Blind Guardian - A Night At The Opera

Review

Vier Jahre sind eine lange Zeit. Innerhalb von vier Jahren erlernt ein in die Welt geworfenes Menschlein eine komplette (Mutter-) Sprache, in vier Jahren übersteht es kurz darauf mit der Grundschule die erste auferlegte Hürde auf dem steinigen Pfad der Tugend, später in der Biographie lässt sich dann in vier Jahren ein vollständiges Sozialpädagogikstudium absolvieren, bevor man sich vielleicht schließlich als einer jener der als „Politiker“ verharmlosten Nutznießer der Demokratie (mindestens) vier Jahre lang Zeit nehmen kann, das Werk seiner oppositionellen Vorgänger zu annullieren. Ebenfalls volle vier Jahre braucht unser Planet regelmäßig, bis er sich bequemt, seinen Schlendrian in Sachen Sonnenumrundung plump durch einen Schalttag auszubügeln, und auch das Olympische Komitee brütet bekanntlich turnusmäßig nicht weniger als vier Jahre über der Vorbereitung zu einem neuen Kabarett der sportlichen und neuerdings interessanterweise auch sicherheitstechnischen Höchstleistungen. Und wenn man dann bedenkt, dass es satter vierzig Jahre bedurfte, bis ein verwirrter Methusalem und immerhin biblischer Würdenträger namens Moses seine Gedanken zu katalogisieren vermochte, um nur den Heimweg zu finden, sind eben vier Jahre, die die aktuelle Ausgeburt „A Night At The Opera“ in den kongenialen Oberstübchen von vier Rhurpottmetallern an Gärzeit benötigte, an und für sich ein bemerkenswert konziser Arbeitszeitraum für ein Werk mit ebenfalls monumentaler Anwartschaft… Lange hat es trotzdem gedauert, bis man endlich Neuigkeiten vernahm aus dem hauseigenen Studio-Bunker – annähernd so lange wie hier der Prozess von Einleitung zu Kernpunkt der vorliegenden Rezension. – Über volle vier Jahreszeiten hatte man sich Selbstarrest zwischen Pulten, Pro-Tools und Pizza verordnet. Der Studioreport, der u.a. von Studiowänden erzählt, die auf Grund misslicher Bass-Resonanzverhältnisse beim Drum-Recording kurzerhand neu gemauert wurden, liest sich auch sonst wie ein Bericht über die Vorbereitung für ein milliardenschweres NASA-Programm zur Kosmonautendeportation nach Alpha Centauri oder wie die Aufzeichnungen eines Rudels entrückter Wahl-Kirgiesen, das sich zur Montage einer Zeitmaschine im Handy-Format ein Jahr lang ins Kapuziner-Kloster zu Uchte geschlossen hat. Derlei beträchtliche Brutzeit und nicht minder das bis dato letzte Lebenszeichen der Band („Nightfall In Middle Earth“) ließen schon im Vorfeld der Veröffentlichung mitunter die Annahme gedeihen, es könnte bei dem Ergebnis noch um eine Spur umfangreicher zugehen als auf dem Vorläufer – dass es jedoch mit stellenweise knapp 200 Spuren gleich die Kapazitäten eines jeden handelsüblichen Elektronenhirns einrennt (und nebenbei den unbedarften 16-Spur-Analog-Metaller erbarmungslos desillusionieren dürfte), war zugegebenermaßen dann doch ein Schlag ins Kontor. Mit dieser Sintflut an akkustischen Reizen völlig überfordert waren dann mit Publikwerdung von „A Night At The Opera“ neben den konfliktresistenten Schwärmern plötzlich erstaunlich zahlreich jene nicht-öffentlichen Stimmen zu vernehmen, die sich, abseits von erwartungsgemäß blickloser Hurra-Presse, zu einem allgemein negativen Urteil zu kommen trauten. „Über das Ziel hinaus geschossen“, „völlig überfrachtet“ und „emotionslose Kopfmusik“ waren die Prädikate, die auch meine Fragestellung untermauerten: 200 Bäume pro Song, aber wo zum Teufel ist der schöne Wald? – Die Antwort auf dieses Rätsel ließ wochenlang auf sich warten. Immer wieder arbeitete ich mich in dieser Zeit die mächtigen Stämme hinan, durch beschwerliches Geäst und vorbei an zarten, versteckten Zweiglein zu den Wipfeln empor – und endlich, nach etwa vier Wochen kräftezehrenden Aufstiegs, bot sich mir mit einem Mal ein überwältigender Anblick eines Waldes in voller Pracht und Größe, dessen zahlreicher Schönheiten ich zweifelsohne erst im Laufe weiterer Wochen und Monate gewahr werden würde. In der unüberschaubaren und erst nach und nach erfassbaren Vielzahl an musikalischen Naturelementen wurde zusehens der offensichtliche Grund deutlich für die oft vernommene Reserviertheit dem Werk gegenüber. Tänzelnde Bächlein aus leichtfüßigen Gitarren, jubilierende Stimm-Eskapaden, wind- und wetterbeständige Wurzeln aus soliden Basslines (der alles durchziehenden Perfektion halber eingepflanzt von Gast-Bassist Oliver Holzwarth), unsichtbare, aber dennoch wahrzunehmende Krabbeltiere, die das Unterholz lebendig werden lassen. Hier schwirren summende Insekten aus undefinierbaren Synthie-Effekten umher, dort hastet ein wieselflinker Eichert über das Griffbrett vom massiven Basswurzelwerk hinan in die obersten Melodie-Spitzen. – Und dort, hoch oben über allem, bestimmen die rauschenden Kronen der schwer zu erklimmenden und – einmal bezwungen – doch so ergreifenden und lebensbejahenden Melodien, aus deren Schoß man sich nimmermehr lösen möchte, den gesamten Klang des Waldes. Den tosenden Doublebass-Stürmen ist man hier schonungslos ausgeliefert, umklammert einen bruchgefeiten Ast von massiver Blechbläser-Stärke und lässt den herniederprasselnden Gitarrenhagel überwältigt das Gesicht peitschen. Dringen alsbald Sonnenstrahlen bombastischer choraler Majestät durch die gerade noch vorüberjagenden Wolken und wärmen das noch benommene Tannicht, erhebt sich ein dichter Bodennebel aus ruhigem Streicherklang aus dem baritonen Boden. Bald wird man auch wieder der singenden Gitarren gewahr, die nun von den Zweigen ihr Lied anstimmen. Hallende Spechtrufe präzise angelegter Percussion bestimmen nun einen Moment lang das Klangbild, bis von neuem ein Monsun heranzieht, angekündigt durch vielerlei Wetterleuchten der Gitarren, donnernden Paukenschlägen und aufkommendem Wind in der Rhythmusfamilie. – Zum Inhalt Lyrics ist kaum ein angemessenes Wort zu verlieren. Essenziell macht das Geschehen auf einer Odyssee durch die altrömische, trojanische und christlich-biblische Historie und Mythologie an etlichen Schauplätzen konkreter Ereignisse und Gestalten halt. Gleichzeitig lässt die vielschichtige Metaphorik jedoch zu jeder Zeit reichlich Deutungs- wie Anwendungsspielraum, so dass die genaue Intention des Autors zur Privatsache avanciert und somit in den Hintergrund tritt. Subjektiv sind die Zusammenhänge dann nach Belieben auszulegen und erhalten durch diese universelle Möglichkeit zur Handhabe ihren überwältigenden Charakter, der einem manches Mal die Tränen in die Augen treiben kann. – Das Sichtbarwerden der musikalischen Inbrunst, die sich dem geneigten Hörer also angeblich doch zu eröffnen scheint, mag den zuvor erwähnten kritischen Zungen rätselhaft erscheinen, zumal die als Vorwurf formulierten Attribute teilweise durchaus ihre Berechtigung erfahren: Das Stichwort ‘Perfektionismus‘ ist ebenso wenig Fehl am Platze wie der einhergehende Gedanke, den schalen Beigeschmack dieses Begriffes einmal ausser Acht zu lassen. Denn Blind Guardian in Zusammenhang mit diesem Schaffenswerk Leidenschaftslosigkeit vorzuwerfen wäre in etwa so, wie Chef-Literat Günni Grass Legasthenie zu diagnostizieren. Der Begriff „Kopfmusik“ ist vielleicht auch recht treffend gewählt (wenn auch oft in abschlägigem Kontext gebraucht): „A Night At The Opera“ ist perfektes Musikschaffen, die restlose Verwirklichung eines superlativen Traumes sowohl der ambitionsüberladenen Autoren als auch der erwartenden Hörerschaft – und um diese Verwirklichung nicht dem Zufall zu überlassen, bedarf es nun einmal des menschlichen Kopfes (ansonsten vermochte wohl auch eine beliebige südnepalesische Schwanzschartenbazille mit einer mehrstündigen Oper über seine geliebte Schwanzschartenbazillen-Dame zu dienen). Dass diese Musik allerdings alleine zwischen zwei Ohren erlebt zu werden hat, ist wohl eine hartnäckige Latrinenparole. – Letztendlich aber verlangt dieser zunächst undurchdringlich wirkende Wald dem Wandersmann auf seinen selbst zu entdeckenden Pfaden eine erhebliche Leistung ab. Allein mit einem entsprechenen Interesse und dem daraus entsteigendem Willen zu einem ganzheitlichen Beschäftigen mit diesem Monument ist die Reise zu bewältigen.

25.03.2002
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