Fluoryne
Ein Gespräch über "Transneptunian" und die Zukunft der Menschheit
Interview
Dass mit Falk Wehmeier ein ausgesprochen kluger Kopf hinter FLUORYNE steckt, ist kaum zu übersehen / überhören. Dementsprechend war es uns eine große Freude, unserem Ex-Metal.de-Kollegen einige Fragen zu seinem musikalischen Werk, dem aktuellen FLUORYNE-Album „Transneptunian“, dem Wert von Science-Fiction-Literatur und seinem persönlichen Blick auf die Weltraumforschung zu stellen. Dass uns das Gespräch dabei von quietschenden Kettenglieder bis hin zu eher düsteren Zukunftsperspektiven für die gesamte Menschheit führt, war gleichermaßen erwartbar wie erfreulich und profitiert ausnahmsweise sogar davon, dass wir einander nicht persönlich gegenübersaßen, sondern Fragen und Antworten per E-Mail austauschen konnten.
Hallo Falk! Sorry nochmals, dass sich unser Interview von meiner Seite aus doch so verzögert hat. Immerhin dürftest du aber inzwischen schon einige Reaktionen auf dein neues Album „Transneptunian“ bekommen haben. Wie fällt das allgemeine Feedback bislang aus?
Hallo Florian! Das ist überhaupt kein Problem – ich weiß es sehr zu schätzen, dass du dir die Zeit für dieses Interview nimmst, unabhängig vom Abstand zur Rezension. Von mir auch sorry, denn ich habe ja auch ein Weilchen gebraucht, deine Fragen zu beantworten.
Viel Feedback gibt es zu „Transneptunian“ leider (noch?) gar nicht – außer deiner Rezension (für die ich mich an dieser Stelle ebenfalls ganz herzlich bedanke!) und den Kommentaren darunter gibt es bisher lediglich ein weiteres Review, das allerdings auch sehr positiv ausgefallen ist.
Ich fürchte, dass es ohne etabliertes Label und PR-Agentur unheimlich schwer ist, Aufmerksamkeit auf „Transneptunian“ zu lenken: Das Endzeit-Kollektiv, über das sowohl „Transneptunian“ als auch VYREs viertes Album „Voidserpent“ erschienen sind, ist ja gerade erst auf der Bildfläche erschienen – auch, wenn der Name schon etwas länger im Großraum Bielefeld umhergeistert. Wir bauen die PR-Arbeit momentan erst auf und es ist wenig überraschend, dass wir von einigen Magazinen schlicht übersehen oder ignoriert werden – insbesondere in Anbetracht der Vielzahl an Veröffentlichungen und der Tatsache, dass Rezensent*innen ihre Freizeit dafür „opfern“, Alben anzuhören und ein paar Worte dazu zu schreiben.
Dass wir aktuell weder physische Tonträger als Dankeschön anbieten können, noch die Mittel haben, Werbung zu schalten, macht es auch nicht einfacher…
Ich möchte hier aber nicht über die Mechanismen der Promo-Maschinerie lamentieren – ich weiß aus eigener Erfahrung, wie die (ehrenamtliche) Arbeit in (Online-)Magazinen läuft und bin unglaublich dankbar für jede Aufmerksamkeit, die „Transneptunian“ zuteil wird. Am Ende ist FLUORYNE ja auch nichts, womit ich Umsatz oder gar Gewinn machen möchte / muss, sondern (ebenfalls) ein Hobby – und falls das, was ich im Rahmen dieses Hobby fabriziere, jemandem gefällt, freut mich das sehr.
Seit dem letzten FLUORYNE-Album „Dämmerung“ sind mehr als fünfzehn Jahre ins Land gezogen. In der Zwischenzeit warst du zwar mit GEIST bzw. EIS und VYRE nicht untätig, trotzdem sei mir die Frage gestattet: Warum hat es so lange gedauert, bis du dich wieder deinem eigenen Projekt zuwenden konntest?
„Dämmerung“ ist damals ziemlich genau am Ende eines Lebensabschnitts erschienen – tatsächlich lagen zwischen dem Abschluss meines Studiums und der Veröffentlichung von „Dämmerung“ nicht einmal drei Wochen. 2010 hat dann eine neue Phase meines Lebens begonnen – ich habe zunächst als Wissenschaftler an der Humboldt-Universität in Berlin gearbeitet und bin ein Jahr später ins „echte“ Berufsleben eingetreten. Dort habe ich dann 2016 eine Abteilungsleitung übernommen, die – so muss ich es leider sagen – Gift für meine Kreativität war, da ich meine mentalen Kapazitäten hauptsächlich dafür aufwenden musste, dieser beruflichen Verantwortung gerecht zu werden.
Auch privat ist in den letzten 15 Jahren einiges passiert: Die wichtigsten Ereignisse sind wohl, dass wir ein Haus gekauft haben und die Familie Zuwachs bekommen hat. Ohne Zweifel waren das ganz wundervolle Erfahrungen, die aber (wenig überraschend) nicht unbedingt mehr Freizeit mit sich brachten, die ich für Musik hätte nutzen können…
Mein kreativer Gegenpol während dieser Zeit war meine Aktivität bei VYRE von 2011 bis 2022, die mich aber zum Glück nicht viel „Kraft“ gekostet hat, weil ich am Songwriting der ersten beiden „The Initial Frontier“-Alben gar nicht beteiligt war, mein Beitrag zu „Weltformel“ überschaubar war und wir auch nicht sooo viele Auftritte absolviert haben.
Meine berufliche Situation hat sich dann vor knapp zwei Jahren grundlegend geändert, als ich die Chance bekommen habe, aus meiner leitenden Position in eine wissenschaftliche Experten-Rolle zu wechseln, damit also jetzt wieder verstärkt das machen kann, wofür ich studiert habe – und es ist wirklich erstaunlich, wie viel kreative Energie nach und nach frei wurde, als ich mich nicht mehr mit Umsätzen und Personalthemen befassen musste! Nach einer etwa dreimonatigen Übergangsphase (in der ich meinen Nachfolger in der leitenden Position hier und da unterstützt habe, um ihm den Einstieg zu erleichtern und einen reibungslosen Übergang zu ermöglichen) habe ich im Oktober 2023 mit den Arbeiten an „Transneptunian“ begonnen – und ein halbes Jahr später war das Album aus Songwriting-Sicht fertig. Der Feinschliff (Atom Phantoms Beiträge in der Schlagzeug-Programmierung sowie Mix und Mastering) hat dann noch ein Weilchen gedauert, bis es Ende Januar endlich so weit war…
Vor fünfzehn Jahren warst du noch ein hochgeschätzter Redaktionskollege bei Metal.de. Vermisst du die Zeit bei uns und juckt es dich manchmal noch in den Fingern, mal wieder ein Review zu schreiben?
Tatsächlich war ich sogar vor zehn Jahren noch Teil der Redaktion – meine Zeit bei metal.de, die Anfang 2009 begonnen hatte, endete im November 2015. Fast sieben Jahre, in denen ich 400 Rezensionen geschrieben habe… Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass meine Arbeit für Metal.de mich nicht geprägt hat.
Um aber deine erste Frage zu beantworten: Ja und Nein.
Ja, weil das Team bei Metal.de großartig war (und auch immer noch ist, nach allem, was ich über die sozialen Medien so mitbekomme) und ich bei Metal.de selbst und über Metal.de vielen tollen Menschen begegnen durfte.
Ja, weil ich durch die Veröffentlichungen, die ich zur Rezension bekommen habe, immer wieder echte Perlen entdeckt habe, die sonst vollkommen an mir vorbeigegangen wären.
Nein, weil es ja durchaus Gründe dafür gab, dass ich meinen Job bei euch an den Nagel gehängt habe (die aber nicht hierher gehören).
Nein, weil es mir zeitweise echt schwer gefallen ist, die „Rezensions-Brille“ abzusetzen und Musik einfach nur zu genießen – obwohl mein Musikgenuss seit jeher sehr kopflastig ist.
Letzteres beantwortet auch deine zweite Frage: Eher nicht, nein – auch, wenn ich nach wie vor zu vielen Veröffentlichungen eine Meinung habe, die ich durchaus verbalisieren könnte. Es ist schön, es nicht zu müssen.
„Transneptunian“ lebt in erster Linie von seiner Atmosphäre. Welche anderen Künstler würdest du hierbei als Inspirationsquelle sehen? Ich nehme an, dabei handelt es sich nicht ausschließlich um Musiker und schon gar nicht um solche aus dem Metal-Bereich…
Das ist eine verdammt schwierige Frage – und ich kann selbst nach längerem Nachdenken keine konkrete Antwort darauf geben, fürchte ich. Ich denke, dass alles, was ich aufnehme – seien es Bücher, Filme, Musik aus allen möglichen Genres, Gespräche – in irgendeiner Form in die Musik einfließt, die ich mache.
Klar, meine Herangehensweise an Musik – sowohl auf musiktheoretischer Basis, die schon immer eine große Rolle für mich gespielt hat (meine Aussage zur Kopflastigkeit beschränkt sich also nicht auf meine Rolle als Hörer – was man den bisherigen FLUORYNE-Veröffentlichungen auch anmerkt, schätze ich), als auch in der Herangehensweise an die instrumentelle Ausgestaltung (das bisschen, was ich an der Gitarre kann, habe ich autodidaktisch gelernt) – ist durch meine musikalische Sozialisation geprägt: Hier würde ich am ehesten die Moonfog-Veröffentlichungen um die Jahrtausendwende – SATYRICONs „Rebel Extravaganza„, DHGs „666 International“ und das selbstbetitelte THORNS-Album – als Einflüsse nennen, aber auch die Gitarrenarbeit von Rune „Blasphemer“ Eriksen oder die ersten CODE-Veröffentlichungen „Nouveau Gloaming“ und „Resplendent Grotesque„. Ich glaube aber kaum, dass man diese Einflüsse auf „Transneptunian“ mehr als nur annähernd hört – einerseits, weil ich technisch bei Weitem nicht in der Lage bin, solche Musik zu spielen; andererseits, weil über die Jahre natürlich mannigfaltige andere Einflüsse dazu gekommen sind, die ich unmöglich aufzählen oder mit den Songs auf „Transneptunian“ verknüpfen kann.
Wie zufrieden bist du mit dem Album selbst? Konntest du all das umsetzen, was du mit „Transneptunian“ ausdrücken wolltest oder gibt es bestimmte Aspekte, wo du deine selbst gesetzten Ziele nicht erreichen konntest?
Es ist vermutlich ganz normal, dass man im Nachhinein immer wieder Dinge entdeckt, die man vielleicht hätte anders machen können / wollen – sei es hier nochmal eine andere Betonung, dort ein etwas anderes Schlagzeug-Motiv / eine andere Rhythmik, hier eine leichte Anpassung des Mixes, dort eine zusätzliche Synthie-Stimme oder oder oder…
Ich denke aber, dass es ein gutes Zeichen ist, dass mir spontan kein konkretes Beispiel dafür einfällt, was ich rückblickend hätte anders machen wollen – um also deine Frage zu beantworten: Ich bin sehr zufrieden mit dem Endergebnis – und sehe mich in dieser Aussage auch dadurch bestätigt, dass ich mit jedem Anhören des Albums ein anderes persönliches Lieblingsstück habe; je nach Tagesform und Stimmung.
Tatsächlich hätte ich aber nach den Aufnahmen und der Vorproduktion nicht damit gerechnet, dass das Album am Ende so gut klingen würde – und möchte an dieser Stelle ganz ausdrücklich Atom Phantom für seine exzellente Arbeit loben. Er hat von Anfang ganz genau verstanden, wie „Transneptunian“ klingen sollte – und im Gegensatz zu mir ist er in der Lage, diesen Klang dann auch zu erreichen.
Wie entstehen die Songs für FLUORYNE? Beginnst du mit einem Gitarrenriff als Ausgangspunkt oder spielst du erst einmal mit verschiedenen Synthie-Elementen herum, um die gewünschte Grundatmosphäre zu schaffen?
Das war und ist von Song zu Song ganz unterschiedlich. Die Initialzündung für die Trilogie aus „Nereid“, „Neptune“ und „Triton“ (die nicht nur am Anfang des Albums steht, sondern auch das erste Stück war, das ich für das Album geschrieben habe) war tatsächlich weder eine Gitarren-Idee noch eine Synthesizer-Spielerei, sondern etwas völlig anderes: Wir haben zuhause einen Hängesessel, der über Metallketten an einem der Deckenbalken im Obergeschoss befestigt ist – und irgendwann im Spätsommer / Frühherbst 2023 saß ich in diesem Hängestuhl und ließ mich und meine Seele baumeln…
Dabei quietschten zwei Kettenglieder, was mich zuerst ein bisschen genervt hat – bis mir auffiel, dass die beiden Töne im Hin- und Herschwingen eine kleine Sexte auseinander lagen (ich sagte ja: kopflastig). Auf diesem Wechselspiel baut die gesamte Trilogie am Anfang des Albums auf – und der Chemie-Nerd in mir ergänzt noch, dass die Töne, die dort im Wechsel erklingen, h und g sind. Das Stück, das hieraus entstanden ist, müsste also eigentlich „Merkur“ heißen, weil „Hg“ das chemische Symbol für Quecksilber (engl. mercury) ist – nur ist der Merkur als sonnennächster Planet natürlich alles andere als transneptunisch…
Zu den anderen Stücken gibt es keine vergleichbaren Anekdoten, sie sind aber ganz unterschiedlich entstanden – vor allem sind viele Motive ehrlicherweise gar nicht mal so neu, sondern entstammen unterschiedlichen Phasen meiner musikalischen Aktivität, hatten aber bisher nie den Weg in die Öffentlichkeit gefunden: „Arrokoth“ zum Beispiel ist ein Stück, das ich während meiner Schulzeit (also vor mehr als 25 Jahren) geschrieben habe, aber nie so umsetzen konnte wie ich es mir vorgestellt habe; „Sedna“ besteht aus Gitarrenriffs, die ich vor knapp 20 Jahren für das zweite FLUORYNE-Demo geschrieben habe, ohne es je zu veröffentlichen; „Kuiper Belt“ ist im Wesentlichen ein Song, den ich vor knapp 15 Jahren in Berlin angefangen hatte; der Anfang von „Oort Cloud“ wiederum ist erst recht kürzlich am Klavier entstanden, auch wenn die Grund-Harmonik ein schon älteres Gitarrenmotiv war – alle Songs des Albums haben unterschiedliche Entstehungsgeschichten und Ausgangs-Punkte. Gemeinsam ist ihnen aber, dass ich alle Ideen – selbst die Uralt-Ideen – im Interesse der Atmosphäre ausgestaltet habe.
Abgesehen von einigen Zitaten als Sprachsamples verzichtest du auf Texte bei deinen Songs. Fällt es dir leichter, deine Gedanken und Gefühle in die Musik zu übersetzen als diese in Worten auszuformulieren?
Um ehrlich zu sein, hatte ich „Transneptunian“ ursprünglich sogar als reines Instrumentalalbum angelegt. Irgendwie war mir von Anfang an klar, dass zu dem Konzept und der Atmosphäre, die mir vorschwebten, keine Songtexte im herkömmlichen Sinn passen würden – und ich habe auch sehr lange an dem instrumentalen Ansatz festgehalten, bis mir irgendwann die Idee kam, dass thematisch passende Zitate das atmosphärische i-Tüpfelchen sein könnten.
Gut, so richtig neu war die Idee für mich nicht – ich hatte ja bereits auf „Dämmerung“ keine eigenen Texte verwendet, sondern expressionistische Lyrik vertont; für „Transneptunian“ war mir schnell klar, dass der Ursprung der Zitate entweder Science-Fiction oder populärwissenschaftliche Literatur sein müsste, und es nur Fragmente sein durften – und die Wahl fiel am Ende auf Cixin Liu.
Ganz grundsätzlich ist es aber tatsächlich so, dass ich mich sehr schwer damit tue, selbst Songtexte zu schreiben. Auf dem Demo-Album „Dark Water“ 2005 war mir das noch vergleichsweise leicht gefallen – allerdings hauptsächlich, weil es englische Texte waren. Bei deutschen Songtexten hatte ich schon immer so hohe Ansprüche, dass ich sie selbst nicht erfüllen kann – und leider sind über die letzten Jahre auch bei englischen Texten meine Ansprüche gestiegen. Ich würde gern auf zukünftigen FLUORYNE-Veröffentlichungen wieder mit eigenen Songtexten arbeiten – aber ich habe keine Ahnung, ob mir das gelingt.
Die Textzitate auf „Transneptunian“ entstammen den Trisolaris-Büchern des chinesischen Science-Fiction-Autors Cixin Liu, die wir beide sehr schätzen. Was begeistert dich an diesen Romanen und warum sollten sich unsere Leser allgemein mehr mit Science-Fiction auseinandersetzen?
Hier muss ich einmal kurz klugscheißen: Bei den Spoken Word-Passagen handelt es sich zwar ausschließlich um Zitate von Cixin Liu (bzw. deren Übersetzungen ins Englische), allerdings stammen nicht alle aus der Trisolaris-Trilogie, sondern zum Teil aus der Kurzgeschichtensammlung „The Wandering Earth„, die ich ebenfalls wärmstens empfehle.
Es gibt zwei Aspekte an Cixin Lius Erzählungen, die mich persönlich sehr reizen: Einerseits unterscheiden sich die Narrative / Dramaturgien von denen, die man aus der „westlichen“ Science-Fiction kennt – mal sind diese Unterschiede sehr subtil, mal gravierend, in jedem Fall aber sehr inspirierend. Andererseits finde ich die fachliche Tiefe (der Fachbegriff ist meines Wissens Hard Science-Fiction) enorm stimulierend, gerade weil ich kein Physiker bin und mich daher nicht auf heimischem Terrain bewege – weiß aber auch, dass dieser Aspekt viele potentielle Leser*innen ohne naturwissenschaftlichen Hintergrund ziemlich schnell vergrault / vergraulen kann.
Speziell an der Trisolaris-Trilogie finde ich reizvoll, wie Liu im übergreifenden Bogen der Geschichte dem Fermi-Paradoxon begegnet. Es gibt verschiedene Hypothesen zur Beantwortung der Frage „Where is everyone?“ – keine davon ist besonders optimistisch, aber die Dunkler-Wald-Hypothese (die ich an dieser Stelle nicht näher erläutern möchte, um interessierte Leser*innen der Trisolaris-Reihe nicht zu spoilern) ist noch eine der am wenigsten wünschenswerten… Ich muss allerdings ehrlich sagen, dass für mich der letzte Teil der Trisolaris-Trilogie dann schon etwas „drüber“ war – die Ideendichte wird darin so hoch, dass ich mich gefragt habe, ob Liu nicht lieber eine Tetra- oder Pentalogie hätte schreiben sollen, um im dritten Teil nicht so auf das Gaspedal treten zu müssen… Vielleicht ist es auch ein Stilmittel, aber ich fand es irgendwann echt anstrengend.
Ich denke, es ist grundsätzlich immer eine gute Idee, sich mit Kunst in jeder Form auseinanderzusetzen (auch, wenn man natürlich darüber streiten kann, ob und in welchem Ausmaß Science-Fiction als Kunst durchgeht): Sie erweitert unseren Horizont und unseren Wortschatz, im übertragenen Sinn. Wenn ich diese Überlegung mal speziell auf Science-Fiction münze, sind für mich zwei Dinge entscheidend:
Zum einen holt gute Science-Fiction die lesende Person auf eine andere Weise aus der Komfortzone als es andere Formen der Belletristik tun – die meisten Genres sind zwar sicher auch dazu in der Lage, aber Science-Fiction gelingt das anhand „physikalischer Realitäten“, ohne transzendente oder „magische“ Elemente zu benötigen (auch wenn Arthur C. Clarkes drittes Gesetz dafür sorgt, dass die Grenzen mitunter verschwimmen: Any sufficiently advanced technology is indistinguishable from magic).
Beispiele hierfür wären die veränderte Schwerkraft auf anderen Planeten / Monden oder unter Raumfahrt-Bedingungen (ich finde, Filme wie „Der Marsianer“ oder „Interstellar“ haben das Konzept des rotierenden Raumschiffs zur Erzeugung künstlicher Schwerkraft und die daraus erwachsenden Schwierigkeiten auf ganz wunderbare Weise in Szene gesetzt); oder die auf der Relativitätstheorie beruhende Zeitdilatation in Abhängigkeit von der Schwerkraft und der Beschleunigung. Es zwingt die lesende Person gewissermaßen, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen, obwohl sie kaum Alltagsrelevanz haben (ich sage „kaum“, weil relativistische Effekte sich zum Beispiel auf GPS-Systeme auswirken – aber das ist wohl nur den wenigsten Nutzer*innen bewusst).
Auf der anderen Seite – und das ist meines Erachtens der viel wichtigere Punkt – vermittelt gut gemachte Science-Fiction ein Grundverständnis für naturwissenschaftliches Denken, ohne dass es diesen „trockenen“ Charakter bekommt, den so viele mit dem naturwissenschaftlichen Unterricht aus der Schule verknüpfen. Dafür braucht es gar keine Hard Science-Fiction, meist geht das ganz niederschwellig. An dieser Stelle würde ich einfach mal eine Empfehlung für Andy Weirs „Der Astronaut“ aussprechen – dieser Roman ist ein Paradebeispiel dafür, wie naturwissenschaftliche Zusammenhänge (von Atombau bis Evolution) auf enorm unterhaltsame Weise vermittelt werden können.
Ich kenne dich sowohl als erfahrenen Naturwissenschaftler, aber auch als gesellschaftspolitisch äußerst wachen Geist. Wie stehst du generell zur Weltraumforschung? Eine zwingende Notwendigkeit für den Fortschritt und das Weiterbestehen der Menschheit oder eine Verschwendung von Ressourcen, die man dringender zur Lösung der aktuellen Krisen auf unserem Planeten verwenden sollte?
Puh – die Frage ist eine echte Herausforderung; und ich fürchte, dass ich ein wenig ausholen muss, um eine verständliche Antwort zu geben…
Ich hatte ja eben schon das Fermi-Paradoxon angesprochen: Where is everyone? Etwas ausführlicher formuliert: Bei der riesigen Anzahl an Sternen im Universum und der wahrscheinlich noch einmal größeren Anzahl an Planeten wäre es doch irrwitzig und in gewisser Weise ziemlich arrogant anzunehmen, dass die Erde der einzige Planet im ganzen Universum ist, auf dem intelligentes Leben entstanden ist.
Ein Cartoon von The Oatmeal fasst dieses Thema ziemlich treffend zusammen:
Wie schon erwähnt gibt es verschiedene Hypothesen dazu, warum wir (bisher) noch kein außerirdisches intelligentes Leben gefunden haben – eine davon ist die Dunkler-Wald-Hypothese, die ich eben schon erwähnt hatte; eine andere ist die des großen Filters: Hier ist die Annahme, dass jede Zivilisation sich selbst vernichtet oder ausstirbt, bevor sie in der Lage zu interstellaren Reisen ist.
Ich finde diese Erklärung sehr plausibel (und zumindest ein bisschen optimistischer als die Dunkler-Wald-Hypothese): Fortschritt (sei es evolutionärer oder technologischer) braucht unheimlich große Ressourcen – üblicherweise ist Fortschritt ein kumulativer Prozess über sehr lange Zeiträume, weil die benötigten Ressourcen nicht unbegrenzt und nicht jederzeit zur Verfügung stehen. Entwickelt sich eine Zivilisation in der durch die natürlichen Ressourcen (im Wesentlichen Sonnenenergie) vorgegebenen Geschwindigkeit, steigt aber die Wahrscheinlichkeit, dass es durch einen Meteoriten-Einschlag, Vulkan-Ausbrüche oder sonstige Naturkatastrophen zu Eiszeiten und Massensterben kommt, so rapide, dass es sehr unwahrscheinlich ist, auf diesem linearen Weg einen Entwicklungsstand zu erreichen, der interstellares Reisen erlaubt.
Die exponentielle Alternative – an der wir Menschen uns seit etwa 200 Jahren sehr intensiv versuchen – ist, die Verfügbarkeit von Ressourcen massiv zu steigern, zum Beispiel durch fossile Energieträger: Industrialisierung. Das Problem, was hierbei aber unweigerlich entsteht, beginnen wir seit etwa 20 Jahren zu spüren: Durch die Nutzung von nicht nachhaltigen Energieträgern beeinflussen wir das Gleichgewicht unseres Heimatplaneten in einer Weise, die es uns früher oder später sehr schwer oder gar unmöglich machen wird, auf diesem als Spezies zu überleben. Sofern wir nicht bald – als gesamte Menschheit – verstehen, was auf dem Spiel steht, und entsprechend handeln, werden wir nach Wegen suchen müssen, die Erde hinter uns zu lassen. Ich weiß nicht, ob uns dazu noch genug Zeit bleibt – aber ich weiß, dass falls nicht, es eine Variante des großen Filters wäre. Ich halte es für durchaus möglich, dass dieses Schicksal ganz typisch für andere mögliche Zivilisationen ist – denn exponentieller (technologischer) Fortschritt ist beinahe unmöglich, ohne die eigene Umwelt massiv zu beeinflussen.
Die andere Variante dieses großen Filters, die mir durch den Kopf geht, ist die, dass es in hochentwickelten Zivilisationen immer die Tendenz zu Konflikten / Kriegen geben wird – ein unerwünschter Effekt der Evolution / natürlichen Selektion, dem die Intelligenz offenbar gnadenlos unterlegen ist, wie sich auch heute immer wieder zeigt. Insbesondere, wenn es um Ressourcen geht, die für technologischen Fortschritt genutzt werden können, ist die Gefahr militärischer Auseinandersetzungen riesig.
Der entscheidende Punkt ist hier, dass interstellare Reisen unfassbar viel Energie benötigen (sofern wir nicht einen Weg finden, die Raumzeit selbst zu modifizieren) – sobald aber solche Energiemengen verfügbar sind, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass eine militärische Nutzung dieser Energiequellen zu einer vollständigen Vernichtung der gesamten Zivilisation führt, massiv an. Je näher eine Zivilisation also an die Verwirklichung interstellarer Reisen kommt, desto näher kommt sie auch ihrer eigenen Vernichtung. Wie schon Onkel Ben sagte: Mit großer Macht kommt große Verantwortung.
Um also endlich deine Frage zu beantworten: Ich persönlich halte Weltraumforschung und die Suche nach Möglichkeiten zu interstellaren Reisen für sehr wichtig – denke aber auch, dass all das in rein zivilen Händen liegen sollte, und zwar nicht in Händen von größenwahnsinnigen alten weißen Männern wie Elon Musk. Natürlich heißt das nicht, dass wir die Probleme hier auf der Erde sich selbst überlassen sollten – aber muss es denn ein „entweder oder“ sein? Ich bin ein großer Freund des „und“ – fürchte aber, dass der weltweit zu beobachtende Trend gerade eher ein „weder noch“ ist.
Viele von den Orten, die du auf „Transneptunian“ bereist, befinden sich gleichzeitig unvorstellbar weit weg von unserer Erde und doch angesichts der Größe des Universums in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Selbst die Voyager-Sonden haben seit ihrem Start Ende der 1970er Jahre erst weniger als ein Zehntel der Entfernung zur Oortschen Wolke zurückgelegt, dem Ziel der auf „Transneptunian“ beschriebenen Reise. Wie lange wird es deiner Meinung nach dauern, bis die ersten Menschen diese Regionen des Weltalls selbst bereisen werden? Oder wird dies auf immer ein unerfüllbarer Traum bleiben?
Schön, dass dir die Kombination aus „unvorstellbar weit weg“ und „unmittelbarer Nachbarschaft“ aufgefallen ist – das war tatsächlich die Idee der transneptunischen Region als Konzept. Douglas Adams hat in „Per Anhalter durch die Galaxis“ treffend gesagt, dass ein sehr sehr sehr großer Raum einen besseren Eindruck von Unendlichkeit vermittelt als Unendlichkeit selbst:
It wasn’t infinity in fact. Infinity itself looks flat and uninteresting. Looking up into the night sky is looking into infinity – distance is incomprehensible and therefore meaningless. The chamber […] was anything but infinite, it was just very very very big, so big that it gave the impression of infinity far better than infinity itself.
Diese Idee spiegelt sich in „Transneptunian“ wieder – der äußere Bereich unseres Sonnensystems ist, obwohl immer noch sehr sehr sehr weit weg, „besser“ vorstellbar als die Entfernung der Sterne, die wir am Nachthimmel sehen…
Wenn man die Erde auf die Größe einer Murmel von etwa einem Zentimeter Durchmesser schrumpfen könnte, wäre die Sonne maßstabsgetreu eine Kugel von knapp eineinhalb Meter Durchmesser – in 150 Metern Entfernung. Neptun wäre in diesem Modell als fünf Zentimeter messende Kugel in viereinhalb Kilometern Entfernung zu finden. Sedna (das am weitesten entfernte transneptunische Objekt, das auf „Transneptunian“ vertreten ist) würde sich zwischen zwölf und 150 Kilometern Entfernung von der Sonne bewegen. Zum Vergleich: Um den der Sonne am nächsten gelegenen Stern (Proxima Centauri) zu erreichen, müsste man nach diesem Maßstab einmal komplett um die (echte) Erde – vierzigtausend Kilometer…
Ich glaube nicht, dass Menschen noch zu meinen Lebzeiten auch nur bis zum Jupiter vordringen werden – so wichtig ich Weltraumforschung auch finde, es zeigt sich momentan leider (insbesondere in den USA) ein massiver Niedergang naturwissenschaftlicher Bildung, die für eine sichere Reise in den Weltraum schlicht unerlässlich ist; und so lange es keine wirtschaftlichen Anreize in Form von einfach abzubauenden Bodenschätzen oder günstigen Wasserstoffquellen in den Gasriesen Jupiter und Saturn gibt, wird es auch niemanden geben, der oder die das finanziert. Der Traum wird dadurch sicher nicht grundsätzlich unerfüllbar – aber ich sehe ehrlich gesagt mittelfristig eher die Tendenz zu noch stärker wissenschaftsfeindlicher Politik, und zwar nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland. Es ist schon auffällig, dass Rechtspopulismus immer mit Feindseligkeit gegenüber der (Natur-)Wissenschaft einhergeht…
Lass uns zum Abschluss wieder zurück zu deinen musikalischen Aktivitäten und zu FLUORYNE kommen. Wie wird es mit dem Projekt weitergehen? Weißt du schon, in welche Richtung du dich zukünftig entwickeln möchtest? Und welche Pläne hast du hinsichtlich anderweitiger musikalischer Engagements?
Fest steht bisher nur, dass es von FLUORNYE auch zukünftig Musik geben wird – wann es diese gibt oder wie genau die klingen wird, lässt sich momentan weniger sagen. Ich spiele gerade mit einigen ersten Ideen, es ist aber noch viel zu früh, um genauere Aussagen zu treffen. Was ich relativ sicher sagen kann, ist, dass die elektronische Komponente auch weiterhin eine große Rolle spielen wird.
Andere musikalische Engagements sind – mit einer Ausnahme, auf die ich dann gleich noch eingehe – aktuell zumindest nicht konkret in Aussicht. Es kann sein, dass es im Rahmen des Endzeit-Kollektivs irgendwann mal Pläne für Kooperationen geben wird, und es ist auch gut möglich, dass ich einen Beitrag zur nächsten VYRE-Veröffentlichung leiste, auch wenn ich kein festes Bandmitglied mehr bin.
Was momentan ganz konkret ansteht, ist die „Reunion“-Show von GEIST auf dem Ragnarök-Festival Ende April: Anlässlich des zwanzigsten Bandjubiläums hat Alboin die „Galeere“-Besetzung von 2009 reaktivieren können und wir werden ein Set mit Songs von den ersten drei Alben („Patina„, „Kainsmal“ und „Galeere„) spielen. Wir haben alle ziemlich Bock darauf und proben gerade fleißig…
Danke Falk für das spannende Gespräch und wir wünschen Dir für die Zukunft alles erdenklich gute!
