The Night Flight Orchestra
Selbstvertrauen zahlt sich aus

Interview

THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA waren kurz davor, mit „Aeromantic“ zum fünften Mal richtig abzuheben. Aber COVID-19 hatte andere Pläne gehabt und nicht nur die schwedischen AOR-Nachtflieger um SOILWORK-Fronter Björn Strid in ihrer Live-Aktivität empfindlich eingeschränkt, sodass ihre im März geplante Europatour nach nur wenigen Auftritten unterbrochen werden musste. Aber die Schweden haben sich nicht unterkriegen lassen, sondern streamten sogar für ihre Fans ein Konzert aus dem Tivoli in Helsingborg, das extrem gut angekommen ist. Wie es der Band sonst so während der Krise ergeht, hat uns Björn Strid in einem Interview über den Stream, das aktuelle Album und die Auswirkungen der Pandemie auf die Band selbst erläutert.

Zunächst einmal: Nachträgliche Gratulation zu „Aeromantic“. Wie war bisher das Feedback zum Album?

Ich denke es war ziemlich großartig. Die letzten zwei Alben haben so viel Lob erhalten, dass wir uns schon gefragt haben, wie es von dort aus weitergehen würde. Daher waren wir zunächst nervös darüber, ob wir so etwas überhaupt noch einmal schaffen könnten. Wir haben angefangen uns auszumalen, wie sich Leute so Zeug denken der Marke „Die Typen sind so erfolgsverwöhnt, dass die langsam mal eine schlechte Review verdient hätten“. Aber am Ende zeigte sich das Album in Sachen Reviews und Fan-Feedback mindestens genau so gut, wenn nicht sogar besser als die Vorgänger. Das war eine ziemlich zufriedenstellende Erfahrung.

Was für ein wilder Ritt mit THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA, oder? Ihr habt euch ja so ziemlich vom Nebenprojekt zur zweiten Hauptband entwickelt, die fast so groß wie SOILWORK ist. Hättest du dir das in Zeiten von „Internal Affairs“ oder „Skyline Whispers“ gedacht?

Ja, es ist echt verrückt, wie weit wir damit gekommen sind. Wir haben immer das Gefühl gehabt, hier etwas besonderes geschaffen zu haben. Aber wir waren nie sicher, ob das auch so beim Publikum ankommen würde. Wir haben uns vorgestellt, eine gewisse Leere in der Musiklandschaft zu füllen. Aber das war nur unsere Realität. Was nach außen hin rüberkommen würde, konnten wir natürlich nicht einschätzen. Aber ich denke, dass sich unser Selbstbewusstsein über dieses Material rückblickend mehr als ausgezahlt hat. Wir lieferten unserem Publikum möglicherweise etwas, von dem sie nicht mal wussten, dass sie es wollten. (lacht)

Also haben wir gewissermaßen diese Leere füllen können mit etwas Aufregendem. Es klingt natürlich nach Retro-Rock, gleichzeitig klingt es aber auch erfrischend. Die Leute wissen oft nicht, wie sie direkt mit Musik im Allgemeinen umgehen sollen, aber sie macht sie auf irgendeine Art und Weise glücklich. Sie verstehen die Funktionsweise der Kompositionen an sich nicht, sondern lassen sich mehr vom emotionalen Momentum, das Musik in sich trägt, treiben, ob das jetzt Melancholie, Freude, Zorn oder etwas anderes ist. Und auf diese emotionale Reaktion zielt auch THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA ab. Die Leute sind uns dafür echt dankbar und drücken ihre Dankbarkeit sehr offen aus. Das ist total verrückt.

Ich denke das hat viel damit zu tun, dass ihr euren Sound zwar pompös, aber nie zu kitschig oder künstlich klingen lasst, oder?

Ja, wir versuchen das einfach natürlich rüberkommen zu lassen und uns nicht zu sehr zu verstellen. Wir kommen nicht zusammen und sagen: „Lass uns mal was wie JOURNEY oder FOREIGNER machen“. Unsere Musik geht da weiter und ich denke das hört man auch. Es herrscht eine gewisse Ehrlichkeit innerhalb unserer Musik. Da stecken eine Menge Gedanken, Wissen und Talent dahinter, da wir eine eingeschworene Gruppe von Musikern und Songschreibern sind. Als Sänger fühlt man sich dabei regelrecht gesegnet.

In einem früheren Interview wurde euer Sound als von FREE inspiriert beschrieben, aber ihr seid lange schon darüber hinaus gewachsen, richtig?

THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA waren in ihrem frühesten Stadium zunächst eine Art Experiment. Es war im Grunde David [Anderson, Anm. d. Red.] und ich, die einen Soundtrack zum Touren anfertigen wollten, der das Feeling vom Unterwegssein einfängt. Die Idee war, dass der Sound der Siebziger und Früh- bis Mittelachtziger dies am besten einfangen würde. Dadurch brauchten wir Einflüsse und Ideen, auf denen wir aufbauen konnten, um diesen Soundtrack zu kreieren. Und in dieser Hinsicht waren „Internal Affairs“ und „Skyline Whispers“ Experimente, wie man diesem Sound Leben einhauchen kann.

Es sollte zwar retro klingen, aber zugleich wollten wir unser eigenes, persönliches Ding machen. Und wir beziehen unsere Einflüsse immer noch aus den Sechzigern, Siebzigern, Achtzigern und zum Teil auch aus den Neunzigern. Etwas Wichtiges kristallisierte sich aber im Laufe der Zeit für uns heraus: Um das authentisch klingen zu lassen, mussten wir die Einflüsse bündeln, sodass sie zwar da sind, aber so ineinander verwoben werden, dass sie eben zu etwas Persönlichem heranwachsen. Dieser Mechanismus ist im Laufe der Zeit anspruchsvoller geworden, da wir als Band zusammengewachsen sind.

Wie gesagt, das hat sich eben alles natürlich ergeben. Wir hören ständig über unsere ersten beiden Alben so Sachen wie „Das war euer bestes Werk“. Ich glaube das hat damit zu tun, dass speziell unser Debüt noch so roh und ursprünglich gewesen ist. Da hat noch so eine Art jugendlicher Spirit drin gesteckt, von wegen „OMG! Wir machen ein Album!“, und „Oh, das Riff ist gut, wie wäre es, wenn wir es mit dem und dem Riff kombinieren?“ (lacht) Das funktioniert manchmal einfach am besten, anstatt zu sehr über die eigene Musik nachzudenken. Und es hat den Nebeneffekt, dass es auf Sender- und Empfänger-Seiten gleichermaßen Spaß macht.

Aber irgendwann kommst du halt an einen Punkt, wo diese Spontanität an ihre kreativen Grenzen gerät, da dich diese Tollkühnheit eben künstlerisch nur für beschränkte Zeit voranbringt. Dann stehst du vor der Wahl, entweder so wie bisher weiter zu machen und Gefahr zu laufen, dich zu wiederholen, oder dich eben gewinnbringend weiter zu entwickeln, möglicherweise aber dein Publikum zu vergraulen – beide Wege sind mit Risiken verbunden. Irgendwann musst du den Anspruch irgendwie in deine Musik holen oder dir zumindest eingestehen, dass diese Art der Dynamik Zeit und Arbeit einfordert, die man als Künstler hineinstecken muss.

Wenn wir in das Studio oder in den Proberaum gehen, um unser Material auszuarbeiten, dann komme ich mir vor, als würde ich in eine Classic-Rock-Manufaktur gehen. Da ist so viel Inspiration und soviel Potential. Und alles wartet darauf, irgendwie verwertet zu werden. Aber es geht nicht einfach nur darum, irgendetwas daraus zu machen, sonst wäre es eine normale Fabrik. Es geht mehr darum, die passenden Teile zu finden und zusammen zu setzen, wie bei einem Puzzle. Diese Teile sind in ihrer Rohform in unseren Köpfen vorhanden und benötigen zunächst durch Musikalität eine konkrete Form, bevor wir sie verwenden können. In der Hinsicht haben wir den Anspruch in unseren Sound geholt. Aber ich denke nicht, dass wir da stets nach Perfektion streben. Da bleibt immer etwas Raum zum Atmen.

Ich denke das ist ein Schlüsselfaktor, warum THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA so gut ankommt. Eure Musik ist einerseits anspruchsvoll und vielschichtig strukturiert, andererseits dabei sehr leichtfüßig und elegant.

Danke für das Kompliment. „Eleganz“ ist mir bei der Musik noch nicht in den Sinn gekommen. Aber ich denke, dass das ein passendes Attribut für unseren Sound ist.

Wie hat sich die Wahl, auf dem Schlagzeug von ABBAs „Super Trouper“ zu spielen, ergeben? War das bewusst im Hinblick auf „Aeromantic“ oder hatte das andere Gründe?

Das ist schwer zu sagen. Vielleicht hat es die grobe Richtung unserer Musik auf „Aeromantic“ inspiriert, aber andererseits sind wir schon immer sehr durch ABBA inspiriert worden. Das kannst du ja in nahezu allen unseren Songs nachvollziehen, die haben immer diese spezielle Art der skandinavischen Melancholie inne. Ich denke das ist ein weiterer Faktor, der THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA ein bisschen abhebt. Diese skandinavische Songwriting-Tradition fließt unterbewusst durch unseren Sound, neben den Einflüssen von FOREIGNER, JOURNEY, Bob Seger, TOTO und dergleichen. Es schwingt immer dieser schwedische Makel [sic] mit. Dass wir auf dem ABBA-Schlagzeug spielen würden, war hier eigentlich nur das coole Sahnehäubchen auf dem Kuchen. (lacht)

Ich habe auch gelesen, dass ihr einen Lineup-Wechsel hattet vor den Sessions. Ist John Lönnmyr ein festes Mitglied geworden oder erstmal nur ein Session-Keyboarder?

Das ist eine gute Frage. Wir haben aufgrund der aktuellen Situation noch nicht so viele Shows spielen können, sodass ich das hier und jetzt beurteilen könnte. Wir haben mit der Tour begonnen und sie dauerte nur eine Woche, aber alles mit ihm klingt fantastisch. Er ist ein hervorragender Spieler, was sich hoffentlich auch beim Livestream-Konzert gezeigt hat. Wenn ich so drüber nachdenke, würde ich spontan sagen: Ja, er ist ein festes Mitglied. Wir haben das intern noch nicht so intensiv diskutiert, aber ich sehe keinen Grund, warum das nicht so sein sollte. Er passt einfach bei uns rein.

Apropos: Die aktuelle Situation ist wahrscheinlich ziemlich frustrierend für euch alle, oder?

Ja und nein. Natürlich waren wir frustriert, dass wir unsere Tour abbrechen mussten. Das war hart, heimzugehen, obwohl wir so viel bereits investiert haben für die Tour, für das Album. Wir haben promotet, was das Zeug hält, haben Interviews und dergleichen gegeben, unsere Tour vorbereitet. Und dann kommt einfach diese massive Anti-Klimax und lässt all das ins Leere laufen. Aber so geht es jedem, der etwas ähnliches durchmacht, sodass wir hier keine Sonderstellung haben. Das Wichtige hierbei ist eben, das beste aus der Situation zu machen.

Aber auf einer rein persönlichen Ebene schätze ich, dass diese Situation gerade gut für mich ist. Es hat mich zu einer Pause gezwungen, die ich seit gefühlt 20 Jahren bitter nötig gehabt habe. Und ich glaube, dass Musiker, die so wie ich konstant auf Achse sind, dem zustimmen werden. Es ist ein seltsames Gefühl, man denkt sich: „Wow, also so fühlt sich das an, wenn man nicht darüber nachdenken muss, was als nächstes kommt.“ Denn selbst wenn du als Musiker eine Pause hast, ist da immer irgendwas in deinem Hinterkopf, das dich beschäftigt. Ob das Shows, die logistische Arbeit hinter diesen Shows oder einfach nur Kommunikation via Emails ist – du bist ständig unruhig und im Bereitschaftsmodus.

Und ich war zusammen mit David irgendwie immer der Ansprechpartner für Angelegenheiten, die sowohl SOILWORK als auch THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA betreffen. Daher denke ich, dass die Situation, in die uns die Corona-Pandemie gezwungen hat, ironischerweise sogar gut für meine Gesundheit ist. Sie gibt mir eben eine benötigte Pause zum Reflektieren, Erholen und Abschalten, die ich sonst nicht hätte, da es sowohl mit SOILWORK als auch mit THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA ständig weiter geht. Insofern versuche ich für mich selbst, das beste aus der Situation – für mich selbst – zu machen. Ich kann endlich Dinge zu Hause tun, für die ich sonst keine Zeit habe. (lacht)

Ich kann endlich putzen oder mich Projekten widmen, die nichts mit Musik zu tun haben. Ich wollte schon lange mal einen Liegestuhl für meine Veranda bauen. Natürlich hatte ich mich auf den Festivalsommer gefreut und ich hoffe, dass wenigstens ein paar Festivals stattfinden würden. Aber der Festivalsommer kann schon ziemlich hart sein, gerade im Hinblick auf des Aspekt der eigenen Gesundheit. Es ist eine Menge Stress, es ist eine Zeit, in der man phasenweise gar nicht zum Ruhen geschweige denn Schlafen kommt. Und du kommst jedes Wochenende nach Hause und siehst aus wie ein Wrack. Aber das Leben geht ja weiter, das bedeutet: Du kehrst zu deiner alltäglichen Routine zurück.

Und innerhalb dieser Routine hast du wieder einen Cut, denn spätestens Donnerstags hast du wieder einen Flug irgendwohin erst nach Tschechien, dann vielleicht nach Deutschland, wo wieder die nächsten Festivalgigs auf dich warten.

Das wundert mich nicht. Du unterhältst ja mit SOILWORK und THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA mehr oder weniger zwei Vollzeit-Bands.

Ja, das kann man wohl sagen.

Was denken denn die anderen Bandmitglieder?

Ich denke, dass sie mir größtenteils zustimmen werden. Die einen mögen das Touren mehr, die anderen weniger. Ich habe so eine Art Hassliebe für das Touren entwickelt. Ich liebe es, auf der Bühne zu stehen und meine Darbietung zu liefern. Aber wenn man wochenlang am Stück auf Tour ist, wird es mit der Zeit schwer, das Feuer kontinuierlich auf die Bühne zu bringen. Als wir in den Staaten waren, haben wir mal 54 aufeinanderfolgende Shows innerhalb eines einzelnen Tourlegs gespielt. Das werde ich nie wieder machen. Daher denke ich, dass die Bandmitglieder mir zustimmen werden, dass diese gezwungene Auszeit mal ganz gut tut.

Und dann irgendwo noch mit technischen Problemen zu kämpfen zu haben – na herzlichen Glückwunsch.

Ja, das ist wahr. Das wird von Außenstehenden gerne unterschätzt. Man bekommt echt immer dieses klischeehafte „Du lebst doch den Traum“ zu hören. Das impliziert irgendwie eine Aufforderung, das einfach zu schlucken und auf Kommando glücklich zu sein, was ich überhaupt nicht leiden kann. Natürlich leben wir den Traum in vielerlei Hinsicht. Es ist ein Privileg, seine Gefühle und Dämonen auf täglicher Basis kanalisieren zu können, für das ich dankbar bin. Aber es ist eben nicht nur das, es steckt auch viel Arbeit vor allem hinter den Kulissen dahinter. Und sich dann vorwerfen lassen zu müssen, man würde nur herumheulen, nervt dann schon.

Insofern habt ihr mit eurem Streaming-Konzert wahrscheinlich das Vernünftigste gemacht, was eine Band in eurer Situation hätte machen können. War das eine spontane Sache oder habt ihr direkt mit der Planung angefangen, als der Lockdown verkündet worden ist?

Wir haben tatsächlich eine ganze Reihe von Angeboten bekommen, um Streaming-Konzerte in verschiedenen Formen und Formaten geben zu können. Eine davon war vom Venue [The Tivoli, Anm. d. Red.] in Helsingborg, von dem aus wir letzten Endes übertragen haben. Wir haben schon mehrfach dort gespielt, insofern ergab das einfach Sinn. Außerdem kenne ich den Besitzer und er war es auch, der auf mich zukam. Er hatte im Grunde schon ein vollständiges Setup, das für mich gut geklungen hat. Der Laden hat einen besonderen Platz in meinem Herzen, da ich dort in meiner Jugend oft gewesen bin, wo ich meine Zeit verbracht und auch mit verschiedenen Bands gespielt habe.

Es hat sich wie das richtige Setting angefühlt für ein Streaming-Konzert und rückblickend hat sich das mit den Reaktionen, die wir darauf bekommen haben, auch ausgezahlt. Viele haben gesagt, dass sich das Konzert wie eine Live-Show angefühlt hat, als wäre man direkt dort gewesen. Ich denke das hat einfach viel mit der Qualität der Produktion zu tun gehabt. Wir konnten uns einfach auf den Laden verlassen. Es hatte ein Live-Feeling und war viel besser, als wenn wir von einem Studio aus gestreamt hätten. Studio- oder akustische Home-Sessions hat man ja auch schon vor Corona immer wieder gehabt, insofern wäre das einfach nichts besonderes gewesen.

Es war die logische Entscheidung für THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA, das Live-Feeling trotz indirektem Publikum so authentisch wie möglich zu verpacken, da wir eben eine tolle Live-Band sein möchten. Und es hat uns selbst bei der eigentlichen Performance auch beflügelt, während wir im Studio vermutlich nicht so sehr aus uns herausgegangen wären. Ich denke der Auftritt ist uns gelungen. Über 100.000 Leute aus 19 verschiedenen Nationen weltweit haben sich das angeschaut. Ja, es war definitiv die richtige Entscheidung, es so zu machen. Und die Leute waren glücklich, immerhin sind knapp zwei Drittel unserer Europatour ausgefallen.

Ja der Facebook-Chat explodierte förmlich vor lauter Positivität und die Zuschauerzahl lag bei etwas über 3.000 Leuten. Habt ihr das Konzert noch anderweitig gestreamt?

Es gab noch zwei weitere Plattformen, über die wir gestreamt haben. Der Stream wurde noch von der Online-Plattform einer Zeitung sowie der Internetpräsenz des eigentlichen Venues gehostet. Das bezog sich also auf die gesamte Zuschauerzahl über die Konzertdauer hinweg.

Selbst 3.000 Leute muss man sich mal vorstellen. Man stumpft bei so Zahlen ja schnell ab.

Das ist richtig. Es ist Wahnsinn, dass wir so viele Menschen erreichen konnten mit unserem Auftritt. Das würden wir bei einer regulären Tour natürlich nicht schaffen. Jedenfalls nicht an einem Abend. (lacht) Wer weiß was in der Zukunft passieren wird. Wir leben echt in seltsamen Zeiten. Und soweit es um das Spielen von Shows und das Absolvieren von Touren geht, wird das wahrscheinlich noch einige Zeit dauern, denn das wird denke ich eines der letzten Dinge sein, die wieder zu ihrem normalen Zustand zurückkehren werden.

Insofern: Wer weiß, wie lange das alles noch dauern wird? Wer kann sagen, wann wir wieder die Möglichkeit haben werden, zu touren? Wir haben zwar einige Daten für Herbst angesetzt, aber mal ehrlich: Optimistisch bin ich nicht. Ich weiß wirklich noch nicht, ob das was wird. Aber zumindest haben wir die Möglichkeit, Konzerte so gut und glaubhaft es eben geht zu streamen. Und es hat sich einfach gut angefühlt, den Fans wenigstens das zu geben, besser noch, dass es gut angekommen ist.

Wie hat sich das angefühlt, vor einem Publikum zu spielen, das nur indirekt mit euch interagieren kann?

Offen gesagt weit weniger seltsam, als ich befürchtet habe. Wahrscheinlich hat das angesprochene, glaubhafte Setting des Konzertes viel damit zu tun gehabt, uns als Band ein vertrautes Umfeld zu geben. Es war die gleiche Stimmung wie bei den Rehearsals, sodass die Eingewöhnung überhaupt kein Problem gewesen ist. Denn normalerweise wenn du deinen Soundcheck machst und die Monitore platzierst, dann gehen dir so Dinge durch den Kopf wie „Der Sound ist seltsam, was ist mit den Keyboards los“, oder so. Und irgendjemand beschwichtigt dann immer von wegen: „Sobald das Publikum da ist, ergibt sich das schon, dann wird alles anders“.

Und bei den Rehearsals hatten wir wieder die gleiche Situation. Mir hat der Sound nicht gefallen und jemand war schon im Begriff, die magischen Worte zu sagen. Aber du hast dann im Gesicht die Rädchen im Kopf arbeiten sehen so nach dem Motto „Ach halt, da war ja was“. (lacht) Da ist dann der Knoten geplatzt. Und am nächsten Tag war ich dann einfach drin in dem Modus. Ich habe akzeptiert, dass wir dieses Konzert ohne physisch anwesendes Publikum spielen werden. Stattdessen habe ich mir einfach die Leute zuhause vorgestellt – und wie sie dort Conga zu „West Ruth Ave“ tanzen würden. Und wir haben so viele Videos von unseren Fans gesendet bekommen, es war echt cool.

Ihr habt auch euren Riesling und Rum präsentiert und probiert. War das mehr ein Marketing-Gag oder Teil der gesamten Promotion?

Es war ein bisschen von beidem. Wir haben ein Paket von der Brennerei [Phantom Spirits, Anm. d. Red.] für unsere Bandmitglieder bekommen und wollten diesen schon lange probieren, konnten uns aber aus gegebenen Anlass nicht treffen. Also musste ich es zum Venue bringen, wo wir das Konzert spielen würden. Jeder war so aufgeregt, das Zeug endlich zu probieren. Und welchen besseren Weg hätte es geben können, als den Schnaps und den Riesling live auf der Bühne vor laufender Kamera zu testen? Ich meine, manchmal kommt man in Social Media nicht so richtig damit an, da viele ja Schnäpse und Weine und etc. rausbringen.

Also gingen wir damit direkt auf die Bühne, auch, weil wir nach den Konzerten mit den Ladies immer einen trinken. Im Grunde haben wir hier nur 1 und 1 zusammengezählt. Es war ziemlich cool. Und eins kann ich dir sagen: Der Rum ist direkt ins Blut gegangen. (lacht) Es war eine richtige Party und nach der Show haben wir uns darüber unterhalten, ob wir noch weitere Songs aufnehmen sollten, wenn wir schon mal hier sind. Diese sollten nicht übertragen werden, sondern nur als Aufnahmen für später dienen. Wir haben 20 Minuten Pause gemacht, haben noch ein paar Drinks zu uns genommen – und als wir wieder loslegen wollten, war das gesamte Adrenalin, das uns während der Show befeuert hatte, einfach komplett weg. Wir konnten kaum spielen. (lacht)

War der Rum echt so schlimm?

Nein, ich denke das hatte mehr wirklich mit dem Adrenalin zu tun und der Tatsache, dass wir durch den Rum alle schon so ein bisschen angeschwippst waren. Wir hätten im Grunde direkt nach der eigentlichen Show ohne Pause weitermachen sollen, anstatt die Pause einzulegen. Wir hätten das Momentum, das wir durch das Adrenalin aufgenommen hatten, einfach weiter beibehalten sollen. Denn das war definitiv eine emotionale Show für uns und wir waren alle richtig nervös im Vorfeld. Und als wir fertig waren, haben wir uns freudig in den Armen gelegen und waren glücklich, dass das Konzert so gut geworden ist. Und danach war jeder von uns einfach nur noch fertig.

Ich denke mal angesichts der aktuellen Situation wird es schwer, einen Ausblick auf SOILWORK und THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA zu geben, oder?

Naja, Pläne haben wir für beide Bands allemal. Es kommt demnächst eine neue SOILWORK-Single heraus, der letzte Teil der „Feverish“-Trilogie. Wir legen die Musik also keinesfalls ad acta, sondern hoffen immer noch dass einige Festivals noch ausgetragen werden.

Vielleicht als Abschluss folgende Frage: Hast du irgendwelche Ratschläge für andere, vielleicht kleinere Bands, die mit der aktuellen Situation fertig werden müssen?

Oje, das ist eine schwere Frage. Wir selbst waren in dieser Situation auch noch nicht. Jeder streamt ja derzeit auf seine Weise Konzerte, also denke ich ist das in jedem Falle das beste, was man machen kann, selbst wenn man nur zuhause sitzt und auf der Akustischen Cover von anderen Songs spielt. So schaffst du halt eine Verbindung zu deinen Fans. Was kann man sonst tun? Ich weiß, dass jüngere Bands ziemlich gut mit Social Media sind und die Plattformen entsprechend kreativ nutzen. Da haben die mir definitiv was voraus. (lacht)

Vielleicht sollte man die Zeit echt einfach nutzen, um besser zu werden als Musiker. Man sollte sich selbst dabei filmen, wie man spielt und sich selbst dabei zuhören, um einen Eindruck zu bekommen, wie man nach außen hin ankommt. Irgendwie muss man sich ja nach außen hin präsentieren, Lockdown oder nicht. Auf diese Art und Weise habe ich auch das Singen gelernt: Ich habe mir selbst beim Singen zugeschaut und beobachtet, was mit mir pyhsikalisch passiert, während ich singe. Also nutzt die Zeit, um euch selbst zu analysieren.

Dann danke ich dir vielmals für die Zeit und für das tolle Interview. Und hoffentlich sieht man sich irgendwann doch noch mal live.

Ja gleichfalls.

30.04.2020

Redakteur für Prog, Death, Grind, Industrial, Rock und albernen Blödsinn.

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