Nine Inch Nails - The Downward Spiral

Review

Ist ja schon erstaunlich, womit sich die NINE INCH NAILS alles brüsten können, mal abgesehen von einer nicht immer ganz überschaubaren Diskografie aus Full-Length-Alben, EPs, Remix- und Live-Platten und dergleichen mehr, alles aber fein säuberlich durchnummeriert. Nicht nur haben Trent Reznor und Co. Wegweisendes für elektronische Musik geschaffen, auch konnte die Band natürlich zahlreiche Charterfolge verbuchen. Dazu gewannen sie mit dem Song „Wish“ schon vergleichsweise früh in ihrer Karriere einen Grammy und genossen generell erstaunlich viel Airplay für die Musik, die sie spielten (und immer noch spielen). Man verallgemeinert den Sound ja gerne als Industrial, aber natürlich steckt doch so viel mehr Expressivität hinter der Musik.

Zu den populärsten und einschlägigsten Einträgen in ihrer Vita gehören zweifelsfrei auch die Schützenhilfe für die Karriere von MARILYN MANSON, zudem ein Oscar, den Trent Reznor zusammen mit Atticus Ross für die Komposition des Soundtracks zu „The Social Network“ von David Fincher erhalten haben. Das ist zwar nicht direkt den NINE INCH NAILS zuzuschreiben, da Trent Reznor aber im Grunde von Beginn an die NINE INCH NAILS als einzig beständiges Mitglied, ach was: als Dreh- und Angelpunkt des Geschehens verkörpert, kann man hier die Brücke schon schlagen. Und dann ist da natürlich die unglaublich große Ehre, dass Johnny Cash einen ihrer Songs gecovert hat – und wer kann das schon von sich behaupten.

Ein morbider Hintergrund?

Und „Hurt“ bietet auch die ideale Überleitung zum Gegenstand der dieswöchigen Klassiker-Review: „The Downward Spiral“ (oder auch: „Halo 8“), das wohl bekannteste Album der Industrial-Titanen. Aber es ist auch nicht gerade leichte Materie, gerade wenn man sich mit der Platte im Sinne einer retrospektiven Review auseinander setzt. Im Grunde bildeten Kalkül und Zufall zusammen die Grundlage für ein beeindruckend bedrückendes Album, dem man gemeinhin autobiografische Züge zuschreibt – und die persönlichen Probleme Reznors, die vor allem in der Phase zwischen „The Downward Spiral“ und „Fragile“ zu Tage kamen, untermauern dies natürlich. Im Mittelpunkt dieses Albums stehen Themen wie Selbstzerstörung und Kontrollverlust, die in ein Konzept über den Zerfall eines Menschen verwoben werden.

„The Downward Spiral“ ist aber auch von Grund auf ein vielschichtiges Konstrukt, das sowohl durch seine Machart, seine Hintergrundgeschichte und nicht zuletzt seine Songs besticht. Zunächst einmal wurde sehr viel mit Soundmanipulation gearbeitet. Die Sounds wurden förmlich dekonstruiert und gewinnen dadurch teilweise eine geradezu abstrakte Form, die sie an einigen Stellen ein bisschen in Richtung Noise rücken lassen. Dann ist da natürlich der berüchtigte Umstand, dass Reznor bereits zu den Aufnahmen der EP „Broken“ nach 10050 Cielo Drive gezogen ist, das Haus, in dem Sharon Tate von der Manson Family umgebracht worden ist und dessen Studio Reznor für die Dauer seines Aufenthaltes in „Le Pig“ umgetauft hatte in Anlehnung an jenes Ereignis.

Zu Beginn habe ihn der Aufenthalt an diesem Ort beängstigt. Natürlich war er sich der Bedeutung des Hauses vollkommen bewusst, so schien ihn eine gewisse Neugier sowie das Interesse an diesem morbiden Stück US-amerikanischer Geschichte an jenen Ort zu treiben. Als er eines Tages jedoch durch Zufall durch Patti Tate damit konfrontiert worden sei, ob er den Tod ihrer Schwester nur ausnutze, sei ihm das tatsächliche Ausmaß dieser Situation erst richtig bewusst geworden. Er habe erst dann gemerkt, wie makaber sein Verhalten eigentlich gewesen ist, und distanzierte sich im folgenden von den Morden.

NINE INCH NAILS setzen sich ein Denkmal

Unabhängig davon, ob das jetzt nur ein (unreflektierter?) PR-Stunt war oder nicht, lässt sich der Effekt durch das Wissen um den Hintergrund der Aufnahmen nicht absprechen: Dem Album wohnt eine zermürbende, drückende Stimmung inne, die nicht zuletzt auch durch Musik untermauert wird. „The Downward Spiral“ speist sich in seinen eingängigeren Momenten noch aus den Synth-Pop-Einflüssen, die das Full-Length-Debüt „Pretty Hate Machine“ (a. k. a. „Halo 2“) ausgemacht haben, immerhin hat Reznor auch hier mit Mark „Flood“ Ellis (u. a. DEPECHE MODE) zusammengearbeitet. So stellt sich ein „Heresy“ trotz seiner lyrisch schwergewichtigen Thematik als kompetenter, peppiger Keulenschwinger mit Rock-Kante heraus, während „Ruiner“ nicht weniger tanzbar mit geradezu bombastischen Synth-Refrain daher kommt.

Doch setzte Reznor darüber hinaus wie erwähnt mehr auf digitale Soundmanipulation, welche die Songs nicht nur verzerrter und verdrehter klingen ließ, sondern dem Album auch eine intensive, beinahe manische Aggressivität verleiht. Die Aggression bekommt der Hörer gleich auf dem eröffnenden „Mr. Self Destruct“ zu spüren, das durch ein Sample aus dem Film „THX 1138“ eingeleitet wird. Die dumpfen Schläge, die gesamplet werden, nehmen an Frequenz zu und leiten nahtlos in den unruhigen, treibenden Rhythmus des Songs über. Die verzerrte Klangkulisse erzeugt schon den Eindruck eines verstörten Gemüts, das der lyrischen Persona ohne Zweifel angedichtet worden ist. Auch die Gitarren, vor allem gegen Ende des Tracks, beigetragen von Adrian Belew übrigens (u. a. ex-KING CRIMSON), verstärken diese Vibes.

Die Ästhetik der Hässlichkeit

Dem folgen Songs unterschiedlicher Intensität, die sich zu einem Konzeptwerk über den menschlichen Verfall eines Individuums zusammen fügen. Über die sexuellen Umtriebigkeiten des Protagonisten, z. B. in „Piggy“ oder berüchtigter in „Closer“ (nicht zuletzt auch Dank des provokativen Musikvideos), über die mörderischen Exzesse, etwa „Big Man With A Gun“, hin zum angedeuteten Eingeständnis der eigenen Schuld, dargestellt durch „A Warm Place“, und der (wiederum angedeuteten?) Selbstzerstörung bei „Eraser“ und später – weitaus prominenter – bei „Hurt“ exerziert Trent Reznor diesen Verfall im Detail durch und verschont seine Hörer auch nicht mit den Details. Dieses Album profitiert im Gegenteil durch eine Ästhetik der Hässlichkeit, während Reznors inbrünstige Gesangsdarbeitung jederzeit hervorragend ins Geschehen passt.

Und unter Verwendung entsprechend starker Bildsprache entwickelt sich beispielsweise ein „Reptile“ zu einem durch und durch monströsen Stampfer, auch dank der ungelenken Synthesizer, die immer wieder auf den Hörer einhämmern. Auch ein „March Of The Pigs“ profitiert von einschlägiger Lyrik, wobei der Song generell durch seine enorme Aggressivität und seine unregelmäßige Rhythmik besticht. Da stellt die ansprechende Klavierornamentik, besonders zum Ende des Tracks hin, fast einen erholsamen Gegenpol dar. Regelrechte Verzweiflung drücken die gespielten Tritoni aus, die bei „Hurt“ den desolaten Gesang Reznors begleiten. Auch die zu einer Art Mantra gewordene Zeile „Nothing Can Stop Me Now“ scheint in mehreren, kontextuellen Zusammenhängen im Album (und darüber hinaus) Verwendung zu finden.

Der Einschlag der „Downward Spiral“

Mit „The Downward Spiral“ haben sich die NINE INCH NAILS schlicht und ergreifend ein Denkmal gesetzt, das jedoch nicht nur musikalisch, sondern auch zeitgeschichtlich einschlug. So war das Album aufgrund seiner einschlägigen Lyrics unter anderem Gegenstand der Diskussionen und Verhandlungen im Zuge des Massakers von Columbine über den negativen Einfluss, den Medien auf Menschen haben. Auch zeigte das kontroverse Musikvideo zum Song „Closer“ enorme Wirkung hinsichtlich des Diskussionspotentials von „The Downward Spiral“. Das Album ist schlichtweg auf mehreren Ebenen eingeschlagen – nicht alle waren natürlich im Sinne des Erfinders.

Bleibt man beim musikalischen Teil, steht fest, dass die Platte aufgrund ihrer grenzüberschreitenden Beschaffenheit und herausragenden Ausarbeitung hervorragend gealtert ist und nichts von ihrer ursprünglichen Durchschlagskraft eingebüßt hat. Es ist schlicht und ergreifend Reznors Magnum Opus, dessen Spuren man bis in die moderne Synthwave-Szene verfolgen kann. Da kann selbst der Oscar funkeln, wie er möchte…

07.08.2019

Redakteur für Prog, Death, Grind, Industrial, Rock und albernen Blödsinn.

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