Long Distance Calling - Boundless

Review

LONG DISTANCE CALLING sind eine Institution im instrumentalen (Post-)Rock/Metal. Egal, ob man die eher DIY-Charme versprühenden Erstlinge mit ihren ausladenden Klanglandschaften bevorzugt („Satellite Bay“ 2007 und „Avoid the Light“ 2009) oder die Periode ab dem Selbstbetiteltem (2011), wo sich erstmals neue Einflüsse in Songwriting und Sound zeigten, das Siegel „Made in Germany“ steht hier immer noch für jede Veröffentlichung Pate: Qualität im höchsten Maß. Nachdem auf „The Flood Inside“(2013) und „Trips“(2016) erstmals in großem Maße Gesang eingesetzt wurde und man sich in den deutschen und schweizerischen Charts platzieren konnte, soll es nun auf „Boundless“ wieder zurück zu den instrumentalen Wurzeln gehen. Klappt das?

Gehen LONG DISTANCE CALLING back to the Roots?

Diese Rückkehr macht sich gleich schon im Klang bemerkbar. Die Produktion auf „Boundless“ ist wieder reduzierter, trockener und dabei aber auch wunderbar erdig, aber immer noch äußerst transparent, klar und bietet jedem Instrument Platz. Diese Reduzierung wird möglicherweise nicht jedem schmecken, ich freue mich mal darauf, wieder etwas zumindest mehr analog scheinendes (ob es das auch wirklich ist, kann ich so ohne weiteres nicht einschätzen oder überprüfen), dass nicht tot-kompressiert oder -quantisiert oder -editiert ist, zu hören. Auch im Songwriting fällt eine gewisse Reduktion auf, die den Stücken allerdings Platz zum Atmen gibt. Das ist ein Paradoxon, denn „Boundless“ hat, dem letzten Album „Trips“ folgend, schon fast kurze Stücke im Vergleich zur Restdiskografie. Mit dem letzten haben LONG DISTANCE CALLING definitiv den größten Hüpfer in Hinsicht auf die Herangehensweise ans Komponieren und Sound gemacht und damit wahrscheinlich viele alte Fans vor den Kopf gestoßen, dafür aber auch viele neue dazu gewonnen. Ist „Boundless“ nun lediglich zum kompromissbehafteten Friedensangebot an die alten Fans geworden und gelingt es, diese vielleicht wieder zurück zu gewinnen?

Zwei Schritte zurück, einen Schritt vor

Der Ambience- und Synthesizer-Anteil, der auf „The Flood Inside“ und besonders auf „Trips“ noch recht durchscheinend war, ist hier auch noch vorhanden, aber mehr im Hintergrund und reduzierter eingesetzt. Opener „Out There“ steigt gleich nach perkussiven/tribal-artigen Drums mit rockigen Riffs ein, entwickelt sich in eine etwas nachdenklichere, proggige Richtung (inklusive erstmals einsetzendem Piano/Keyboard!), bietet eine Warte zum Ausruhen im ruhigeren Mittelteil und bricht zum Finale dann wieder auf. Erinnert dadurch wohlig an die alte Ära der Band.

„Ascending“ geht dann für LONG DISTANCE CALLING-Verhältnisse anfangs ziemlich flott und hart voran, findet später aber wieder den Bogen zurück zu den eher sphärischen und schwelgerischen Klanglandschaften, die man von der Band gewohnt ist.

„In The Clouds“ fängt mit einem fast schon unheimlichen Intro an. Kurz darauf heult eine einsame Gitarre auf, die Tropfen-Perkussion (mir ist kein besserer Ausdruck eingefallen) erinnert ein wenig an PHIL COLLINS bzw. GENESIS („I Can’t Dance“, „In The Air Tonight“), bevor dann basslastig losgewummert wird und erstmals verzerrte Gitarren mit Bending und Whammy-Beanspruchung einsteigen (das klingt dann manchmal fast ein wenig wie Katzengejaule). Ab Mitte des Songs wird dann dramatisches Breitwand-Riffing aufgefahren, dass sich wieder in ruhigere Gefilde zurück findet.  Äußerst gewöhnungsbedürftige Kombi, selbst im Kosmos von LONG DISTANCE CALLING, aber durchaus schmackhaft. Die tolle Gitarren und Bassarbeit muss hier auch noch einmal Erwähnung finden, die verschiedene Ebenen in die Songs bringt und somit die Langzeitwirkung für neue Entdeckungen bei erneuten Plattenrotierungen sicherstellt!

„Like A River“ startet mit Windhauchen und interessantem, fast schon hektischem Picking auf der Gitarre. Dazu gesellt sich sehr reduziert ein Hi-Hat- und später ein Stickpattern der Drums. Ein Flusslauf, der sich seinen Weg sucht, kommt da sinnbildlich schon vors geistige Auge. Darauf streift der Song schon beinahe Country-Sphären und wartet auch noch mit einer Violine auf. Sehr cool! Ähnlich wie auf „Trips“ erzählt jeder Song so ein wenig seine eigene kleine Story, bleibt dabei aber dem poppigen, eher Riff- und song-fokussiertem Ansatz auf dem letzten Album fern und orientiert sich eher am musikalischen Erzählen der Frühwerke.

„The Far Side“ startet über verzerrten, mit ordentlich Effekt versehenen Gitarren und einer Art Fanfare im fernen Hintergrund, geht über in einen Beat der einerseits ziemlich laid-back ist, mit toller Bassuntermalung, andererseits spielen die Gitarren wieder ihr Aufheullied um dann in ruhigeres, akzentuierteres Spiel überzugehen, das später kurzzeitig von Synthesizern unterlegt wird. Am Schluss wird der Epikmoment mit rockigen Riffs und den wieder ausgepackten Fanfaren/Hörnern zelebriert. So offeriert ein Stück wie dieses eine ganze Palette musikalischer Stimmungen und Farben, wirkt aber trotzdem nicht zu verkopft, sondern fließt organisch.

„On The Verge“ startet mit Klavier/Keyboard und baut sich ruhig und langsam auf, nicht unähnlich zu „Like A River“. Allerdings liegt der Fokus hier auf der Songwriting-Ebene dann doch gänzlich anders… an manchen Stellen laufen Gitarren- und Keyboardmelodien beinahezu gegeneinander, was bisweilen etwas schräg wirkt, aber auch den Reiz ausmacht.

„Weightless“ bleibt im Fahrwasser, wartet aber nicht mit neuen Überraschungen wie die vorigen Songs auf. Bis auf ein paar richtig cool groovende Riffs gegen Ende, die sich auch auf so mancher Stoner-Platte gemacht hätten. Aber wie schon gesagt: Alles in minimaler, vorsichtiger Dosierung, sodass stets der Song im Vordergrund bleibt. Rausschmeißer „Skydivers“ pendelt als kürzerer Song dann zwischen melodischer Atmosphäre und härteren Passagen, wo dann kurzzeitig auch mal die Doublebass bemüht wird. Klasse Gitarren-Solo gibts oben drauf.

„Boundless“: Malen mit Musik

Malen mit Musik kann wirklich toll sein und das haben LONG DISTANCE CALLING auch auf „Boundless“ nicht verlernt. Ob man sich lieber von Songs der ersten beiden Alben oder dem neuen ins Traumnirvana entführen lässt, ist letzten Endes Haarspalterei und bleibt einem selbst überlassen. Wer mehr die Gesangsphase mag, kann dann ja auch gern zurück zu den letzten beiden Alben gehen (Ich bin ja durchaus Fan von beiden Ausprägungen im Sound von LONG DISTANCE CALLING, je nach Stimmung).

Auffallend an „Boundless“ ist eigentlich, dass es im Prinzip nichts neues ist. Die Band zeichnete sich schon immer durch Ungezwungenheit, Experimente im Sound und keine Anbiederung an irgendwen oder irgendwas aus. Sein eigenes Ding durchziehen, die Musik sich organisch entwickeln lassen. Auch wenn das manchmal meint, Fans vor den Kopf zu stoßen oder auch mal einen Rückschritt zu machen. Das muss nicht immer schlecht sein, sondern kann wie im vorliegenden Falle geradezu erfrischend wirken. Gesang fehlt? Griffige Riffs oder Hooklines ebenso? Merkt man hier gar nicht und ist einem auch ziemlich schnurz. Experimente sind auch hier noch vorhanden, aber mehr auf Textur und passenden Einsatz innerhalb der Songs angepasst, anstatt die Songs darauf zu gründen, wie noch auf „Trips“. Ob es so klappen wird, alte und neue Fans zu vereinen und erneut einen Fußabdruck in den Charts zu hinterlassen? Wer weiß. Auf „Boundless“ beweisen LONG DISTANCE CALLING, dass Rückschritt, in diesem Fall sich auf die eigenen ursprünglichen Stärken zu besinnen und behutsam zu experimentieren, durchaus in so manchem Rahmen auch Fortschritt sein kann.

17.01.2018
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