The Vision Bleak
Träume im Horrorhaus: "The Unknown" vorab gehört

Special

The Vision Bleak

Es begab sich an einem verregneten Tag, dass mich meine geschätzten Mit-Lovecraft-Verehrer THE VISION BLEAK zu sich einluden, um mir ihr neues Horrorwerk mit dem Titel „The Unknown“ vorzustellen. Schon bei der Ankunft bemerkte ich, dass sich die beiden mir altbekannten Urheber der neuen Schauergeschichten verändert hatten. Sie wirkten anders, unnahbarer, weniger direkt, als ich sie kennengelernt hatte. Weht bei THE VISION BLEAK im Jahre des Herrn 2016 etwa ein anderer Wind als zuvor? Haben die zwei Köpfe jenes Schauerprojektes etwa gänzlich neue Leichen im Keller?

Diese Frage ist die Kernfrage des heutigen Abends, wie sich im weiteren Verlauf herausstellen wird. So lege ich jedem interessierten Hörer ans Herz: Man lasse sich darauf ein, dass THE VISION BLEAK auf „The Unknown“ etwas wahrhaft Unbekanntes zelebrieren, dass die beiden morbiden Künstler darauf auf von ihnen nicht gänzlich, aber doch weitestgehend unbetretenen Pfaden wandeln. Dies macht schon die Kunst klar, mit der Herr Konstanz und Herr Schwadorf die Tür zu ihrem neuen Horrorhaus verkleidet haben: Erstmalig in der Historie THE VISION BLEAKs stammt diese nicht aus der Feder ?ukasz Jaszaks, sondern aus der des britischen Gentlemans mit Namen Dan Seagrave, dessen Kunst dem einen oder anderen meiner Leser bereits von den Werken DISMEMBERs, MORBID ANGELs oder ENTOMBEDs bekannt sein dürfte.

Modriger Geruch und fahles Licht fallen mir entgegen, als die Herren Konstanz und Schwadorf mir die Tür offen halten und mich, mit schaurig-diabolischer Mimik, höflichst bitten, einzutreten. Die Eingangshalle ihres Horrorhauses verschlägt mir den Atem: Schimmel an den Wänden, modriger Geruch, der süßliche Gestank verrottenden Fleisches. Die perfekte Atmosphäre, um das neue Werk THE VISION BLEAKs zu genießen?

Mit teuflischem Grinsen deutet mir Herr Konstanz an, doch in einen alten Ohrensessel Platz zu nehmen. Staub wirbelt auf, als ich mich setze, doch das nehme ich nicht wahr. Denn alle meine Sinne werden von einem altarhaft aufgebauten Tischlein in Beschlag genommen, auf dem ein Grammophone ruht. Eine seltsame Aura geht von dem Gerät aus – doch, halt, nein: Es ist nicht das Grammophon selbst, welches diese Aura ausstrahlt. Es ist die Schellackplatte, die darauf, noch unbewegt, ruht. „The Unknown“ ist darauf vermerkt. Mit wissendem Lächeln bringt Herr Schwadorf die Platte zum Laufen und legt die Nadel auf. Kaum erklingen die ersten Töne, fühle ich mich als Gefangener der Kunst THE VISION BLEAKs … wird es vor „The Unknown“ ein Entkommen geben?

„Spirits Of The Dead“

Wie von THE VISION BLEAK gewohnt, präsentieren die beiden Gentlemen zunächst einen Prolog als Einführung in ihre neuen Schaurigkeiten. Und dennoch wirkt „Spirits Of The Dead“ anders: nicht pompös, nicht so direkt wie die Prologe voriger Werke. Akustikgitarren malen hintergründige Melodien, ein Piano gesellt sich dazu. Herr Konstanz ergänzt das Geschehen mit ruhigem Gesang, wie nur er ihn zelebrieren kann.

„From Wolf To Peacock“

Mit „From Wolf To Peacock“ führen mich THE VISION BLEAK zum ersten wahrlichen Kapitel ihres neuen Schauerwerkes. Der Übergang aus dem Prolog in den ersten Titel von „The Unknown“ gestaltet sich als sehr hart und überraschend. Fast erinnert das Hauptthema des Stückes gar an schwarzmetallische Extremauswüchse solcher Horrorkollegen wie DIMMU BORGIR, eine melodische Leadgitarre liegt über hartem Schlagzeugspiel und einer rasenden Rhythmusgitarre, während das elektronische Sinfonieorchester im Hintergrund düstere, doch eingängige Klänge anstimmt. Im hinteren Teil des Raumes zeigen sich THE VISION BLEAK dann doch von altbekannter Seite und lassen einen jener schweren Höllengrooves auf mich los, für die wohl nicht nur ich die Band so sehr schätze. Ein hartes und düsteres Kapitel, mit dem „The Unknown“ beginnt, doch mit einer eindringlichen, beinahe verträumt wirkenden Gitarrenmelodie ausgestattet.

„The Kindred Of The Sunset“

Herr Konstanz und Herr Schwadorf geleiten mich weiter in den nächsten Albtraum ihres neuen Horrorwerkes. „The Kindred Of The Sunset“ ist das zweite vollwertige Kapitel benannt, und man kennt es bereits von einer früheren Auskopplung auf der Kurzanthologie mit gleichem Namen. Dieses Kapitel ist wohl das für THE VISION BLEAK gewöhnlichste auf „The Unknown“, bietet es doch mit seinem stampfenden Einstieg, seinem eingängigen Kehrvers und seiner tollen, tanzbaren Rockweise klassische THE VISION BLEAK-Kunst. Mit dem akustischen Intermezzo in der Kapitelmitte, das dem Stück eine mysteriöse, geheimnisvolle Atmosphäre verleiht, beweisen die Urheber jedoch, dass ihnen das Gewohnte für „The Unknown“ zu wenig ist.

„Into The Unknown“

Das nächste Kapitel. Schleppend nach Art des Doom Metal beginnt „Into The Unknown“, umhüllt mich mit seiner atmosphärischen Herangehensweise, legt mich damit aber gut herein – denn sofort geht es mit einem stampfenden, wuchtigen Teil weiter. Eine einsame Töne spielende Leadgitarre in der ansonsten reduzierten Strophe frisst sich durch ihre eindringliche Art aus dem Hintergrund heraus direkt in mein Gehirn, bevor ein majestätisch-erhabener Refrain einen DER Höhepunkte von „The Unknown“ darstellt. Gelegentliche Twin-Gitarren-Motive hinterlassen zudem einen Eindruck, als wären THE VISION BLEAK bei der Komposition dieses Stückes von den frühen Großmeistern des metallischen Horrors, IRON MAIDEN, besessen gewesen.

„Ancient Heart“

Ein rhythmischer Start erschlägt mich zu Beginn des nächsten Kapitels „Ancient Heart“. Flöte, geflüsterter Gesang und chorale Elemente verleihen dem Stück einen morgenländischen Hauch, während sich im weiteren Verlauf schnelle Teile mit der Rhythmik des Thrash Metal sowie beschwörungshaften Formeln abwechseln. Ein variables, seltsames und okkultes Kapitel, das aber gerade damit eine Menge Reiz besitzt.

Ich bin gefangen.

Vier Kapitel plus Prolog haben mich THE VISION BLEAK bis hierher in ihrem Horrorkeller erfahren lassen, und langsam wird die schwefelige Luft erdrückend, das fahle Licht macht den Anschein, als solle hier nie wieder Sonne scheinen. Herr Konstanz und Herr Schwadorf stimmen mir in einer kurzen Atempause zu – anders sollte „The Unknown“ sein, sagen sie, düsterer, variabler, atemloser. Eben unbekannter. Ich frage mich, was noch kommen mag – während ein Teil von mir hofft, doch irgendwann wieder das Sonnenlicht zu erblicken, ist ein anderer Teil meiner Seele gefesselt von den Schauergeschichten, die mir THE VISION BLEAK mit „The Unknown“ erzählen, und macht keinerlei Anstalten, die Flucht zu wünschen.

Und während ich mir noch halb bewusst werde, wie mich THE VISION BLEAK mit ihren neuen morbiden Hexereien in die Falle gelockt haben, fahren Herr Konstanz und Herr Schwadorf fort.

„The Whine Of The Cemetery Hound“

Das nächste Stück, „The Whine Of The Cemetery Hound“, ist wie „The Kindred Of The Sunset“ bereits von der vorab veröffentlichten Kurzanthologie bekannt und erschlägt mich mit einem doomig-schleppenden Bombast-Einstieg, bevor mir die auf das Wesentliche reduzierte Strophe Luft zum Atmen lässt. Ein akustisches Intermezzo samt Piano-Einlage wirkt beruhigend, bevor der plötzliche Wiedereinstieg samt harschem Gesang im weiteren Verlauf erneut erschlagend wirkt, darin jedoch eine Menge Kraft und Stärke zeigt. „The Whine Of The Cemetery Hound“ ist ein mal hartes, dann jedoch wieder lieblich-ruhiges Kapitel, dessen Reiz vor allem aus dem Kontrast seiner beiden Extreme besteht.

„How Deep Lies Tartaros?“

Nach der ruhigen Endnote des vorigen Kapitels bietet das nächste solche, „How Deep Lies Tartaros?“ einen plötlichen, überfallenden Wiedereinstieg, der sich hart und pfeilschnell, aber mit einer melodischen und eingängigen Leadgitarre profiliert. Das gehobene Tempo führen THE VISION BLEAK zunächst fort, bevor ein langsamerer Abschnitt mit jenem für diese Band klassischen Groove folgt. Ein akustischer Teil und dann harsche Gesänge im Übergang zurück in das Hauptthema sind angehängt, gegen Ende lösen die Horrormeister die schaurige Atmosphäre hin zu blutigem, brutalem Knochengebreche.

„Who May Oppose Me?“

Bevor es in das letzte Stück von „The Unknown“ geht, schieben THE VISION BLEAK ein Zwischenkapitel namens „Who May Oppose Me?“ ein, worin sie eine träumerische, weitsichtige, emotionale Note ins Schauerspiel bringen. Elektronische Streicher, eine akustische Gitarre sowie hintergründige Percussion dominieren „Who May Oppose Me?“.

„The Fragrancy Of Soil Unearthed“

Das letzte Kapitel „The Fragrancy Of Soil Unearthed“ hingegen schwingt mit seinem schweren Einstieg einen kräftigen Haken in meine Magengrube. Es folgen ein rockiges, leicht getragenes Hauptthema mit nachdenklicher Note im Gesang des Herrn Konstanz. Der letzte Kehrvers von „The Unknown“ (obgleich man in keinem der Kapitel darin eine typische Strophe-Kehrvers-Struktur zu finden in der Lage sein wird) zeigt THE VISION BLEAK abermals von ihrer schweren und eingängigen Seite, im Mittelteil gesellt sich erneut harscher Gesang dazu, in der emotionalen Klimax führt ein weinendes Moll-Gitarrenduett in einen heftigen, schleppenden Teil, bevor am Ende auf Konstanz‘ Kommando „Silence!“ abermals die Streicher stehen.

Der Spuk ist vorbei … oder?

„The Unknown“ ist zu Ende, die Herren Konstanz und Schwadorf beenden ihre Erzählung und schauen mich an. Werde ich in der Lage sein zu gehen? Oder halten mich THE VISION BLEAK als freiwilligen Gefangenen in ihren unheiligen Hallen, als der ich mich fühle?

Herr Konstanz stellt mich vor die Wahl. Zu meiner Linken eine Tür zurück ans Sonnenlicht und in den Alltag. Zu meiner rechten Tür der Weg zurück zum Anfang von „The Unknown“. Etwas in mir sträubt sich, als ich nach der Klinke der rechten Tür greife. War da nicht etwas dort draußen? Das Leben, die Welt? Aber was tut das schon zur Sache, wenn man sich solch ungeheurem Wissen, solch unheimlicher Weisheit und derart sinisterer Kunst ausgesetzt fühlte?

Ich drücke die Klinke der rechten Tür und begebe mich zurück in die Eingangshalle, erneut ertönt der Prolog von „The Unknown“. Alles beginnt von vorne, und das ist gut. „The Unknown“ ist eine Sucht, die gestillt werden will. Ich trete ein in den ersten Raum und schaue THE VISION BLEAK erwartungsvoll an, sie mögen doch ihre Geschichte noch einmal erzählen. Konstanz und Schwadorf lächeln wissend, und während mir der verhexte Ohrensessel noch seine Fesseln anlegt, platziert Schwadorf abermals die Nadel auf der Schellackplatte …


„The Unknown“ von THE VISION BLEAK erscheint am 3. Juni 2016 via Prophecy Productions. Es wird neun Titel bei einer Gesamtspielzeit von 48:17 Minuten beinhalten. Eine Review und ein Interview werdet ihr bei uns auf metal.de zeitnah zur Veröffentlichung des Albums finden.

12.05.2016
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