Heaven Shall Burn - Wanderer

Review

In Zeiten, in denen Halt gebende Strukturen sich in der Auflösung befinden, sicher Geglaubtes ins Wanken gerät, Ideale und Weltbilder herausgefordert werden, der Glaube an Menschheit und Menschlichkeit immer härteren Proben unterzogen wird, in solchen Zeiten sammelt der Revolutionär neue Kraft im letzten urtümlichen Refugium der Natur. Er geht, um es mit RAMMSTEIN zu sagen, „in die Tannen“. Dort wird er zu seinem Herz finden, dem moralischen Kompass, der ihm innewohnt. Er wird zurückkehren und die Welt zu einer besseren machen. HEAVEN SHALL BURN sind eine zutiefst politische Band, die nicht zwischen künstlerischem Output und eigener Überzeugung trennt, und „Wanderer“ die karthatische Essenz des eigenen Schaffens unter dem Einfluss einer Welt aus den Fugen. Obwohl die zwölf Songs des achten Studioalbums einmal mehr zutiefst konkrete historische Begebenheiten beschreiben und Missstände anprangern, blickt der Wanderer diesmal als übergeordnetes Konzept entrückt und beinahe metaphysisch vom Gipfel des erhabenen Coverbergs auf diese herab.

Die Wanderung als Werkschau

Es passt zu diesem Leitmotiv, dass „Wanderer“ auch in Sachen Sound die gesamte Entwicklung von HEAVEN SHALL BURN Revue passieren lässt. Eine glaubwürdigere Liebeserklärung an die eigenen Death-Metal-Wurzeln als „Prey To God“ (featuring George „Corpsegrinder“ Fisher von CANNIBAL CORPSE), kann man als vermeintliche Core-Band eigentlich kaum schreiben. „Black-Tears“-Girls aufgepasst, so hart und sparsam in Sachen Melodien hat man diese Band lange nicht mehr gehört. „Bring The War Home“ greift einmal mehr die Industrial-Elemente auf, die in der Vergangenheit bereits Tracks wie „Murderers Of All Murderers“ und „Combat“ das gewisse Etwas verliehen. Vor allem die zweite Albumhälfte bietet hingegen viel klassischen HEAVEN-SHALL-BURN-Sound zwischen alles unter sich begrabenden Gitarrenwänden und durchgetretener Double Bass in den Strophen und eingängiger Melodeath-Leads in den Refrains. Das hymnische „A River Of Crimson“ ist ein gutes Beispiel für die bewährte Thüringer Formel.

Leicht abseits dieser Formel fährt „Wanderer“ ausgerechnet jene beiden Tracks auf, die das Album als Opener und Rausschmeißer rahmen. „The Loss Of Fury“ ist eine minimalistische Walze, deren Riffs und dezente Chöre eindeutige Endzeitstimmung und zudem eine leichte Black-Metal-Atmosphäre verbreiten. „The Cry Of Mankind“ am anderen Ende des Albums geht hingegen als das Progressivste durch, das HEAVEN SHALL BURN jemals auf Platte gebannt haben, was daran liegen könnte, dass man das Original möglicherweise von MY DYING BRIDE kennt. Gesangliche Unterstützung für die entsprechende Schwermut bringt Feature-Gast Aðalbjörn Tryggvason von SÒLSTAFIR.

Die Essenz von HEAVEN SHALL BURN

Dazwischen zelebrieren HEAVEN SHALL BURN ihren wohlbekannten Stil mit einigen der zwingendsten und mitreißenden Tracks der letzten Jahre. Wem „Downshifter“ noch zu ausschweifend daherkam, der kann sich am kompromisslosen Groove von „Extermination Order“ erfreuen. Es geht um die erste deutsche Praxiserfahrung in Sachen Völkermord im 20. Jahrhundert, namentlich das Massaker an über 65.000 Herero und Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika und heutigen Namibia. Wen die Gegenwart noch nicht traurig und wütend genug macht, der holt sich die textliche Inspiration für die vertonte Wut einfach in der Vergangenheit.

Produktionstechnisch regiert natürlich die oft mit BOLT THROWER verglichene HSB-Soundwand. Dass mit Christian Bass nach Matthias Voigt ein neuer Mann hinter den Kesseln sitzt, merkt man kaum. Die Wand steht. Marcus Bischoff klingt etwas rauer und dreckiger als sonst und scheint dieses Mal auch mit weniger Tonspuren ausgekommen zu sein. Zudem dringt der Mann öfters als zuletzt in tiefere Growl-Sphären vor, was ihm äußerst gut zu Gesicht steht. Weichert, Dietz und der andere Bischoff riffen gewohnt präzise und mit Sinn für Timing und Melodie. Dass dabei das ein oder andere Riff klingt wie von einem der sieben Vorgängeralben ist Ehrensache und wird auch immer ein berechtigter Kritikpunkt an HEAVEN SHALL BURN bleiben. Einwortentgegnungen könnten „SLAYER“ oder „MOTÖRHEAD“ lauten. Man kann HEAVEN SHALL BURN aber auch einfach für die bemerkenswerte Konsistenz in Sachen Qualität loben, die diese Band seit über 15 Jahren abliefert, dafür, dass sie ein wichtiger Botschafter in Sachen extremer Metal aus Deutschland ist, für ihr politisches Engagement und die aufrüttelnden Texte. „Wanderer“ ist die ehrliche Essenz all dessen und ein Album, das mit dem gefeierten Vorgänger „Veto“ mindestens auf Augenhöhe liegt.

09.09.2016
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