Borknagar - True North

Review

Mit „Winter Thrice“ gelang BORKNAGAR vor drei Jahren eine erstaunliche Überraschung. Nachdem die Band mit den Alben „Universal“ und „Urd“ auf einem hohen Niveau förmlich erstarrt und somit auch unspektakulär erschien, veröffentlichten die Norweger ein Album, das von vielen Fans als bislang bestes ihrer, an Höhepunkten ohnehin nicht armen, Karriere angesehen wurde.

Umso mehr wurde aufgehorcht, als „True North“ angekündigt wurde, zumal sich seit dem vergangenen Album einiges im Line-Up der Band getan hat. Der Schwede Vintersorg verließ nach fast zwanzig Jahren den Platz am Mikrofon, wodurch der Gesang von ICS Vortex mehr Raum einnimmt. Auf „Urd“ und „Winter Thrice“ hatten sich die beiden Sänger noch die Vocals mit Keyboarder Lars Nedland geteilt. Ebenso verließ der langjährige Gitarrist Jens F. Ryland die Band. An seine Stelle trat Jostein Thomassen, der gemeinsam mit Bjørn Rønnow bei PROFANE BURIAL aktiv ist, der wiederum Baard Kolstad am Schlagzeug ersetzte. Neben ICS Vortex, der auch den Bass bedient, verblieben somit nur Bandkopf Oystein G. Brun an der Gitarre und Lars Nedland am Keyboard in der Band.

Neues Line-Up, neuer Sound?

Einen ganz neuen Sound sollten Fans deswegen aber nicht erwarten oder gar befürchten. Denn „True North“ knüpft an den Sound und Stil von „Winter Thrice“ an, glänzt durch das Zusammenspiel von Gitarre und Keyboard, wodurch ein voller, warmer Klang entsteht. Darüber legen sich die Stimmen von Vortex und Nedland, die einander ähneln, aber doch klar zu unterscheiden sind und sich harmonisch ergänzen. In diesem Punkt sei der Vergleich zu ALICE IN CHAINS gestattet, bei denen die beiden Sänger ebenfalls in gemeinsamer Arbeit ein dichtes Stimmbild erschaffen, auch wenn die BORKNAGAR freilich ein anderes Genre bedienen und immer wieder Black-Metal-Schreie einsetzen.

Aber um welches Genre handelt es sich denn bei „True North“ überhaupt? So richtig Black Metal waren BORKNAGAR eigentlich nur auf ihrem ersten Album. Danach wurde es, inspiriert von ULVER, ENSLAVED und nicht zuletzt VINTERSORG, immer progressiver und avantgardistischer, wie es damals hieß. Die Aura des Verträumten, beinahe schon Mystischen, welche die ersten drei Alben auszeichnete, ging trotz hoch bleibender Qualität verloren. Auf Urd deutete sich ihre Rückkehr an und schien mit „Winter Thrice“ vollendet. „True North“ setzt aber noch einmal einen drauf und überschüttet den Zuhörer mit einer unfassbar dichten Atmosphäre und detailverliebten Arrangements.

BORKNAGAR brechen in den wahren Norden auf

Gestaltet sich der Einstieg mit „Thunderous“ noch etwas unvermittelt und dadurch distanziert, baut das Album schnell eine mitreißende Sogwirkung auf. Bald entdeckt man am Rand des Weges Streichinstrumente, flächige Chöre, harmonische Keyboardläufe – alles perfekt produziert und mit einem ganzheitlichen Sound. Jens Bogren, der bereits „Urd“, „Winter Thrice“ und auch die aktuelle Platte von AMORPHIS veredelte, hat ganze Arbeit dabei geleistet, den von Oystein G. Brun vorproduzierten Songs im Mastering den letzten Schliff zu geben.

Was BORKNAGAR ausmacht, auf „True North“ wird es zusammengefasst. Das Album ist wie eine Reise durch die Bandgeschichte und in diesem Punkt sogar etwas abwechslungsreicher, ja: bunter, als der ohnehin schon beeindruckende Vorgänger „Winter Thrice“. Ein Song wie „Up North“ kommt ganz ohne Brutalität aus, wird von Vortex klarer Stimme, beschwingten Keyboardklängen und melodischen Gitarren in sehnsüchtig vermisste nördliche Gefilde getragen. Auch „Wild Father’s Heart“ bleibt ruhig und entspannt, lässt den Zuhörer in die unerforschten Tiefen der Natur und auch der eigenen Seele eintauchen.

„True North“ – ein Ort oder ein Traum?

Es sind vor allem die drei Songs „Mount Rapture“, „Into The White“ und „Tidal“, die Erinnerungen an das zweite Album „The Olden Domain“ aufkommen lassen, dabei aber auch etwas Neues schaffen. Es wird deutlich, dass bei BORKNAGAR stets auch die Vergangenheit, der bisher zurückgelegte Weg, mitschwingt, letztlich sich aber immer der Wunsch nach Kreativität durchsetzt.

Dieses Verlangen drückt sich auch in den Texten aus. Letztlich geht es auf „True North“ fast immer darum, dass wir eines Tages Futter für die Würmer, die Flammen oder die Wellen sind. Dies ist jedoch nicht das Ende, sondern Teil eines größeren Kreislaufs. Mensch und Natur, die oft einander gegenübergestellt werden, sind in der Welt von BORKNAGAR eins. Diese Welt ist ein Sehnsuchtsort, imaginiert, aber nicht fiktiv, weit oben im Norden, „Up North“. Im Tod überwindet der Mensch die Schranken zwischen ihm und der Natur, zersetzt sich, wird dabei aber wieder ganz.

Mensch und Natur vereinen sich im Tod

So schließt das Album entsprechend mit dem tieftraurigen aber auch wunderschönen „Voices“. Wenn die Stimmen erst einmal verstummt sind, dann schwinden auch die fesselnden Ketten, heißt es dort im Text. Wenn das Atmen endet, dann ist die Freiheit endlich erreicht. Der wahre Norden, der „True North“ in all seiner natürlichen Pracht, erscheint somit als Reich des Todes, aber auch der Befreiung und Heimkehr, schließlich der Vervollständigung.

Auch „True North“ fühlt sich vollständig, abgeschlossen und rund an. Merkte man bei „Winter Thrice“ noch verschiedene Einflüsse beim Songwriting von Brun, Nedland und Vintersorg, wirkt das neue Album mehr wie aus einem Guss. Zu sagen, dass es makellos wäre, wäre übertrieben. Schließlich lernen wir beim Hören, dass dies mit den Ketten des Menschseins ohnehin nicht möglich wäre. Was allerdings alles möglich ist, das schaffen BORKNAGAR mit diesem Album – und der Zuhörer schöpft aus dem Vollen.

21.09.2019
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