Cthulhu - Deutschland. Blutige Kriege & Goldene Jahre

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Zwanzig Jahre sind vergangen. Für den Großen Alten, nach dem das Horror-Rollenspiel CTHULHU benannt ist, nicht mehr als ein schläfriges Tentakelzucken während seiner unermesslichen Lebensspanne. Im Jahr 2003 erschien mit „Deutschland. Blutige Kriege & Goldene Jahre“ eine Box mit allerlei Materialien und Informationen, um schaurige Abenteuer im Deutschland der 1920er zu gestalten. Jetzt ist bei Pegasus Spiele ein neuer Band erschienen, der die Inhalte der lange vergriffenen Box zusammenfasst und wieder zugänglich macht.

Leben und Sterben in der Weimarer Republik

Den Hauptteil macht dabei eine ausführliche Beschreibung von Politik, Wirtschaft, Technologie und Kultur der damaligen Zeit aus. Es ist schade, dass der Band kein Quellenverzeichnis der verwendeten geschichtswissenschaftlichen Literatur besitzt. Denn ansonsten ließe sich die Spielhilfe ohne weiteres als grundlegende Referenz für ein Referat oder eine Hausarbeit verwenden. So umfassend und detailliert wurde das Alltagsleben in der Weimarer Republik bisher nur selten dargestellt.

Wenn man eine Rollenspielhilfe erwartet, mag es beim Lesen dröge erscheinen, sich durch das damalige Post- und Bildungswesen, durch Freizeitbeschäftigungen und Eisenbahnstrecken zu blättern. Doch gerade dadurch stellt der Band eine unerschöpfliche Fundgrube von Details dar, um einzelnen Szenen in der eigenen Spielrunde Leben zu verleihen.

Wo ist der Mythos?

Was dabei aber etwas zu kurz kommt, sind die Verbindungen zum eigentlichen Thema des Horror-Rollenspiels. Ein Kapitel beschäftigt sich mit dem Okkultismus in der Weimarer Republik, ein weiteres mit Orten, Legenden und Fabelwesen, die sich an den Cthulhu-Mythos anknüpfen lassen. Zusammen umfassen beide jedoch nur 17 Seiten des dicken Bandes und bieten zudem kaum konkrete Anknüpfungspunkte zum übernatürlichen Hintergrund des Rollenspiels.

Dies ist allerdings keine schlechte Idee, zeigte doch erst vor wenigen Jahren der Kampagnenband „Berlin. Welthauptstadt der Sünde“, dass die Grenzen zur Geschmacklosigkeit schnell überschritten werden, wenn die Taten von realen historischen Personen durch eine Verbindung zum Cthulhu-Mythos relativiert werden. Das einzige Beispiel in dieser Richtung in „Deutschland. Blutige Kriege & Goldene Jahre“ stellt Ernst August Wagner dar, bei dem angedeutet wird, seine Morde könnten sich in Wahrheit gegen einen finsteren Kult gerichtet haben.

Insofern ist diese Spielhilfe gerade aufgrund ihrer Sachlichkeit empfehlenswert. Die blanken Informationen zum Leben und Sterben in der Weimarer Republik reichen bereits aus, um die eigene Fantasie anzuregen. Was andere aus diesem Hintergrund gemacht haben, kann man in den drei Szenarien betrachten, die aus der 2. Edition von „Deutschland. Blutige Kriege & Goldene Jahre“ von 2011 und für die 3. Edition überarbeitet wurden.

Dreimal deutscher Schrecken

Diese Abenteuer sind gut bis sehr gut gelungen und bieten passende Möglichkeiten, in den Hintergrund der Spielhilfe einzusteigen. Allerdings richten sie sich eher an erfahrene Rollenspielgruppen. Zum Beispiel geht es in „Tempus Fugit“ von Thomas Finn um das Thema Gedächtnisverlust, was eine besondere rollenspielerische Herausforderung darstellen kann. Denn die Amnesie betrifft die Charaktere selbst, denen mehrere Jahre in ihrer Erinnerung fehlen. Da einigen Spielfiguren dadurch der Ausgang des Ersten Weltkriegs samt Abdankung des Kaisers und Ausrufung der Republik nicht bekannt ist, sollte zumindest ein gewisses historisches Grundwissen in der Spielrunde vorhanden sein, um die sich daraus ergebenden Situationen vollends auszukosten.

Im Verlauf des Szenarios müssen die Charaktere herausfinden, was sie in die Nähe des Ostseeortes Pretnow geführt hat und welche Rolle sie in einem uralten Mysterium spielen. „Tempus Fugit“ ist dabei ziemlich linear aufgebaut, kann aber dank der ungewöhnlichen Story und interessanter Wendungen fesseln. Der eigentliche Hintergrund der Geschichte ist dabei fast schon etwas zu opulent geraten. Die Vorgeschichte wird der Spielleitung akribisch erklärt und viele Handouts sollen der Geschichte offenbar Tiefe geben, sorgen aber dafür, dass sie trotz des kompakten Plots schnell unübersichtlich werden kann.

„Gefrorene Angst“ von Mirko Bader stützt sich hingegen stark auf den historischen Hintergrund, der in der Spielhilfe beschrieben wird. Die Nachwehen des Ersten Weltkriegs, die Inflation und die Ruhrkrise des Jahres 1923 bieten den Rahmen für eine klassische Mythos-Geschichte. Die Spielrunde reist einmal quer durch Deutschland und von einem nervenaufreibenden Erlebnis zum anderen. Auch dieses Szenario ist sehr linear aufgebaut, verspricht aber neben der Enthüllung eines alten Kults und gediegenen Ermittlungspassagen auch eine kleine Prise Action.

„Bilderwahn“ von Andreas Melhorn und Daniel Neugebauer konzentriert sich eher aus das Ensemble aus Nichtspielfiguren, deren Beziehungen untereinander und wie sie schließlich auf die Ermittlungen der Charaktere reagieren. Konkret geht es um einen überaus talentierten Maler, sein Umfeld und natürlich auch das Mysterium hinter seiner Kunstfertigkeit. Das Szenario endet zwar in einem konventionellen Endkampf gegen einen kosmischen Schrecken, aber abhängig davon, welche Interaktionen mit dem Ensemble durchgeführt wurden, kann das Ende ganz verschiedene Gestalten annehmen.

Eine sinnvolle und gelungene Neuauflage

Diese drei Szenarien runden die Spielhilfe sehr gut ab. Auch grafisch wurden sie überarbeitet und bieten wunderschön gestaltete Handouts sowie Karten. Insgesamt verfügt „Deutschland. Blutige Kriege & Goldene Jahre“ über ein sehr gutes Layout, durch das sich die Schwarzweiß-Fotografien aus der damaligen Zeit gut in den vollfarbigen Band einfügen. Aktuell ist der Band außerdem noch in einer limitierten Auflage mit schick gestaltetem Einband erhältlich. Die reguläre Version erscheint erst im November 2023.

Bei diesem Band handelt es sich nicht nur um die sinnvolle Neuauflage einer vergriffenen Spielhilfe, sondern um ein Rollenspiel-Produkt, dessen Inhalt den test of time hervorragend bestanden hat. Zwar werden inzwischen überholte geschichtswissenschaftliche Thesen, wie die vermeintliche Instabilität der Weimarer Verfassung oder die Rolle des Okkultismus bei der Entstehung des Nationalsozialismus reproduziert, aber im wesentlichen sind vor allem die Darstellungen des Alltagslebens noch auf dem neuesten Stand.

Die genau richtige Menge an Details

Wer eigene CTHULHU-Szenarien im Deutschland der 1920er gestalten möchte, findet in diesem Band alle hilfreichen Informationen sowie Anregungen für eigene Geschichten. Die Akribie, mit der vor allem Preise im Postwesen oder bei der Eisenbahn festgehalten wurden, lassen den verwalterischen Rollenspielansatz der 2000er erkennen, aber ohne diese kleinteiligen Daten würde eben auch etwas fehlen.

Der Quellenteil von „Deutschland. Blutige Kriege & Goldene Jahre“ ist auch in dieser Auflage ein Referenzwerk für historische Rollenspielsettings. Obwohl fast nur Fakten und Banalitäten in dem Band zu finden sind, regt fast jeder Abschnitt eigene Abenteuerideen an, ohne sie ausdrücklich auszuformulieren. Ein schönes Beispiel dafür, dass der wahre Horror oft im Alltäglichen stattfindet. Zwischen Dekadenz und Armut, zwischen politischer Gewalt und technologischem Fortschritt der 1920er reihen sich Cthulhus Tentakel perfekt ein.

Der Soundtrack für Blutige Kriege und Goldene Jahre: ISOLE – Anesidora / GOSPELHEIM – Ritual and Repitition / AN AUTUMN FOR CRIPPLED CHILDREN – Closure

Würfeln und blättern, statt lauschen und headbangen – In der Rubrik „Dice ‚em All“ stellen wir euch ausnahmsweise keine Musik vor, sondern Rollen- und Brettspiele.

Deutschland. Blutige Kriege & Goldene Jahre – Limited Edition

19.09.2023

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