
BYZANTINE liefern mit „Harbingers“ ein Album ab, das sich jeder einfachen Kategorisierung entzieht – auch wenn Metal Blade es mit dem Stempel New Wave of American Heavy Metal versicht. Das Etikett deckt jedoch eine so breite Spanne an Subgenres von Alternative über Groove und Industrial Metal bis hin zu Sludge, Southern und Stoner ab, dass es nur bedingt bei der Orientierung hilft. Besser ist dagegen die bekannte Verkürzung auf Thrash Metal und Groove Metal, auch wenn dieses Korsett dem jüngsten Werk des Quartetts aus Charleston im US-Bundesstaat West Virginia nicht vollumfänglich gerecht wird.
„Harbingers“ ist breitbeiniger Groove und wütender Thrash
Metal Blade jedenfalls prescht selbstbewusst voran und bezeichnet „Harbingers“ als „das Kronjuwel“ in der sieben Alben umfassenden Band-Diskografie. Sänger und Gründungsmitglied Chris Ojeda findet vergleichbare Worte. Nach 25 Jahren im „struggle bus“ (was sich sinngemäß wohl mit „ständiger Überlebenskampf“ übersetzen lässt) sei man bereit, der Rock- und Metalwelt zu zeigen, was man wirklich draufhabe. Und: Wenn man BYZANTINE bislang verschlafen habe, werde das neue Album einen aufwecken.
Dem ruhigen, gut anderthalb Minuten langen Intro gelingt das Aufwecken noch nicht, aber mit dem anschließenden „A Place We Cannot Go“ liefert die Band jenen groovenden, breitbeinigen Metal, der nach großen Arenen klingt und den Amerikaner oft besser beherrschen als Europäer. Die melodiösen Gesangsparts sind radiotauglich, harte Passagen gibt’s on top. Der Opener dürfte zudem alle überraschen, die bis dahin nur die erste Single kannten. Schließlich liegt der Härtegrad beim vorab als Video ausgekoppelten Stück „Floating Chrysanthema“ gut zwei Stufen höher im Thrash-Segment. Trotz der Gangart bleibt der eingängige Refrain aber eine offene Tür zum Mainstream.
Zwei Songs weiter bei „Riddance“ (auf Deutsch „Befreiung“, vielleicht programmatisch gemeint?) preschen die vier wütend nach vorne und vor allem Drummer Matt Bowles liefert hier ganze Arbeit ab. Die vorab ebenfalls als Video veröffentlichte Nummer „The Unobtainable Sleep“ wiederum lässt hörbar Raum für den Bass von Ryan Postlethwait, der auf dem Album ebenfalls Gesangsparts übernimmt. Das skizzierte Wechselspiel von Härte und Melodie, das je nach Song unterschiedlich gewichtet ist, zeichnet auch alle weiteren Tracks aus. Erfreulich ist dabei zudem, dass sich Songideen nicht wiederholen und ein Abnutzungseffekt ausbleibt.
Stimmliche Vielfalt als Trumpf von BYZANTINE
Was schnell auffällt und sich im weiteren Verlauf bestätigt: Neben der Musik ist auch der Gesang wirklich variabel, der nicht nur beim Klargesang mit emotionalem Tiefgang überzeugt, sondern oft genug auch in den rauen Sequenzen – die natürlich einfach nur angepisst daherkommen können wie im Quasi-Titelsong „Harbinger“. In „The Clockmaker’s Intention“ wirkt es stellenweise so, als hätte Hansi Kürsch ein paar typische Vocals beigesteuert. Für weitere Varianz neben Ojeda und Postlethwait sorgt Brian Henderson, der zusätzlich zu seinem Job als Gitarrist an mehreren Stellen singt. Beispielsweise stammen die an Jerry Cantrell erinnernden Momente in der zweiten Single „The Unobtainable Sleep“ von ihm.
Wuchtiger Sound, zeitlose Themen: „Harbingers“
Peter Wichers (u. a. SOILWORK, ALL THAT REMAINS und NEVERMORE) hat die neun Songs produziert, die auf eine Laufzeit von 45 Minuten kommen. Der Schwede liefert einen klaren, wuchtigen Sound, bei dem jedes Instrument genügend Raum erhält und der angenehm warm wirkt sowie voluminös aus den Lautsprechern dringt.
Das Cover-Artwork stammt von Ashley Hoey und soll Irene von Athen zeigen – um das Jahr 800 herum die erste Frau auf dem Kaiserthron des byzantinischen Reiches und Mutter von Konstantin VI. Das Album schließt zwar mit dem Song „Irene“, ein Konzeptalbum liegt indes nicht vor. So geht es beispielsweise um ein düsteres Zukunftsszenario mit einer künstlichen Intelligenz, die die Menschheit unterwirft („Floating Chrysanthema“), um eine Erzählung über das Verlangen nach innerem Frieden durch den Tod („The Unobtainable Sleep“) oder – ganz zeitlos – um Führungspersönlichkeiten, die unter anderem von Gier und einem rücksichtslosen Machtstreben angetrieben sind („Harbinger“).
Anspruchsvoll, heavy, lohnenswert
Vielleicht trifft das Label „New Wave of American Heavy Metal“ ja doch ins Schwarze: BYZANTINE vereinen thrashige Härte mit melodischem Feinsinn und Shouts mit Klargesang. Die Songs brennen sich ins Hirn, auch wenn die Band auf mitsingtaugliche Refrains verzichtet, die sich auch ohne Kenntnis der Texte mitsingen lassen. Die Variabilität im Songwriting sorgt für erfreuliche Abwechslung und insgesamt ist „Harbingers“ ein Grower, der mit jedem Durchlauf besser wird. Genau so sollten Alben sein.
Text: Torsten Paßmann
Woran merkt man, dass man alt wird? Band-Fotos von vor zwanzig Jahren betrachten und direkt im Anschluss die eigene Fresse im Spiegel, weil das doch eigentlich gar nicht sein kann, dass das Debüt schon über zwanzig Jahre her ist und überhaupt:
DAS KANN DOCH GAR NICHT! NEE, NORMAL KANN DAS AUCH GAR NICHT!!!
Es war ein schöner Weg mit euch liebe Byzantine und ich gedenke diesen weiter mit euch gemeinsam zu beschreiten. Tolle Platte!