit der richtigen Mischung an Zutaten auf, die einen Klassiker ausmacht: Stimmungsvolles Cover, jugendliche „Wir erobern die Welt“-Songtexte und eine fantasievolle Atmosphäre, die über der Musik schwebt wie ein Nordlicht über den finnischen Waldseen.

Trotz aller gewollten Sperrigkeit erschließen sich im Laufe der Zeit die Hits des Albums. Der bereits erwähnte Opener ist einer der besten in der Geschichte des Genres, “Capture Of Fire” ist in der Tat recht eingängig. Das Doppel “Northern Lights” und “Epic” gibt sich wahrhaft episch und über allem thront der unsterbliche Klassiker “Awaiting The Winter Frost”, ein schieres Feuerwerk aus Melodien, harscher Raserei und komplexen Breaks.

Das Erbe von SENTENCED

Da Gitarrist und Hauptsongwriter Miika Tenkula diese Welt 2009 leider für immer verlassen hat, werden wir vermutlich nie wieder in den Genuss einer Live-Performance des “North From Here”-Materials kommen. Umso mehr gilt es, dieses einzigartige Album regelmäßig zu würdigen. Wer die Scheibe noch nicht besitzt, sollte sich auf die Suche nach dem empfehlenswerten 2008er Re-Release von Century Media begeben. Diesem liegt eine zweite CD, auf der sich das “Journey To Pohjola”-Demo, die “The Trooper”-EP und zwei sehr gute unveröffentlichte Stücke (“Amok Run” und “The Glow Of A Thousand Suns”) befinden. Der 1995 veröffentlichte Nachfolger “Amok” ist auch noch phänomenal, wandte sich aber vom Death Metal hin zu einer eigenwilligen Mischung aus Thrash und Gothic Rock, bevor die Band ab “Down” mit großem Erfolg ausschließlich melodisch-melancholischen Gothic Rock zockte.

23.02.2022

Redakteur | Koordination Themenplanung & Interviews

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