Dark Tranquillity - Fiction

Review

Leicht haben es mir DARK TRANQUILLITY nicht gemacht, als ich vor nunmehr zwei Monden „Fiction“, das neue Opus der Band, das erste Mal hören durfte. Hart, zunächst sperrig und facettenreich tönte es aus den Lautsprechern. Da machten es IN FLAMES ihren (neueren) Jüngern zuletzt schon einfacher, indem sie immer das gleiche auf relativ hohem Niveau produzierten. DARK TRANQUILLITY jedoch sind anders. Schon der Vorgänger „Character“ schlug ja einen neuen Kurs ein, kälter, weniger (warme) Schnörkel bezüglich der Keyboards, Stanne intonierte immer kratziger, die Schönheit lag hinter Gestrüpp und karstigen Felsen verborgen; dafür war sie einzigartig und selten, wie ein Edelweiß. Wie nun im einzelnen hat sich die Band mit „Fiction“ weiterentwickelt? Sind neue Elemente dazugekommen, wurde das bewährte verfeinert?

„Nothing To No One“ gibt nach Art von Old School-DARK TRANQUILLITY Vollgas, unterbrochen nur vom mit melodischen Keys unterlegten Refrain. Das Schlagwerk hämmert gnadenlos, der Bass wummert deutlich hörbar, die Gitarren schreddern Schwedenmelodien. Ein wirklich guter Start ins Album. „The Lesser Faith“ nimmt etwas Fahrt heraus, wehmütige Keys, variable im Vordergrund zu hörende Drums, ein modernes Riff münden in einen melodisch-traurigen Chorus. Sundin sagte im Interview, es sei einer der „moderneren“ Songs. In der Tat, hier hat die Band viele Ideen untergebracht. Denn selbst das an THE HAUNTED erinnernde Riff artet nicht in hektisches Geschiebe aus, sondern führt den Song weiter, in die hochmelodische Auflösung, von Stanne mit intensiven Vocals versehen. Vielseitig, variabel, großartig. „Terminus (Where Death Is Most Alive)“ ist ein harter typischer Midtempo-Song der „Character“-Phase mit eigenwilligen elektronischen Farbtupfern und kurzen moderneren Licks. „Blind At Heart“ marschiert mit Groove kräftig nach vorne, Speed geht über in einen traurigen Refrain. Jivarp an den Drums gibt wieder alles, Stanne ebenso, wild, kratzbürstig, immer auf die Zwölf.

Im zweiten Teil der Scheibe wird zunächst deutlich Fahrt herausgenommen. „Icipher“ lässt Erinnerungen an die epischen Momente der „Projector“- und „Haven“-Episode wach werden. Der Track transportiert getragene Stimmung, er bleibt ruhig, obwohl Stanne die ganze Zeit growlt, das Drama spitzt sich zu. Ein kurzes Klassesolo, dass in gelungene Elektrobeats übergeht, rundet „Icipher“ ab. „Inside The Particle Storm“ eröffnet mit transparenten Gitarrenvibes, schwebend gleichsam, ein ruhiges Solo und variable Schlagzeugrhythmen führen in einen der stärksten Songs des Albums. Hier agieren DARK TRANQUILLITY verschnörkelter, ruhige Passagen wechseln sich mit der äußerst dramatischen Grundstimmung ab. Ein effektives Break zeigt die Vorliebe der Band für große epische Momente. Progressive Töne sind ihnen näher denn je. Auch dezente Gothic-Vibes lassen sich nicht verleugnen, sie werden am Ende der Scheibe wiederaufgegriffen werden. Mit „Empty Me“ regiert nochmal Härte und Speed mit entfesselter Rhythmusabteilung. Den Kontrast bildet das folgende „Misery’s Crown“; hier setzt Stanne in der Strophenphase endlich wieder einmal seine wunderbare Klarstimme ein. Gegrowlt wird nur im Refrain, dafür inbrünstig. Sundin meinte, aus diesem Song hätte mehr herausgeholt werden können, tatsächlich? Ich finde ihn sehr gelungen. Wie dem auch sei, das ist ein Track, zu dem man schnellen Zugang haben kann, vielleicht deshalb Sundins Kritik.

Das schon im Vorfeld von „Fiction“ als Video veröffentlichte „Focus Shift“ erinnert uns nochmals daran, dass wir es hier mit schwedischem Death Metal zu tun haben, die Chorus-Zeilen „I Think I Have Lost My Language“ gehen einem nicht mehr aus dem Kopf. Erst eher unscheinbar, wächst der Song ungemein, inzwischen ist er einer meiner Faves. Den Abschluss des Albums bildet „The Mundane And The Magic“, im Aufbau an „My Negation“ vom Vorgängeralbum erinnernd. Auch hier setzt Stanne Cleanvocals ein, diesmal allerdings im Refrain. Begleitet wird er dabei von der Waldfee Nell, die sonst THEATER OF TRAGEDY ihre Stimme leiht. Klavier und dramatische ruhige Sequenzen machen diesen Song zu einem idealen Finale.

DARK TRANQUILLITY haben es auch sich selbst nicht leicht gemacht. Der passende nüchternere Sound kann auch zum Teil auf Neuproduzent Tue Madsen zurückzuführen sein, denn der altbewährte Frederik Nordström blieb diemal außen vor. Insgesamt haben DARK TRANQUILLITY mit „Fiction“ eine modern eingespielte Quintessenz ihres bisherigen Schaffens abgeliefert. Alle bisherigen musikalischen, für die Band typischen Trademarks werden aufgeboten, zitiert, jedoch nicht geklont. Daher muss sich der geneigte Hörer mit dem Songmaterial intensiv beschäftigen. Und DARK TRANQUILLITY stellen einige Anforderungen. Die Fiktion wird durch das Sundin-Cover verstärkt: ikonenhaft steht das Symbol DT vor nebelverhangenem Horizont. Ich finde, diese Gratwanderung, den Ausdruck eigener Ambivalenz, hat die Band mit Bravour gemeistert. Ihre Einzigartigkeit haben sie wieder einmal trefflich unter Beweis gestellt. Daher, und nur weil sie sich nochmals steigern werden, eine Super-Neun.

11.04.2007
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