Rammstein
"Sehnsucht" auf dem metal.de-Seziertisch

Special

Als RAMMSTEIN vor 25 Jahren ihr zweites Album „Sehnsucht“ herausgebracht haben, hieß metal.de noch The Dark Site, die Texte erschienen unter Pseudonymen. In der Vier-Punkte-Review zum Album wurde es als „Herzeleid“-Kopie verrissen und das Überschreiten des künstlerischen Zenits prognostiziert. Inzwischen zählen die Berliner zu den wichtigsten deutschen Bands und erfreuen sich einer ungeheuren Popularität.

1997 startete die Band richtig durch: Die Singles „Engel“ und „Du Hast“ erschienen, „Sehnsucht“ stieg in die Top Ten der Charts ein und David Lynchs Meisterwerk „Lost Highway“ lief in den europäischen Kinos an. Sie waren nun Teil des Kulturbetriebs, wurden kontrovers diskutiert und etablierten sich als nicht mehr wegzudenkender Teil der deutschen Musiklandschaft.

Doch obwohl „Sehnsucht“ eine wichtige Rolle im Werk der Band einnimmt, gilt es nicht als das beste: RAMMSTEIN spielten von dem Album auf den folgenden Tourneen nur noch dieselben vier Lieder und in verschiedenen Bestenlisten der Band stehen immer andere Scheiben vor dem zweiten Studoalbum. Grund genug also, dass sich Philipp Gravenhorst, Steffen Gruß, Jannik Kleemann und Dominik Rothe ansehen, welche Songs die Platte jenseits von „Engel“ und „Du Hast“ zu bieten hat.

1. Sehnsucht

„Sehnsucht“ startet mit dem Titelsong, bei dem es um den Verlust der Leidenschaft in einer sexuellen Beziehung geht, doch dieser Song macht unmissverständlich klar, dass die Fans nicht mit dem Verlust dessen, was sie an der Band mögen, rechnen müssen: Flake spielt elektrisierende Keyboardparts und Christoph Schneider kloppt monoton auf die Snare-Drum. Hinzu kommen die Samples, die das Klangbild aufwerten. All das in Kombination mit dem einprägsamen Refrain stellt klar, dass dieser Song zu Recht fester Bestandteil der Livesets ist.

Philipp Gravenhorst

2. Engel

Nach dem respektablen Erfolg des Debütalbums „Herzeleid“ läutet die erste Single des Nachfolgers eine neue Ära für RAMMSTEIN ein. „Engel“ ist bis heute einer der größten Hits in ihrem Schaffen. Und dafür ist nicht nur das aufwändige, an den Kultfilm „From Dusk ‘Till Dawn“ angelehnte Musikvideo verantwortlich. Wobei die Verweigerung der Ausstrahlung seitens MTV sicherlich effektive Presse für „Sehnsucht“ darstellt. Am Ende überzeugt „Engel“ durch ein simples wie mächtiges Gitarrenriff, das sich durch den gesamten Song zieht. Obendrauf kommen super-eingängige Gesangslinien, bei denen Till Lindemann Unterstützung von Gastsängerin Christiane Herbold erhält. Die allseits bekannte Pfeifmelodie setzt dem Ganzen die Krone auf. Fertig ist der Chartbreaker.

Dominik Rothe

3. Tier

Der dritte Song auf „Sehnsucht“ ist mittlerweile leider zu einem etwas übersehenen Kleinod geworden. Zur damaligen Zeit öfter in der Setlist und unter anderem sogar auf dem Klassiker „Live aus Berlin“ verewigt, tritt das „Tier“ heutzutage live praktisch gar nicht mehr in Erscheinung. Eigentlich verwunderlich, denn allein das Hauptriff gehört zu einem der stärksten und einprägsamsten von RAMMSTEIN. Dazu kommt ein Text, in dem die Band auf ihre gewohnt verstörende Art das Thema Kindesmissbrauch an den Pranger stellt. Damals wie heute sicher kein einfaches Thema und ein Blatt haben die Berliner sowieso nie vor den Mund genommen. Es wäre schön, „Tier“ künftig vielleicht doch mal wieder als kleine Überraschung in der Live-Setlist zu finden. Zum Tanzen und Headbangen ist der Song nämlich trotz seines finsteren Inhalts bestens geeignet.

Steffen Gruß

4. Bestrafe mich

„Sehnsucht“ hat auf jeden Fall mit den höchsten Anteil an Sado-Maso-Themen in seinen Lyrics, so auch „Bestrafe mich“, das von einem für RAMMSTEIN typischen Stakkatoriff getragen wird. Im Text verbindet die Band dann das klassische Sklave-Domina-Prinzip mit einem religiösen Touch, beziehungsweise der Ergebenheit, mit der sich streng religiöse Menschen ihrem Glauben hingeben. RAMMSTEIN zeigen damit einmal mehr, dass die Band simple, leicht erlernbare Lyrics schaffen kann, die auf den zweiten Blick gleich mehrere Interpretationen zulassen.

Jannik Kleemann

5. Du Hast

Während „Engel“ als Startschuss für die bis heute anhaltende Popularität von RAMMSTEIN gesehen werden kann, zementiert „Du Hast“ als zweite „Sehnsucht“-Single ebendiese. Ähnlich wie „Engel“ setzt der Song auf ein vorpreschendes Gitarrenriff. Das zeichnet sich durch ein höheres Tempo, aber ebenso viel Tanzbarkeit aus. Textlich geht es minimalistisch zur Sache. Die endlose Wiederholung des Songtitels in den Strophen fräst sich gnadenlos ins Gehirn, wodurch „Du hast“ perfekt als Stadionhymne funktioniert. Bei Erscheinen flankiert den Song ein weiteres hochwertiges Musikvideo, das diesmal problemlos im Musikfernsehen rotiert. Den Megaerfolg von „Engel“ toppen die Berliner damit. Das beweisen über 400 Millionen Aufrufe des Clips auf YouTube – mehr als jedes andere RAMMSTEIN-Video vorweist.

Dominik Rothe

6. Bück Dich

„Bück Dich“ ist Teil einer inzwischen langen Reihe von RAMMSTEIN-Songs, die sich mit nicht ganz alltäglichen Sexualvorlieben auseinandersetzen. Diesmal, der Titel deutet es an, steht das Wechselspiel aus Dominanz und Unterwürfigkeit im Mittelpunkt, garniert mit nicht ganz so subtilen Sodomie-Anspielungen. „‘Bück dich!‘, befehl‘ ich dir/ Wende dein Antlitz ab von mir/ Dein Gesicht ist mir egal/ Bück dich!“, raunt Lindemann im Intro zu einem rauen Schlagzeugbeat. So bestimmt wie diese Ansage ist auch das anschließend einsetzende, alles zerfetzende Gitarrenriff. Selten agieren RAMMSTEIN so aggressiv, ohne dabei ihr Gespür für Dringlichkeit und einprägsame Momente zu vergessen.

Dominik Rothe

7. Spiel Mit Mir

Till Lindemann meint, dass er Texte gern in der ersten Person schreibt, da sie so eindringlicher wirken. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern die eindringliche Tätersicht das richtige Mittel ist. „Spiel Mit Mir“ ist ein gutes Beispiel für die Erläuterung dieser Frage, da aus der Ich-Perspektive der sexuelle Missbrauch des Bruders beschrieben wird. Doch Lindemann macht nichts draus: Notdürftig geht er auf das Leiden des Bruders ein, während der Song hauptsächlich fade Sexmetaphern („Unterm Nabel im Geäst / Wartet schon ein weißer Traum“) und eine Mehrdeutigkeit kindlicher Ausdrücke liefert. Ein Song, der jenseits des triggernden Textes nur ein nettes Riff hat.

Philipp Gravenhorst

8. Klavier

Eine bis heute eindrucksvolle Halbballade, die leider auch schon länger nicht mehr im Liveset zu finden war. Inhaltlich wieder vielseitig interpretierbar, geht es hier um die Rache des lyrischen Ichs an seiner Partnerin, die dem ein oder anderen Seitensprung nicht ganz abgeneigt war. Das Ganze endet natürlich mit dem Tod der Bedauernswerten und der Bereitschaft des Täters, es ihr gleichzutun. Der zarten, zerbrechlichen Intonierung der Strophen steht der brachiale Refrain gegenüber, die das Stück bis heute zu einem Highlight machen. „Klavier“ ist eine Art Blaupause für alle späteren Stücke, die den Spagat zwischen Gefühl und Härte hinlegen wollen.

Jannik Kleemann

9. Alter Mann

„Alter Mann“ ist einer der am meisten unterschätztesten Songs von „Sehnsucht“. Mit einem sehr philosophischen Text enthält er wohl einen der stärksten Refrains des Albums. Ausgestattet eigentlich nur mit einem wirkungsvollen Keyboardsample, das passenderweise an eine Art tropfendes Wasser erinnert, und einem rammsteintypischen Hauptriff, schafft es das Stück, den Hörer sofort in seinen Bann zu ziehen. Lindemanns Gesangleistung, insbesondere im Refrain, ist mal wieder absolut auf den Punkt gebracht. Laut YouTube wurde das Stück leider nur 1997 ein paar mal live gespielt, danach nicht mehr, dabei hat es definitiv die Qualität dazu, auf der Bühne sich zum Publikumsliebling zu mausern. Die Mischung aus Melancholie und Philosophie ist hier perfekt ausgearbeitet.

Jannik Kleemann

10. Eifersucht

Bei Textzeilen wie „Bin ich schöner, zerschneid mir das Gesicht / Bin ich stärker, brich feige mein Genick…“ will man sich keinen eifersüchtigen Till zum Feind machen. „Eifersucht“ ist ein weiterer übersehener Song auf „Sehnsucht“, der durchaus das Potential zu mehr Platz im Rampenlicht gehabt hat. Nach einem kurzen Keyboard-Intro, welches Ausblick auf das Hauptriff gibt, geht dieses danach brachial und tanzbar-groovend in die Hüften. Im Kontrast dazu schildert Till im Text brutale Rachefantasien, bei denen man sich zweimal überlegt, ob man sich mit ihm anlegt, oder ihm die Frau ausspannt. Vor allem auf Letzteres scheint die Höchststrafe zu stehen. Die Chance ist zwar wahrscheinlich eher gering, aber vielleicht schafft es der Song eines schönen Tages doch noch in die Setlist.

Steffen Gruß

11. Küss mich (Fellfrosch)

Abgehakte Kreissägenriffs und stampfenden Rhythmen weisen den Weg zum Abschluss des Albums „Küss mich (Fellfrosch)“. Die Monotonie der RAMMSTEIN-Songs, die anno 1997 noch ausgeprägter war, zeigt hier ihre schlechte Seite: So finden sich hier Versatzstücke, die im Laufe der Rillenumdrehungen schon auf ähnliche Weise zu hören waren. Das Looney Tunes“-Sample deutet das Textthema an: Die orale Befriedigung der Klitoris. Doch da das Lied weder einen neuen Impuls noch einen zwingenden Groove bietet, stellt der Song einen eher schwachen Schlusspunkt des Albums dar.

Philipp Gravenhorst

22.08.2022

Redakteur mit Vorliebe für Hard Rock, Heavy Metal und Thrash Metal

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