Dark Tranquillity - The Mind's I

Review

Verflixt und zugenäht, wie soll man eigentlich ein Jahrhundert-Werk wie „The Gallery“ noch toppen? Vor dieser nahezu unlösbaren Aufgabe standen DARK TRANQUILLITY gleich beim dritten Album ihrer mittlerweile auch schon 28-jährigen Karriere. Was für eine Herausforderung, an der wären gewiss so manche zerbrochen bzw. gescheitert. Nicht so die Göteborger, denn die schüttelten sich scheinbar lässig einfach mal so „The Mind‘s I“ aus den Ärmeln und verblüfften die Melodic-Death-Welt erneut.

Das Album sollte ganz bewusst etwas einfacher und direkter als „The Gallery“ sein, das war wohl der selbst verordnete Ansatz. DARK TRANQUILLITY wollten sich diesmal eher auf die wesentlichen Dinge beim Songwriting beschränken. Das ist jedoch nur teilweise gelungen, zum Glück. Denn auch „The Mind‘s I“ ist immer noch sehr komplex und ausgefeilt bis ins kleinste Detail, genial. Und dabei erschien die Scheibe gerade mal anderthalb Jahre nach „The Gallery“. Wie zum Teufel schreibt man in so kurzer Zeit zwei solche genialen und vielschichtigen Kracher? Unglaublich.

The Hunt Is Over, So The Feast Begins

Die geballte Genialität der Scheibe bringt gleich mal das gewaltige und trockene Eröffnungsdoppel „Dreamlore Degenerate“ und „Zodijackyl Light“ auf den Punkt. DARK TRANQUILLITY sind wieder sehr ausgefeilt und abwechslungsreich unterwegs und bringen in jedem Song (das gilt für die gesamte CD) unglaublich viele geniale Ideen unter, absolut faszinierend. Mit dem zutiefst schwermütigen „Hedon“ präsentiert man anschließend eine Art Melodic-Death-Power-Ballade, die überwiegend im epischen Midtempo angesiedelt ist, um eine kurze Explosion jedoch nicht drum herum kommt. Und hier tragen ganz besonders die Melodien und Stanne den Song nahezu im Alleingang, diese Kombination war seinerzeit wirklich einzigartig.

Apropos Gesang. Wie ausdrucksstark Hr. Stanne damals sang, brüllte und litt, sucht auch heute noch seinesgleichen. Wo andere durchaus perfekt ihre Vocals brutal intonierten, da lebte Mikael seine Songs und ging förmlich darin auf. Das kriegt er so leider heute nicht mehr ganz hin, auch wenn er nach wie vor zu den Besten seiner Zunft zählt. Stanne ist wie ein Magier an dessen Lippen man hängt und dessen Aura man sich kaum entziehen kann.

Und so geht es weiter Schlag auf Schlag. Das flotte und eingängige „Scythe, Rage And Roses“, „Constant“ mit seiner getragenen Stimmung und das knackige „Dissolution Factor Red“. Hier geht es kurz und bündig auf die berühmte zwölf, in zwei Minuten ist alles gesagt. Die Gitarrenarbeit ist generell auf höchstem Niveau angesiedelt und immer wieder begegnen einem diese Melodien, die sich für immer in den Gehörgängen einnisten. Bemerkenswert sind auch die vielen unterschiedlichen Schichten, die DARK TRANQUILLITY damals in wirklich jedem Song perfekt miteinander verzahnten.

DARK TRANQUILLITY mitten in ihrer genialsten Schaffensphase

Und dann wird es noch balladesker als bei „Hedon“. „Insanity’s Crescendo“ startet akustisch mit weiblichem Gesang. Nach zwei Minuten nimmt der Song dann aber doch metallisch Fahrt auf und wird nun mit Mikael am Mikro fein stampfend und treibend. Es gibt so einige geniale dramatische Wendungen, der Track ist ein kleines Epos.

Nach so einem Monster müsste man eigentlich erstmal durchschnaufen, aber keine Chance, es stehen mit „Still Moving Sinews“ und „Atom Heart“ umgehend die nächsten Knaller an. Es sprudelt förmlich nur so heraus aus der Band, aus den ganzen Ideen hätten andere locker vier Scheiben gestrickt. Und jeder Song hat als eine Art Hauptthema eine Göttergabe von Melodie.

Dann geht es mit „Tongues“ langsam aber leider sicher dem unvermeidlichen Ende entgegen, und der letzte „richtige“ Song hat es nochmal absolut in sich. Auch hier bieten DARK TRANQUILLITY nochmals große Melo-Death-Kunst, das Songwriting ist einfach nahezu perfekt. Und immer wieder fesselt einen diese herrliche melancholische Färbung in jedem Song, auch bedingt durch Stannes Gesang.

This Is The Magic That A Name Would Stain

Das instrumentale Titelstück rundet schließlich dieses Werk unmetallisch aber atmosphärisch unheimlich dicht ganz gekonnt ab. Nun kann man kurz durchschnaufen, kommt aber um einen umgehenden Neustart der Scheibe gar nicht drum herum. So ist das halt, wenn man einmal an der Perfektion genascht hat.

DARK TRANQUILLITY haben uns und diesem Genre zwei Klassiker für die Ewigkeit geschenkt, daher kratzt auch „The Mind‘s I“ mit Nachdruck an der Höchstnote. Das diese hier dann hier schweren Herzens doch nicht gezückt wird, liegt ganz sicher nur an der Verehrung des Rezensenten für „The Gallery“. Genialität Kopf an Kopf, es geht wirklich nur um Nuancen. Die Unterschiede zwischen diesen beiden Meisterwerken sind eher marginal, beide Scheiben wandeln auf einem schwindelerregend hohen Niveau. DARK TRANQUILLITY zauberten einem damals wirklich mit jedem Song ein Lächeln ins Gesicht und hätten gerade von diesen beiden Scheiben jeden live spielen können, ohne den Ansatz von Qualitätsverlust. Danach wurde mit „Projector“ eine neue Schaffensphase der Band eingeleitet, aber das ist eine andere Geschichte.

17.07.2019
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