Blind Guardian - Nightfall In Middle-Earth (Re-Release)

Review

Man kann sich wohl keine epischere Grundlage für ein Konzeptalbum aussuchen als Tolkiens „Silmarillion“. Und beträchtlich ist die Gefahr, sich in der Geschichte dieses Epos‘ zu verlieren und ganz gehörig baden zu gehen. Vermutlich sind BLIND GUARDIAN aber die einzigen, bei denen ein solch ambitioniertes Projekt nicht in einem desaströsen Schuss in den Ofen enden konnte, sondern in einem Meisterwerk für die Ewigkeit.
In 23 Liedern und Zwischenspielen vertonen die Krefelder Metal-Barden Geschichten aus dem ersten Zeitalter Mittelerdes. Dass man dabei nicht die gesamte Bandbreite von Tolkiens in geradezu biblische Dimensionen vorstoßendem Werk abdecken konnte, ist einleuchtend. Umso beeindruckender, dass das Konzeptwerk trotzdem in musikalischer wie textlicher Hinsicht stets wie aus einem Guss wirkt.

„Mirror Mirror“ ist schon seit Jahren als obligatorischer Rausschmeißer fester Bestandteil jeder BLIND GUARDIAN-Show und auch „Into The Storm“, „Nightfall“ oder „Time Stands Still (At The Iron Hill)“ dürfte jeder Fan in- und auswändig kennen. Darüber geraten Stücke wie das vielschichtige „When Sorrow Sang“, „The Curse Of Feanor“, die Halbballade „Noldor (Dead Winter Reigns“ oder das mächtige Abschlussstück „A Dark Passage“ leider allzu schnell in Vergessenheit und hätten definitiv mehr Aufmerksamkeit seitens der Zuhörerschaft verdient.
Mit der traurigen Klavierballade „The Eldar“ liefern BLIND GUARDIAN Nachschub für alle, die von dem gleichermaßen kurzen wie stimmungsvollen „Somewhere Far Beyond“-Meisterwerk „Black Chamber“ nicht genug kriegen konnten. Praktisch ganz nebenbei liefert Frontwächter Hansi Kürsch dabei seine bis dato beste Gesangsleistung ab. Doch auch die kurzen Zwischenspiele wie „The Minstrel“, „Battle Of Sudden Flame“ oder „Out On The Water“ und natürlich die Erzählstücke „War Of Wrath“ (als Einleitung jeder Live-Show Pflicht), sowie „Final Chapter (Thus Ends…)“ tragen zum Gelingen des Gesamtwerks einen wichtigen Teil bei. Hier passt einfach jeder musikalische Puzzle-Stein zu den anderen.

Die Qualität von „Nightfall…“ überrascht angesichts der produktionstechnischen Vorzeichen, unter denen das Album entstand. Der Aufnahmeprozess zog sich schier endlos in die Länge und war geprägt von den zahlreichen unterschiedlichen Technikern und Lokalitäten, auf die zurückgegriffen wurde. Auch durch abstürzende Festplatten bedingte Datenverluste verzögerten den Aufnahmeprozess. Glücklicherweise wurde der Mix letztlich vertrauensvoll in die Hände von Flemming Rasmussen und Charlie Bauerfeind gelegt, die dabei gewohnt gute Arbeit leisteten und die gemeinsame musikalische Vision der vier Bandmitglieder hervorragend umsetzten.
Der Grund, warum sich „Nightfall In Middle-Earth“ trotzdem dem unerreichten Vorgängeralbum „Imaginations From The Other Side“ geschlagen geben muss, liegt in der rohen Energie, die bei der kristallklaren Hochglanzproduktion etwas verloren gegangen ist. Die komplexen und doch zu jedem Zeitpunkt durchschaubaren Strukturen sind einzigartig, dafür klingt die Band deutlich entspannter und weniger aggressiv als in der Vergangenheit. Die wachsende Routine des Quartetts hatte zwar keinerlei negativen Auswirkungen auf deren kreatives Potential, ließ jedoch streckenweise den unverbrauchten Biss der früheren Alben vermissen.

Wie auch bei den anderen remasterten Re-Releases wurden bei „Nightfall In Middle-Earth“ Cover-Artwork und Booklet leicht überarbeitet und auf ein einheitliches Layout gebracht. Hinzu kommen ein englischsprachiger Kommentar von Sänger Hansi Kürsch zur Entstehung des Albums und ein Review-artiger Text (in deutscher Sprache plus englischer Übersetzung) von „Rock Hard“-Redakteur Michael Rensen, der den Stellenwert der Scheibe in der BLIND GUARDIAN-Diskografie näher beleuchtet. Leider fanden Hansi Kürschs atmosphärische Stimmungstexte, die bei der Erstveröffentlichung von „Nightfall…“ einen Bezug zwischen den einzelnen Liedern und der Geschichte des „Silmarillions“ herstellten, jedoch keinen Platz mehr im neugestalteten Booklet.
Wer „Nightfall In Middle-Earth“ noch nicht besitzt, sollte hier dennoch zugreifen. Da allerdings nur die von der „And Then There Was Silence“-Single bereits hinlänglich bekannte Ballade „Harvest Of Sorrow“ als Bonustrack dazugekommen ist, lohnt sich eine Zweitanschaffung für Besitzer der „alten“ Version des Albums – trotz des durch das neue Mastering leicht aufgepeppten Sounds – nur bedingt. Schade, dass man nicht noch eine weitere der zahlreichen unvollendeten Lieder als Bonustrack ausgearbeitet hat, die Hansi Kürsch zufolge – und angesichts der gewaltigen Textvorlage wenig verwunderlich – während der Songwriting-Phase zu „Nightfall In Middle-Earth“ entstanden und bislang noch in den Archiven der Band schlummern.

10.07.2007
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