
Natürlich die Naht!
Ein Beitrag zur Kuttentheorie
Special
Die folgenden Ausführungen zur Kutte verstehen sich als Denkanstoß und möglichen Auftakt zum Diskurs. Sie sind in diesem Sinne bewusst knapp gehalten.
Innerhalb der Metal-Szene sind bis auf vereinzelte Ausnahmen im Prinzip „alle Individuen“ (Brian). Was bleibt dir also noch? What makes your battle vest best?
Das entscheidende Element ist die Naht. Sie vereint die notwendige Distinktionsschärfe mit dem angemessenen Maß an Understatement und Stil. Insofern ist sie dem ebenfalls verstärkt auf der Kutte platzierten Festivalbändchen trotz dessen Credibility-Vorsprungs überlegen. Gleiches gilt hinsichtlich des vereinsmeierischen Patches oder Pins diverser (im schlimmsten Fall auch noch befreundeter) Metal-Fanclubs. Dass der Fokus auf die Naht dich aus allen Dilemmata des reflektiert handelnden Metalheads des 21. Jahrhunderts entlässt, sei dabei nicht behauptet.
Die Naht bietet Distinktionsschärfe
Vor allem die im fortschreitenden Alter potenziell relevanten Spannungsfelder zwischen a) Flickenteppich und Mut zur Lücke und b) Genretiefe und musikalischer Heterogenität bleiben natürlich bestehen. Gleiches gilt für grundlegend (oder auch immer wieder) zu treffende Entscheidungen wie diejenigen zwischen „Tribut“ oder Lizenzware, bedruckten oder gestickten Patches oder auch die Installation eines dominierenden Backpatches.
Aber die Naht bietet (jedenfalls Stand 2025 bzw. auf absehbare Zeit) ein robustes Geländer, das dir die Sicherheit gibt, unter Internet-Bedingungen verantwortungsvoll zu agieren. Über sie kannst ggf. auch risikoreich agieren, ohne gleich all in zu gehen. Oder blumig formuliert: Die Naht ist der dezente Sattel, der dich das Biest Internet reiten lässt, während all die Plumpen (nur was in Grün) oder Ewiggestrigen (ausschließlich NWOBHM bis ’83) schon verzweifelt im Staub liegen und sich ans Autogramm-Tattoo klammern (müssen).
Die veränderten Rahmenbedingungen bieten Chancen
Denn dem „Verfügbarkeits-Schock“ kannst du durch die Naht tatsächlich wirkungsvoll begegnen – und zwar, indem du die veränderten Rahmenbedingungen akzeptierst und nutzt, als Chance betrachtest.
(Zum Verfügbarkeitsschock sei kurz angemerkt: Die bis zur Jahrtausendwende für die Güte der Kutte entscheidenden (interferierenden) Faktoren Bandkenntnis, Konzertbesuchshistorie und persönlicher Geschmack sind zwar weiterhin bedeutsam. Die tatsächlich aufzuwendende (Front-)Arbeit innerhalb der Szene ist allerdings mindestens in Teilen obsolet geworden. Die internetbasierte allgemeine Verfügbarkeit von Musik, Devotionalien und kontextualisierenden Informationen erlaubt es prinzipiell bei entsprechenden zeitlichen und monetären Ressourcen, von zu Hause aus High-Status-Kutten zu erstellen, die nicht ohne Weiteres als Biografie-Surrogate identifizierbar sind. Seiten wie Bandcamp oder auch (unspezifischer) ebay stellen dabei nur zwei zentrale Elemente der Auslösung und Verstärkung des „Verfügbarkeits-Schocks“ dar.)
Wirkmacht durch Gestaltungsmöglichkeiten
Ihre Wirkmacht erlangt die Naht in diesem Kontext dabei zum einen durch die Gestaltungsmöglichkeiten, welche ihr eingeschrieben sind: Im Detail differieren können Textur und Material (Ist in die feine Struktur Gold eingewoben?), Breite und vor allem Höhe (Werden drei Millimeter nicht unter- und fünf (möglichst) nicht überschritten?) sowie die Farbe (Werden das Schwarz überschreitende Wege gegangen?). Der Stellenwert der Optik der Naht ist schließlich gegenüber der Limitierung jeweils abzuwägen. Eine generell gültige Formel existiert dabei nicht, schließlich sind (bei tendenzieller Überlegenheit von Death-Metal-Rot und insbesondere Doom-Lila) die bildnerische Gestaltung des Patches selbst sowie dessen erwartbare Nachbarschaft auf der Kutte zu beachten. Als Faustregel kann jedoch gelten, dass eine Limitierung im zweistelligen Bereich (abhängig vom Bekanntheitsgrad resp. Underground-Status der repräsentierten Band) bzw. ein erkennbarer (50+)-Abstand nach oben zur Limitierung gleicher Patches mit abweichender Naht solide auf die Verwendbarkeit eines Produkts verweist.
Die Naht gibt deiner Metal-Biografie Struktur
Zum anderen ist neben ihrer flexiblen Gestaltung die Lokalisierung der Naht ihr Trumpf, vielleicht ihr entscheidender. Sie bildet gleichermaßen Rahmen und Brücke, sie gibt Halt und grenzt ab, während sie ebenso vermittelt wie Grenzen überschreitet. Kurzum: Sie gibt der Landkarte deiner Metal-Biografie Struktur. Sie gestaltet die Konfrontation von Bands, von Epochen, von Genres. Die Analyse möglicher Fälle goutierbarer Nahtlosigkeit (Crust-Schwerpunkt, T-Shirt-Exzerpte, nichts anderes von der Band verfügbar) würde den Rahmen dieser Einlassungen sprengen.
Und natürlich stellt die Naht auch den neuralgischen Punkt dar, den trotz aller Expressivität höchst intimen Bereich, in dem du in die Kutte stichst, dein heißes Herz deine ruhige Hand fordert. Die Naht, sie formt deine Reputation. Wenn du sie lässt.
Die Kolumne „St. Anger – Die Meinungsmache“ ist, wie der Name schon sagt, Meinung. Begründet, aber gefärbt, wertend und vielleicht provokativ – und jeder Artikel ist das Produkt eines kleinen Teils der Redaktion. Daher spiegelt der Inhalt des Artikels auch nicht unbedingt die Ansichten der gesamten Redaktion wider.
Interessante Alben finden
Auf der Suche nach neuer Mucke? Durchsuche unser Review-Archiv mit aktuell 38101 Reviews und lass Dich inspirieren!
Marek Protzak
































Schon möglich, das alles. Ich hatte nie ’ne Kutte.