Avantasia - The Scarecrow

Review

Eines der lustigen Dinge wenn man älter wird – und ehrlich zu sich selbst sein kann – ist festzustellen, daß einige Klischees irgendwie doch stimmen. Und ein Klischee, das ganz sicher zutrifft, ist, daß das ungestüme Temperament mit zunehmendem Alter etwas nachläßt und man anhand eines feineren Gespürs zu differenzieren beginnt. Auch Tobias Sammet zeigt sich reifer und beweist mit AVANTASIAs „The Scarecrow“ ein Händchen für wunderbare Kompositionen, die sich so manches Mal völlig ungeniert dem Mainstream nähern und in Songs wie der Singleauskopplung „Lost In Space“, „Carry Me Over“ oder der herzzerreißenden Power-Ballade „Cry Just A Little“ enorm großes Hitpotential offenbaren.

Konzeptionell bewegt sich Sammet mit „The Scarecrow“ auf den Pfaden von Goethes Faust, denn es wird die Geschichte eines Menschen erzählt, der aufgrund schwerer Wahrnehmungsstörungen in der Isolation aufwächst und sich in Klangwelten flüchtet, in denen er sich geborgen fühlt und aus denen er seine Kraft schöpft. Dabei entwickelt sich der anfangs als komischer Kauz geächtete Außenseiter zum Paradiesvogel und erlebt unter anderem mit Hilfe eines Mephistopheles-ähnlichen Charakters – der auf diesem Album stimmlich mehr als eindrucksvoll durch Jorn Lande verkörpert wird – als solcher einen gesellschaftlichen Aufstieg ohnegleichen.

Unterstützung erhielt Sammet für sein neues Werk durch den bereits erwähnten Jorn Lande, aber auch durch so illustre Gastmusiker wie Bob Catley (MAGNUM), ALICE COOPER, MICHAEL KISKE, Amanda Somerville (SOMERVILLE), Eric Singer (KISS) und Rudolf Schenker (SCORPIONS). Damit sitzt AVANTASIA handwerklich fest im Sattel. Doch im Gegensatz zu Jorn Lande, der seinem Charakter mit Nachdruck Glaubwürdigkeit einhaucht und mit Tobias im Duett wunderbar harmoniert, klingt ALICE COOPER leider sehr schwachbrüstig und ungewohnt lustlos. Dies mag aber auch daran liegen, daß sich der Song mit Herrn Cooper („The Toy Master“) – bis auf einen schnelleren Mittelpart – durchweg im schleppenden Tempo bewegt und zwischen den zwei aggressivsten Up-Tempo-Nummern des Albums, „Another Angel Down“ und „Devil In The Belfry“, völlig verloren bzw. ungünstig platziert wirkt. Das selbe Gefühl habe ich auch beim abschließenden „Lost In Space“, denn während sich die straighte Rocknummer „Carry Me Over“ noch bestens ins Gesamtbild einfügt, klingt „Lost In Space“ schlichtweg wie von einem anderen Album.

Den Vogel schießt Tobias jedoch mit dem Titeltrack ab, der zunächst wie ein irischer Folksong beginnt und sich letztendlich über elf Minuten, bombastisch arrangiert und mit einem hervorragenden Gitarrensolo zur Mitte hin versehen, erstreckt, um das irische Thema zum Ende hin noch einmal aufzunehmen und damit wundervoll auszuklingen.

Leider ist der Gesamteindruck des Albums nicht ganz so berauschend und innovativ-intensiv wie der, den ich besonders vom Titeltrack habe. Zusammen mit den zuvor genannten Punkten („Shelter From The Rain“ hätte zum Beispiel auch auf jedem HELLOWEEN-Album mit Michael Kiske am Gesang Platz gefunden und ist damit auch nicht wirklich besonders), die ich eher negativ empfinde, empfehle ich vor dem Kauf zunächst reinzuhören, um etwaige Enttäuschungen auszuschließen.

Ein Pflichtkauf ist „The Scarecrow“ definitiv nicht und um in einem Atemzug mit so bedeutenden Konzeptalben wie „Tommy“ (THE WHO), „The Wall“ (PINK FLOYD), „Operation: Mindcrime“ (QUEENSRYCHE) oder auch „The Crimson Idol“ (W.A.S.P.) genannt zu werden, fehlt es diesem Werk schlichtweg an Überzeugungskraft anhand entsprechender Highlights. Nichtdestotrotz hat das Album viele wunderbare Momente zu bieten, die vor allem in den schnelleren Passagen glänzen können, und storymäßig schon jetzt Lust auf den zweiten Teil macht.

02.01.2008
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