Obscura
"Ich bin Musiker und kein Gitarrenlehrer"

Interview

Steffen Kummerer ist gut gelaunt. Berechtigterweise, denn er hat soeben mit seinen Bands THULCANDRA und OBSCURA starke Alben veröffentlicht, die bei Fans und Presse auf großes Wohlwollen stoßen. Wir sprachen den redseligen und analytischen Sänger und Gitarristen im Oktober und nutzten die Gelegenheit, uns tiefgründig über das neue OBSCURA-Album “A Valediction” zu unterhalten. Lest hier das Gespräch, das Kollegin Angela mit Steffen zu THULCANDRAs “A Dying Wish” geführt hat.

Grüß dich Steffen! Wie geht’s dir?

Gut, danke. Gibt viel zu tun mit den beiden anstehenden Veröffentlichungen von OBSCURA und THULCANDRA.

Das glaub ich dir. War es Absicht oder dem Zufall geschuldet, dass du jetzt mit OBSCURA und THULCANDRA so dicht aufeinander zwei Alben mit zwei Bands in der Pipeline hast?

Mhh, das war schon eher dem Zufall geschuldet. Die OBSCURA-Platte hätte genauso gut ein halbes Jahr früher erscheinen können, aber die Pandemie hat uns da ein bisschen ’nen Strich durch die Rechnung gemacht. Wir mussten den ursprünglich geplanten Studiotermin verlegen, weil die Mitmusiker aus Österreich und den Niederlanden nicht einreisen durften. So mussten wir im Prinzip den ganzen Studioaufenthalt neu planen und das hat alles einfach verzögert. Dem Resultat hat es jetzt nicht geschadet, aber dadurch hat es sich dann einfach so ergeben, dass beide Platten relativ zeitgleich erscheinen. Auf der anderen Seite – mein Gott, gibt’s mehr zu erzählen, haha.

Über THULCANDRA können wir heute leider nicht sprechen, da mir die Platte leider noch nicht vorliegt, aber umso mehr freue ich mich, dass wir über ein neues OBSCURA-Album sprechen können.

Ihr habt gerade mit “Diluvium” einen Vier-Alben-Zyklus beendet, dem ein durchgängiges Konzept zugrunde lag. Wie seid ihr bzw. bist du jetzt die neue Platte angegangen? Ist das wieder der Auftakt zu einer größer angelegten Serie oder steht “A Valediction” jetzt erst mal so für sich?

Ja also mit Abschluss des Vier-Alben-Konzepts haben wir nicht nur das Kapitel beendet, sondern noch viel mehr erneuert. Wir haben einen neuen Produzenten. Wir haben bisher 18 Jahre mit dem gleichen Produzenten (Victor “Santura” Bullok; DARK FORTRESS, TRIPTYKON und NONEUCLID) gearbeitet, wir haben die Plattenfirma gewechselt, wir haben das Line-up gewechselt. Ein großes Kapitel wurde beendet und jetzt war es möglich, befreit etwas Neues zu starten. Das heißt, “A Valediction” ist wieder Teil einer Konzeptreihe, aber ein bisschen freier als die vorherigen Alben.

Bei den vergangenen Alben war ich nicht unbedingt eingeschränkt, aber der Rahmen war einfach sehr eng. Weil von vornherein klar war, welche Alben wie klingen sollen, was den textlichen Inhalt betrifft. Jetzt mit “A Valediction” geht das ein bisschen einfacher, weil ich mir die Rahmen oder die Konzeptlinien nicht so eng stecke. Ganz grob heißt das, “A Valediction” ist auch wieder ein Konzeptalbum, aber nicht so starr. Ich habe ein übergeordnetes Thema und schreibe dazu freie Interpretationen zu einem Titel. Wie zum Beispiel “A Valediction” – farewell, Abschied, Sachen hinter sich lassen. Das ist relativ frei zu interpretieren und lässt mir mehr Spielraum für unterschiedliche Facetten, weniger abstraktes Schreiben. Das hat auch dazu geführt, dass das neue Album im Gesamteindruck viel mehr “menschlich” ist. Nicht nur die Aufnahmen, auch das Artwork, die Lyrics und so weiter wurden absichtlich viel nahbarer konzipiert.

Hat eine neue Signature-Gitarre von ESP und ist sichtlich zufrieden: Steffen Kummerer.

Das fängt bei der Musik an. Die Musik wurde von Grund auf für die Bühne geschrieben. Alles, was wir auf der Platte führen ist live auf der Bühne eins zu eins aufführbar. Das fand ich sehr wichtig. Wir machen Musik nicht für Musiker, sondern einfach für jeden, der die Musik hört. Ich geb’ abends keine Clinic auf der Bühne, ich muss auch nix beweisen. Dafür bin ich viel zu lang dabei. Daher wollte ich die Songs nachvollziehbarer und verdaubarer gestalten. Die Produktion wurde ein bisschen offener, ein bisschen rauer. Es gibt natürlich keinen Fehler auf dem Album, aber … es ist nicht so poliert. Es wirkt nicht so durcheditiert.

Das fußt natürlich auf der Musik. Wenn du hochkomplexe Musik mit 5000 Polyrhythmen schreibst, dann muss es natürlich auch entsprechend clean, poliert und steril klingen, weil du sonst die ganzen Details gar nicht mehr wahrnehmen würdest. Das heißt, der Grundgedanke war, die Musik so zu gestalten, dass wir mit dem Album in eine entspanntere oder nahbarere Richtung gehen wollten.

Das ist auf alle Fälle sehr schlüssig, wenn man das Album hört. Du hast es gerade schon angesprochen und damit die nächsten drei, vier Punkte auf meiner Liste vorweggenommen. Ziemlich viel ist neu bei euch. So ein bisschen drängt sich die Frage auf, inwiefern das intentional war. Die Line-up-Wechsel vielleicht nicht; aber neues Studio, neuer Artwork-Designer, neuer Produzent, neues Label.

Grundsätzlich wollte ich einfach was neues machen. Wir haben mit dem Abschluss der Quadrilogie einen großen Cut gezogen. Durch die neue Plattenfirma ergeben sich zum Beispiel andere Möglichkeiten, andere Budgets. Dadurch konnten wir im Studio Fredman mit Fredrik Nordström arbeiten, wobei ich schon überlegt habe, mit ihm das letzte Album mischen und mastern zu lassen. Das heißt, das ist keine spontane Idee gewesen, sondern der Gedanke war schon länger in der Luft.

Dass wir einen anderen Cover-Artwork-Künstler brauchen, war aus meiner Sicht zumindest recht logisch. Wenn wir etwas Neues starten, dann muss das visuell irgendwie anders sein. Und die Arbeit mit Eliran Kantor war erstens sehr angenehm, sehr nett. Mir war einfach wichtig, dass wir sowohl im Studio mit Fredrik Nordström als auch bei den Artworks mit Eliran festlegen, in welche Richtung wir gehen können und was nicht funktioniert. Gleichzeitig sollte das, was wir uns in den letzten Jahren aufgebaut haben – der Signature-Sound, der Look, die Farbkonzepte – übernommen, aber auch in sich geschlossen einen Meter weiter nach rechts oder links verrückt werden.

Das Artwork stammt von Eliran Kantor

Schön an der ganzen Sache ist, dass es trotz der ganzen Neuerungen viele Brücken zur Vergangenheit gibt. Es hat zum Beispiel kaum drei Sekunden gedauert, bis man mit Jeroen Paul Thesseling (Bass) einen alten Bekannten schon am Sound wiedererkennt. Und kurze Zeit später hört man auch sofort Christian Münzner heraus. Beide bringen sehr viel Wiedererkennungswert mit sich zurück – wie kam es dazu?

Als ich ein neues Line-up zusammengestellt habe, waren diejenigen einfach die ersten, die ich kontaktiert habe. Es hat mich keine zwei Wochen gekostet, die Band so zusammenzustellen, wie sie jetzt spielt. Das hängt einfach damit zusammen, dass wir uns gegenseitig kennen und schätzen und im ganzen Prozess von Songwriting über Aufnahmen hin zum Mixen und Mastern beziehungsweise jetzt den Vorbereitungen für die nächsten Tourneen ist es einfach angenehm, wenn du weißt, mit wem du zusammen arbeitest. Das war auf jeden Fall der richtige Schritt.

“Der Grundgedanke war, die Musik so zu gestalten, dass wir mit dem Album in eine entspanntere oder nahbarere Richtung gehen wollten.”

Jeder Musiker, der bisher in der Band war, hat einen gewissen Wiedererkennungswert. Ich suche auch genau solche Leute. Ich brauche keinen Studiogitarristen, der alles spielen kann, aber selbst keine eigene Identität hat. Ja, Jeroen hat einen speziellen Bass-Sound und auch die Soli von Christian einen starken Wiedererkennungswert. Das Gleiche gilt auch für David Diepold (Drums – Anm.). Speziell an seinen Blastbeats mit seiner Push-Pull-Technik hört man auch sofort raus, wer es ist.

Ich finde es auch gut, wenn man diese musikalischen Charaktereigenschaften direkt unterstreicht. Wenn ich zum Beispiel mit David Diepold einen absoluten Highspeed-Drummer habe, dann brauche ich keine Midtempo-Songs. Ich versuche jedem, die Stärken auf dem Silbertablett zu servieren, damit sie sich dann besser einbringen können. Auf diesem Album war es entspannt, es hat einfach wahnsinnig viel Spaß gemacht zu schreiben und – sofern das möglich war – zusammen im Studio zu arbeiten. Also alles richtig gemacht, würde ich sagen.


Weil du gerade David erwähnt hast: Bei ihm ist mir aufgefallen, dass er die hervorstehenden Qualitäten seiner beiden Vorgänger vereint und noch mal auf ein anderes Level hebt bzw. anders umsetzt, was seine beiden Vorgänger ausgezeichnet hat. Wie bist du an ihn geraten?

Wir waren vor einigen Jahren in Kontakt, als unser damaliger Schlagzeuger bei einem Festivalangebot nicht verfügbar war. Wir hatten eine Aushilfe gesucht, ihn hatte ich schon länger auf dem Zettel und ihn kontaktiert. Leider konnten wir das Festival nicht spielen, aber wir blieben in Kontakt. Nachdem wir sehr kurz telefoniert und uns ausgetauscht haben, war er mit an Bord. Wenn man sich die ganzen Videos, die er jetzt seit 10, 15 Jahren fast täglich online stellt, anschaut, stellt man fest, dass er einfach wahnsinnig viel kann. Bei der Musik von OBSCURA geht es nicht nur um den physischen Aspekt, nur schnell und hart spielen reicht nicht. Da kommt es darauf an, zu verstehen, was rhythmisch passiert und das ist eben mehr als 4/4. Und die Balance zu finden auf dem Level ist wirklich schwer, da gibt es sehr wenige, aber David ist einer der besten, die ich kenne.

Der Wechsel Richtung Studio Fredmann war nach außen hin vielleicht etwas überraschend, weil man das Woodshed-Studio immer etwas als euer Stammquartier wahrgenommen hat. Was für Qualitäten haben sich jetzt mit dem neuen Produktionssetting ergeben, die es vorher vielleicht noch nicht gab?

Grundsätzlich war es in erster Linie ein Abenteuer, ein Album nicht in Deutschland zu produzieren. Ich hab noch nie im Ausland irgendetwas aufgenommen und wir sind eine sehr gitarrenlastige Band, die gleichzeitig aber sehr viel Headroom für alle Details braucht. Thema: Akustikgitarren, Vocoder, Keyboard-Flächen und die ganzen Layer mit denen wir regelmäßig arbeiten. Dafür habe ich jemanden gesucht, der zeitlose und lebendige Produktionen heute noch umsetzen kann. Vieles klingt heutzutage steril und fad, weil man gefühlt immer die gleichen Soundsamples am Schlagzeug und die gleichen Presets an den Gitarren hört. Das finde ich ein bisschen langweilig. Ich suche grundsätzlich Leute, die einen eigenen Stil haben, aber das ganze mit dem, was wir anbieten als Band, verbinden können. Fredrik Nordström hat einfach in den Neunzigern unglaubliche Alben produziert, die auch, wenn sie heute noch auf den Markt kommen würden, alles aus den Schuhen blasen würden. Von AT THE GATES über IN FLAMES über DIMMU BORGIR und wahrscheinlich tausend andere.

“Nur schnell und hart spielen reicht nicht.”

Was mich aber tatsächlich überzeugt hat, war eine Produktion für die UK-Band ARCHITECTS, die ich auch sehr schätze. Da hat sich gezeigt, dass Fredrik nicht in den Neunzigern hängen geblieben ist, sondern auch mit anderen Stilen und Themen arbeiten kann. Das Album selbst klingt im direkten Vergleich viel breiter und tiefer. Die Gitarren und Akustikgitarren – alles springt dir wortwörtlich ins Gesicht. Der Schritt war nötig und mit dem Resultat bin ich sehr zufrieden. Egal über welche Anlage oder Kopfhörer ich es höre, ich bin happy.

Es klingt auf alle Fälle organischer als jemals zuvor. Damit harmoniert der Sound schön mit dem Cover, welches zum ersten Mal in Ölfarben gemalt sein dürfte, wenn ich richtig gesehen habe.

Genau. Da sind wir eben beim Gesamteindruck von dem Album. Das muss – egal ob auf Vinyl oder CD – in sich greifen. Wir haben teilweise unseren eigenen Sound auch mitgebracht. Wir haben zum Beispiel einen Amp von Engl nach Schweden schicken lassen, haben ihn dort verwendet, um unseren Sound mit dem Know How und dem Vintage-Equipment von Fredrik zu kombinieren. Das Ziel war, aus dem besten von beiden Welten etwas neues zu erschaffen.

Wieder mit an Bord: Jeroen Paul Thesseling (links) und Christian Münzner (rechts).

Beim Artwork von Eliran Kantor war es genauso. Ich hab ihm unzähliges Material vorher zugeschickt. Die bisherigen Artworks, die Farbkonzept, das Konzept für die nächsten drei Alben. Ich hab ihm im Prinzip nur Input geliefert. Er hat dann freie Hand darüber, was er zurückgibt. Ein Künstler, der mit Öl malt, hat aber weniger Chancen, etwas nachzubessern oder umzugestalten, als jemand, der mit Photoshop arbeitet. Aber einem gewissen Zeitpunkt muss man dann einfach loslassen.

Die ganze Anordnung reiht sich immer noch eins zu eins in alle Artworks ein, die wir seit der Gründung haben – der symmetrische Hauptteil im Mittelpunkt. Es wirkt auch fast wie ein Planet, obwohl es keiner ist, hat aber einen melancholischen Touch mit diesen zwei Elementen: der Hauptfigur kauernd in der Mitte und der zweiten, die das ganze umarmt. Das wiederum passt perfekt zum Titel, obwohl das ganze “Abschied” heißt.

Ich hatte beim Artwork zunächst auch Assoziationen zu einer Art Uterus. Das passt ja auch zu Abschied, aber auch zu organischen Prozessen. Diese Vieldeutigkeit und Offenheit ist mir auch beim Lesen der Texte aufgefallen.

Das war Absicht. Die ersten vier Alben waren relativ abstrakt gehalten. Bis auf einige Ausnahmen war es vermutlich schwer nachzuvollziehen, worum sich alles dreht. Ich habe jetzt einfach versucht, das ganze offener, man kann auch sagen persönlicher, zu gestalten. Da sind viele Themen mit eingewoben, die direkt betrachtet werden müssen.

Bevor wir noch tiefer ins neue Album eintauchen, würde mich interessieren, wie du jetzt nach drei Jahren “Diluvium” betrachtest.

Es ist ein wahnsinnig anstrengendes und forderndes Album, rhythmisch und technisch am Anschlag. Ich finde es cool, aber es ist stimmungstechnisch leider nicht so vielschichtig, wie ich es mir erhofft hatte. Ich hab das Gefühl, dass die Stimmung nicht sehr oft wechselt und das ist ein bisschen schade. Rückblickend ist das der Grund, weshalb das neue Album viel mehr Stile mit sich bringt. Ich höre mir die alten Alben hin und wieder zur Selbstreflexion an. “Diluvium” war das richtige Album zur richtigen Zeit. Ich denke, wir sind damit erfolgreich gewesen. Wir haben über fast die ganze Welt einen Tourzyklus gespielt.

“Wir müssen bühnentauglich sein.”

Ich möchte mich aber nicht wiederholen und auch nicht noch technischer werden. Ich bin Musiker und kein Gitarrenlehrer. Ich setze mich nicht gern auf einen Schemel und schaue von oben herab. Ich bin Musiker, weil mir das unfassbar viel Spaß macht. Ich verbringe die meiste Zeit mit der Band auf Bühnen. Deswegen müssen wir bühnentauglich sein. Die Songs dürfen nicht nur von technischen Kabinettstückchen leben und ich glaube, bei “Diluvium” haben wir es ein bisschen übertrieben.


Wenn man sich vorstellt, dass jemand beginnt, sich mit euch auseinanderzusetzen und nicht weiß, mit welchem Album er oder sie anfangen sollte, wäre “A Valediction” ein sehr guter Tipp. Es vereint sehr viele verschiedene Elemente eurer bisherigen Alben in sich, ist insgesamt homogen, aber dynamisch.

Das macht vielleicht auch die Konstante aus. Wir machen Alben, die in sich zusammenhängen, eine gewisse Story haben und einen Signature-Sound mit sich bringen. Auf dem neuen Album haben wir Sachen eingebaut, die wir uns nie zuvor erträumt hätten, wie Björn Strid und WHITESNAKE-Riffing in “When Stars Collide”, wir haben ‘nen D-Beat bei “Devoured Usurper” eingefädelt wie eine ranzige schwedische Oldschool-Death-Metal-Band. Keyboards, Power-Metal-Riffing, Jazz, Fusion… Nordström hat uns “BOM” genannt – Best Of Metal. (Lachen)

Bei “When Stars Collide” habt ihr zum ersten mal so “richtig” cleanen Gesang durch den Beitrag von Björn “Speed” Strid dabei. Dafür bilde ich mir ein, es gibt etwas weniger Vocoder-Parts, als bisher.

Da muss ich kurz einlenken. Wir hatten auf jedem Album seit dem Debüt mindestens einen Song mit Clean Vocals. Vielleicht war der Sänger, also ich, nicht ganz prominent. (Gelächter)

Speeds Klangfarbe hört man einfach sofort raus und das ist ganz spontan entstanden. Wir haben pro Tag nur zwei Songs eingesungen. Vor jedem Song haben wir die ganze Vorproduktion noch mal durchgehört und Ansätze besprochen. Bei dem Song habe ich erwähnt, dass dieser Part in Richtung SOILWORK gehen soll. Fredrik meinte nur: “Ich hab ungefähr zehn Platten mit Björn Strid gemacht, wir rufen ihn an. Wenn du wie SOILWORK klingen willst, kriegst du SOILWORK”, so hat er sich ausgedrückt. Wie war noch mal der zweite Teil deiner Frage?

Ich glaube, der Vocoder-Anteil ist zurückgegangen.

Ha, es ist der gleiche Vocoder und das gleiche Plugin wie bisher. Er ist am deutlichsten in “A Valediction”, “Forsaken”, ganz massiv in “Heritage” und “The Neuromancer” und “In Unity” zu hören. Wir haben nur ganz anders im Mix damit gearbeitet. Der Wechsel des Produzenten ändert massiv die Gesamtwahrnehmung. Er klingt weniger Roboter-mäßig, sondern wie eine Mischung aus Keyboard und Chor, um wichtige Parts noch breiter zu machen. Du bist übrigens nicht der erste, der fragt, ob wir ihn überhaupt noch einsetzen.

Dazu muss man sagen, ich hab das Album bestimmt 25 Mal gehört, bin aber noch weit davon entfernt, es komplett erschlossen zu haben.

Ja, viele Noten. (Gelächter)

“Forsaken” und “A Valediction” haben eine ganz neue emotionale Dimension.

Beide Songs sind speziell. “Forsaken” wurde eigentlich als Opener für “Diluvium” geschrieben. Er hatte damals fast zehn Minuten Spielzeit und nicht ganz zum Rest gepasst. Deswegen haben wir ihn uns jetzt noch mal vorgenommen und ihn für “A Valediction” überarbeitet.

Der Titeltrack selbst war so konzipiert, dass er in eine Reihe mit “Anticosmic Overload”, “Akróasis”, “Emergent Evolution” und so weiter passt. Dadurch, dass wir uns ein bisschen zurückgenommen haben und der Gesang im Vordergrund steht, wirkt das anders, obwohl das Riffing schon aus der Best-of-Kiste der Band stammt. (Erneutes Lachen) Für mich stechen eben wegen des klaren Gesangs “When Stars Collide” und “Devoured Usurper” heraus, weil es völlig nach Steinzeit klingt. Die Bandbreite ist groß und ich langweile mich von vorn bis hinten nicht, wenn ich das Album höre.

Stichwort “Devoured Usurper”: ihr hattet bisher auf jedem Album einen Song, der in die schleppendere, traditionellere Death-Metal-Richtung ging, aber alle sind völlig verschieden. Ihr habt eh nie groß Songs gemacht, die untereinander besonders ähnlich sind.

Die langsameren Songs sind stets auch Absicht, weil sie jede Platte besser hörbar machen. “Devoured Usurper” war so konzipiert, dass wir genau das Gegenteil von dem machen, was eine Tech-Death-Band normalerweise machen würde. Das Gegenteil von mehr Sweeps, mehr Blast und wie gesagt haben wir einen D-Beat eingebaut.

Wir haben den Song bewusst als Single ausgewählt, weil uns viele als Shrapnel-Dudel-Band (80er-Label für Gitarrenvirtuosen wie Jason Becker, Marty Friedman, Joey Tafolla und CACOPHONY) abstempeln. Die würden sowas niemals von uns erwarten.

Wie kam denn die Idee zustande, “Orbital Elements” von “Cosmogenesis” (2009) eine Fortsetzung zu spendieren?

Wir waren damals in einer ähnlichen Situation: Wir hatten gerade einen Plattenvertrag unterschrieben, ich hatte ein neues Line-up zusammen, alles hatte eine gewisse Aufbruchsstimmung. Genau das gleiche Feeling hatten wir auch jetzt, weil wir dieses Riesenkapitel des ersten Vier-Alben-Zyklus’ abgeschlossen haben und die Brücke dazu schlagen wollten. Auch eine Tradition: Seit unserem ersten Demo gibt es auf jedem Album ein Instrumental.

Auch dieser Song wurde für die Live-Situation geschrieben. Es gibt vier Soli, die so gespielt werden, wie die Musiker im Booklet gelistet sind. Also erst der Sänger-Gitarrist, dann der Gitarrist, Bassist und Drummer. Auf der Bühne ist das die perfekte gedachte Pause zwischen zwei extremeren Songs, in denen man die Band musikalisch vorstellt und jeder seinen Spot kriegt.

Der geht auch mehr ab, er hat teilweise ein altes MEGADETH-Feeling.

(Pause) Ja. (Pause) Best Of Metal. (Gelächter)

Apropos: In der Metalgeschichte gab es bisher viele “Necromancer”, ich hab aber noch nie von einem “Neuromancer” gehört. Was hat es damit auf sich?

Der “Neuromancer” basiert auf einem wunderbaren Buch und ist relativ gesellschaftlich gehalten. Der Song selbst ist der mit Abstand schwierigste, schnellste und technisch anspruchsvollste auf dem Album. Im Albumkontext nach “Orbital Elements II” verbindet er die Extreme miteinander. Wir achten auch bei der Tracklist auf Dynamik.

“Manche Songs sind unglaublich spontan, manche brauchen einfach länger.”

Tradition ist auch, dass ihr mit einem epischen Song anfangt…

… und aufhört.

Richtig. Die letzten beiden Songs sind zwei weitere Songs, die neue Elemente mit sich bringen. “In Adversity” – ich komm nicht drauf, woran’s es mich erinnert hat. Irgendwann hab ich mir “Böses Kind aus ARCHITECTS und HYPOCRISY” notiert.

Wir mögen beide Bands gern, aber ich hatte eher CHILDREN OF BODOM on steroids im Kopf. Und “Heritage” hab ich in der Woche geschrieben, als Sean Reinert gestorben ist.

Ah klar, ein CYNIC-Einfluss. Das Intro-Arrangement in “Heritage” ist sehr interessant.

Das war ein Song, der auch relativ lang gebraucht hat. Das Skelett des Songs entstand binnen zwei, drei Tagen, aber ich weiß nicht mehr, wie viele Versionen wir am Ende arrangiert haben, bis es dann für alle cool war. Manche Songs sind unglaublich spontan, manche brauchen einfach länger, wie “Forsaken”, der vier Jahre brauchte. Andere Songs wie “Devoured Usurper” – ein Nachmittag.

Krass. Du hast es gerade bei “Neuromancer” erwähnt: Bestimmt hast du insgesamt wieder interessante literarische Einflüsse verarbeitet.

Jein. Es gibt bloß zwei Bücher, die einen direkten Bezug haben. Andere Sachen sind tatsächlich eher rein persönlicher Natur. Nicht nur Corona-bezogen, aber die letzten Jahre sind viele Freunde, Bekannte, Verwandte, Musiker, Familienmitglieder gestorben. Leute, mit denen ich in Bands gespielt habe oder auf Tour war. Sean Reiner, Sean Malone. Alexi Laiho, der sich geradezu niedergerichtet hat. Es gab einfach viele Themen, die mit “A Valediction” – Abschied zusammenpassten.

Für Drummer David Diepold  (2. v. r.) ist “A Valediction” der Studio-Einstand.

Bei “Devoured Usurper” geht’s eher um falsche Freundschaft. In “Neuromancer” um gesellschaftliche Sachen. “In Unity” ist ein ganz prekäres Thema, da geht es darum, wie meine Familie und ich vor dem Mauerfall aus der DDR geflohen sind und alles, was wir hatten, zurückgelassen hatten, ohne zu wissen, in welche Zukunft wir da hineinreiten. Es sind schon mitunter sehr persönliche Themen.

2021 war ein Jahr, in dem überraschend viele große, alteingesessene Bands mit starken neuen Alben an den Start gegangen sind. HELLOWEEN, MAIDEN, HYPOCRISY, AT THE GATES… was hat dir dieses Jahr am meisten Freude im Bereich der Neuerscheinungen bereitet?

Ich freu mich wahnsinnig auf die neue HYPOCRISY. Ich empfinde das neue ARCHITECTS-Album als sehr gut und sehe fast wöchentlich in die Release-Pläne und finde überall Bands, die mir gefallen. Die Schwemme ist riesig, aber es gibt immer wieder Perlen, die man findet, zum Beispiel RIVERS OF NIHIL. Großartig, in welche Richtung die gehen. CANNIBAL CORPSE sind immer eine Bank. Aber auch kleinere Bands begeistern mich. Da freue ich mich auf die nächste Tour-Saison.

Tun wir vermutlich alle. Vielen Dank für das Gespräch. Viel Erfolg mit allem.

Einen schönen Abend noch, vielleicht läuft man sich mal über den Weg.

(Anmerkung: Das Gespräch wurde im Dienste der besseren Lesbarkeit geringfügig gekürzt.)

Quelle: Gespräch mit Steffen Kummerer / Fotos: Vincent Grundke
29.12.2021

Redakteur | Koordination Themenplanung & Interviews

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