Evergrey - The Atlantic

Review

Wird für die bereits seit 1995 bestehende Göteborger Institution EVERGREY eine Genreschublade geöffnet, liest man meist von Progressive Metal. Ja, natürlich sind ein paar progressive Elemente vorhanden, aber irgendwie hat sich dem Verfasser dieser Zeilen, trotz aller Qualität, diese Einordnung nie so ganz erschlossen. Düsterer Power Metal trifft es da vielleicht eher!? Fast zweieinhalb Jahre nach „The Storm Within“ könnte „The Atlantic“– mittlerweile schon Album Nummer 11 der Schweden um Bandkopf Tom Englund – diese Einstellung aber vielleicht ein wenig revidieren.

EVERGREY – Mehr Progressivität, mehr Kante, mehr nervige Keyboards

Nach ihrer Beinahe-Auflösung legten EVERGREY 2014 mit „Hymns For The Broken“ ein bärenstarkes Comeback hin und konnten ihren Status als Band mit einem sehr eigenständigen Stil, mit dem gerade schon erwähnten „The Storm Within„, noch weiter festigen. Erwähnt werden muss aber auch, dass auf diesen beiden Alben, neben komplexeren Songs, wie dem großartigen „King Of Errors“, viele sehr eingängige Kompositionen mit geradezu poppigen Refrains zu finden waren. Durch Englunds sehr emotionale Art zu singen, verstärkte sich dieser Eindruck noch.

Legt man nun den neuen Longplayer „The Atlantic“ ein und erwartet, dass der auf den beiden Vorgängern eingeschlagene Kurs einfach weitergeführt wird, stellt sich direkt zu Beginn von „A Silent Arc“ ungläubiges Staunen ein. Schon das Anfangsriff tönt gleichermaßen hart wie auch progressiv aus den Boxen. Der Song dürfte zum komplexesten gehören, das die Band je geschrieben hat, womit das Prädikat Progressive Metal hier auch tatsächlich zu Recht vergeben werden kann. Um es gleich einmal vorweg zu nehmen: Alle Fans, die EVERGREY hauptsächlich wegen der Balladen und Songs wie der Floor-Jansen-Kooperation „In Orbit“ kennen und lieben gelernt haben, dürften nicht unbedingt große Freunde von „The Atlantic“ werden, auch wenn nach wie vor nicht auf eingängige und emotionale Refrains verzichtet wird. Obwohl das Meeresthema im Laufe des Albums immer wieder aufgegriffen wird, soll übrigens nicht wirklich der Atlantik an sich besungen werden, sondern eher Erfahrungen des Lebens, das sich laut Englund „wie eine Reise über den Ozean, auf dem Weg zu fernen Ufern“ gestaltet.

Während „Weightless“ zwar nicht die Komplexität von „A Silent Arc“ erreicht, ist aber auch dieser Song wieder ein gutes Beispiel für das große Plus an Düsternis und Härte, das wieder Einzug in den Bandsound gehalten hat. Überhaupt werden softe Parts fast immer mit dicken, tief gestimmten Gitarrenwänden gekontert, was dem Material ordentlich Kante verleiht. Eine typische EVERGREY-Ballade, die sich auf den vorangegangenen Releases nicht zu knapp fanden, sucht man hier konsequenterweise auch vergebens. Stattdessen wurden auch im ruhigen „Departure“ neue Wege gegangen – der Song wird von einem prägnanten, praktisch als Lead fungierenden, Basslauf dominiert.

„The Atlantic“ könnte also das perfekte Album für alle Fans sein, denen die beiden Vorgänger zu „weichgespült“ daherkamen. Wenn, ja wenn nur die Keyboards nicht wären. Natürlich ist es nichts neues, dass diese bei EVERGREY auch mal stärker im Vordergrund stehen. Allerdings fügten sie sich bislang eigentlich immer sehr gut in den Gesamtsound ein und klangen auch nicht nach Kirmes-Techno. Gerade in im Refrain von „Currents“ und der Strophe von „The Beacon“ fallen die Synth-Melodien aber wirklich negativ auf und zerstören ein gutes Stück der an sich sehr stimmigen Atmosphäre. Schade, da es ansonsten auch an der Produktion eigentlich nichts auszusetzen gibt.

Emotionaler, düstererer Melodic Metal mit einigen Schwächen – „The Atlantic“

EVERGREY wiederholen sich auf „The Atlantic“ kaum, was nach zwei zuletzt recht erfolgreichen Alben durchaus zu erwarten gewesen wäre. OK, die ein oder andere Gesangsharmonie hat man dann vielleicht doch schon einmal gehört, was sich aber durch den stilistisch recht stark festgelegten Gesang von Tom Englund kaum vermeiden lässt. Dennoch scheint man dieses Mal ganz bewusst auf Veränderungen gesetzt zu haben, die hauptsächlich durch den gestiegenen Härtegrad und das komplexere Songwriting sofort deutlich werden. Allerdings wird auch noch wesentlich düsterer zu Werke gegangen, als dies bislang ohnehin schon der Fall war. Damit wird es natürlich deutlich schwieriger, den richtigen Zugang zu finden – ist dies aber erst einmal geschafft, wächst das Album noch einmal ungemein.

Durch die an einigen Stellen wirklich penetranten Keyboards schrammen die Schweden leider knapp an einer noch höheren Wertung vorbei. Wer jedoch mit emotionalem, düsteren und vor allem melodischen Metal etwas anfangen kann, der darf auch beim neuesten Werk von EVERGREY bedenkenlos zugreifen. Zusätzlich sollten allerdings auch Prog-Fans hier ruhig mal ein Ohr riskieren.

18.01.2019

"Time doesn't heal - it only makes you forget." (Ghost Brigade)

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