Nightwish - Dark Passion Play

Review

Ist es eine dankbare Aufgabe, etwas über „Dark Passion Play“ schreiben zu müssen? Nein. Ich weiß jetzt schon, dass, egal wie mein Fazit ausfallen wird, jeder besser weiß, wie man dieses Album einzuschätzen hat. Die einen meckern schon aus Prinzip über Anette Olzon, NIGHTWISHs neue Sängerin, bevor sie nur eine Note von ihr gehört haben. Die anderen sehen NIGHTWISH als ausgenudelte Gothic-Metal-Band, deren Leben nach dem Rauswurf von Tarja Turunen künstlich verlängert wurde. Wer nicht zu den beiden Gruppen gehört, könnte einfach beinharter NIGHTWISH-Fan sein und ohnehin alles anbeten, was Tuomas Holopainen auf die Beine stellt.

Deshalb stelle ich mich sofort und freiwillig zwischen alle Stühle und betone ausdrücklich: ich gehöre zu keiner dieser Gruppen. Stattdessen habe ich mir vorgenommen, „Dark Passion Play“ nicht nur als sechstes, sondern auch als Debütalbum der Band zu betrachten. In etwa das ist es im Grunde auch – kein Comeback, kein reguläres Turnusalbum, sondern das Debüt einer erfahrenen, erwachsenen Band, die durch den Zuwachs einer stilfremden, völlig unvoreingenommenen neuen Sängerin ein vollkommen anderes Gesicht behält.

„Dark Passion Play“ wird von einem Mörder von einem Lied eröffnet: „The Poet And The Pendulum“, fast vierzehn Minuten lang und die Summe all dessen, was NIGHTWISH ausmacht. Die Produktion ist wieder griffiger geworden, wuchtiger, ausgewogener. Die Gitarren sind wieder als Gitarren zu vernehmen, die zu Doublebasspassagen Riffs schmettern, die orchestralen Elemente sind nicht mehr nur schmückendes, bombastisches Beiwerk, sondern liefern endgültig eigenständige Stimmungen, die eindeutig dem Epic-Score-Stil der Filmmusik entstammen.

Und dann, nach zwei Minuten, gibt Anette Olzon ihr Albumdebüt mit einer angenehmen, warmen, leicht schüchternen Stimme. Ich gebe zu, nach dem opernhaften, divaartigen Organ Tarjas ist das ein echter Unterschied, an den man sich gewöhnen muss. Sicherlich fehlt Anette (noch) das Stimmvolumen, das man von NIGHTWISH gewöhnt ist. Allerdings, nicht vergessen!, wollten wir unvoreingenommen sein. Die Frau singt sauber, fügt sich freiwilliger und natürlicher ein als ihre Vorgängerin, beansprucht keine Hauptrolle in diesem tragischen, dramatischen Kurzfilm namens „The Poet And The Pendulum“, in dem der Hörer von saftigen, bratenden und wütenden Attacken in tiefe, melancholische und tränenrührende Täler und wieder hinaus, mitten in ein drohendes, düsteres Gewitter geworfen wird.

In dieser seltenen Eigenschaft besteht meiner Ansicht nach die wunderbare Eigenart des Tuomas Holopainen: wirkliche Emotionen zu schaffen, und das mit einer sagenhaften Dramatik und Dynamik, bei der er wie ein meisterhafter Jongleur mit allen verfügbaren Stilmitteln umgeht, und in einer für durchschnittliche Bands unüberschaubaren Materialschlacht jedem seinen Platz zuordnet. NIGHTWISH mit dem abgegriffenen Genre „Gothic Metal“ abzustempeln ist eine grobe Missachtung der Künste dieses Mannes, den wir in zehn Jahren vielleicht als Komponist hochkünstlerischer Filmmusik als Nachfolger Hans Zimmers erleben werden, oder der in einem anderen Leben ein zweiter Gustav Mahler geworden wäre. Was hier läuft, ist sinfonischer als THERION, organischer als RAGE mit Orchester, emotionaler, lebendiger als HAGGARD, tausend mal weniger kitschig als RHAPSODY OF FIRE und besser als jede andere Symphonic-Metal-Band, die ich kenne.

Dreizehn Stücke umfasst „Dark Passion Play“, fünfundsiebzig volle Minuten. Andere Bands hätten daraus problemlos zwei Alben gebaut. Neben dem auf dem Album unerreichten „The Poet…“ sind das an die „Wishmaster“-Ära erinnernde „Bye Bye Beautiful“, das zerbrechlich und sentimental wirkende „Amaranth“, das sehr rifforientierte und verbitterte „Master Passion Greed“ und „For The Heart I Once Had“, das fast nach alten THEATRE OF TRAGEDY und ein wenig alternativ-entspannt klingt, die für mich herausragendsten Stücke. Mit der vorab als Single veröffentlichen Ballade „Eva“ kann ich nicht besonders viel anfangen, nicht nur, weil sie vollkommen unrepräsentativ für das Album ist, sondern auch, weil sie ein wenig tränendrüsendrückend und konstruiert wirkt.
In der zweiten Hälfte des Albums finden sich außerdem das mit Trommeln, Flöten und Akustikgitarren vorgetragene „The Islander“, ein irisches Volkslied, ein für NIGHTWISH völlig unbekanntes Terrain, das Tuomas und Marco am Gesang aber sehr gut meistern, sowie das ähnlich gelagerte „Last Of The Wilds“, das allerdings wieder mit E-Gitarren brät und fast an ENSIFERUM und Konsorten erinnert. Sehr schmissig, sehr eingängig, sehr nett. „7 Days To The Wolves“ hat zwar einen einzigartig eingängigen Refrain und tendiert schon merklich in die Hardrock-Richtung, bleibt ansonsten aber relativ blass. „Meadows Of Heaven“ fährt als halbe Pianoballade noch einmal große Emotionen auf und ist ein würdiger, nachdenklicher und reifer Abschluss für dieses Album.

Fazit? Ist sehr schwer zu ziehen. Mehr denn je und das erste Mal seit „Wishmaster“ rühren mich NIGHTWISH in mehr als einem Song zu Tränen, zeigen aber auch über die ganze Länge, dass sie variabler und stilsicherer geworden sind in den letzten drei Jahren. Anettes Einstieg sehe ich als klaren Vorteil, weil sie die Chance zu einem Neuanfang gegeben hat, den die Band meiner Meinung nach schon vor „Century Child“ gebraucht hätte. Der gravierende Nachteil ist meiner Ansicht nach nicht der Gesang (auch nicht Marcos, den ich nachwievor als Kontrast zur weiblichen Hauptrolle sehr gelungen finde), auch nicht der mittlerweile gefestigte Stil, dem man eine gewisse Routine durchaus anmerkt. Das Hauptproblem ist, dass „Dark Passion Play“ ein VIEL zu gewaltiges Werk ist, eine halbe Stunde zu lang, mit schonungslos offenen Texten, über die man extrem viel nachdenken kann und sollte, und einer Fülle an Melodie und ungewohnter Härte, die einen förmlich erschlägt. Mich überfordert das Album als Ganzes, und es hätte sicher nicht geschadet, es etwas verdaulicher zu gestalten. Davon abgesehen fallen vier oder fünf Stücke meiner Ansicht nach deutlich ab und hätten nicht zwingend auf das Album gemusst.

Von all diesen Punkten und von allen Diskussionen abgesehen ist „Dark Passion Play“ trotzdem ein Meisterwerk der Verbindung von Härte, Bombast und Emotion, das kann kein Mensch ernsthaft abstreiten. Gebt diesem Album die Chance, die es verdient.

Weitere Meinungen zur Scheibe findet Ihr hier.

27.09.2007
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