Nucleus Torn - Knell

Review

Wie viel Aufwand ist dem Musikkonsumenten der Hörgenuss wert? Oftmals ist es die einfachste Musik, die uns am ehesten berührt, die sofort zu uns durchdringt. Eine einzige, simple Melodie, die sich unweigerlich in die Gehörgänge einbrennt oder technisch und spielerisch absolut primitiver, dafür atmosphärisch einzigartiger Black Metal – das gibt dem geneigten Hörer manchmal unheimlich viel und ist in den seltensten Fällen anstrengend. Dann gibt es noch Musik für gewisse Stunden: Mozart beim Sex, verbunden mit einem Gläschen Sekt, darauf steht laut einer Umfrage die Frauenwelt. Wer sich nach einem hartem Tag zurücklehnen und ausspannen will, der lässt seine harten Metalscheiben auch mal im Regal und greift stattdessen – je nach Vorliebe – zu ruhigeren Tönen. Oftmals, und das ist so im Grunde nicht einmal schlecht, ist Musik nur nach eine Hintergrunderscheinung: Sie begleitet uns im Auto, in der Straßenbahn, beim Lesen, beim Arbeiten, beim Sport, beim Einschlafen, beim Sex und beim Duschen. Die Aufmerksamkeit, die sie vielleicht verdient hätte, bekommt sie dabei meist nicht.

Doch es gibt Ausnahmen. Alben, die den Hörer zu Aufmerksamkeit zwingen; ihn zwingen, weil sie sich sonst nicht entfalten, sonst nicht funktionieren, oder weil sie ihn einfach absolut in seinen Bann ziehen. Bei mir ist das primär Free Jazz und experimentelle Avantgardemusik – und ganz aktuell “Knell“, das neue Album der Schweizer Band NUCLEUS TORN. Diejenigen, die die Band noch vom Vorgängeralbum “Nihil“ kennen – ein wunderschönes, facetten- und kontrastreiches Werk – sollten sich schleunigst von den Vorstellungen, die sie deswegen vom neuen Album haben, verabschieden. “Knell“ ist nicht nur ungleich düsterer und bedrohlicher, es ist vor Allem eines: Weit extremer und kaum noch zugänglich. Der Spielfluss, den die Musik früher noch bot, ist einer krassen Diskontinuität gewichen. Eine nur schwer nachvollziehbare musikalische Struktur, gezeichnet von Brüchen und unerwarteten Wendungen, sorgt anfangs in erster Linie für eines: Orientierungslosigkeit. Und tatsächlich, das Bild des Fehlens von Orientierung bleibt auch nach mehrfachem Hören erhalten. Nicht, dass sich das Album nicht irgendwann nach vielen konzentrierten Anläufen erschließt – das tut es nämlich – und weiterhin ein Buch (oder eine CD) mit sieben Siegeln bleibt, vielmehr sind es die Bilder, die “Knell“ im Kopf malt. Das Bild einer einsamen Wanderung durch tiefe Nebel, ohne Halt, ohne Sicherheit, von Abgründen umringt. Das klingt erst mal dermaßen pathetisch, dass es dem einen oder anderen schon zu viel wird, doch passt es tatsächlich gut zur Musik.

Die Instrumente sind, wie man es von der Band gewohnt ist, ungewöhnlich und vielfältig. Schlagzeug, Percussions, Streicher, Flügel und Blasinstrumente sind soweit noch von der gewöhnlichen Sorte, mit Kirchenorgel und Instrumenten aus dem irischen Folk wird es allerdings spezieller. Als Kontrast zu den anderen Instrumenten fungiert die E-Gitarre. Stimmlich ist alles beim Alten geblieben: Maria D’Alessandro verzaubert weiterhin mit ihrer wunderschönen Stimme und malt die Momente der Stille mit sanften Tönen aus, Patrick Schaad kontrastiert immer noch, singt gewollt schief und atonal, beschwört die Apokalypse herauf.
Dass sich musikalisch so einiges getan hat, zeigt schon die Wahl der Songtitel. Wirkliche Lieder, die für sich stehen könnten und vom Album extrahiert auf dem MP3-Player in irgendeiner Playlist eine gute Figur abgäben, die gibt es gar nicht mehr. Stattdessen sind die Stücke schlicht von “I“ bis “IV“ durchnummeriert. Was der Blick auf die Tracklist schon erahnen lässt, macht das Hören der Songs umso deutlicher: Von altbekannten musikalischen Strukturen hat man sich vollkommen verabschiedet. Wiederholungen gibt es nicht, klassische Schemata sind kaum auszumachen, Halt ist das allerletzte, was man auf “Knell“ erwarten kann. Ganz im Gegenteil kollidieren Momente tiefster Trauer und Melancholie unvermittelt mit extremer Wut und Aggression. Nur ein Beispiel von vielen ist ein Moment im fast halbstündigen “III“: Da werden nach einer ganzen Weile sanfte Flügel- und Streicherklänge jäh von lautem Riffing und Patricks niederschmetterndem Stimmorgan hinweggefegt. Solche Momente finden sich auf dem Album zuhauf. Und wahrlich: Das Prinzip geht auf, nutzt sich nicht ab. Zwar haben NUCLEUS TORN Dynamik und konstrastreiches Songwriting nicht neu erfunden, jedoch bringen sie es mit “Knell“ auf eine solch hohe und außergewöhnliche Stufe, dass ich von Einzigartigkeit sprechen möchte.

“Knell“, das sind stärkste Kontraste und krasseste Widersprüche auf CD gepresst. Ständig konterkarieren die Songs sich, und doch: Sie funktionieren. Werde ich als Hörer doch achtlos hin und her geworfen und ist es ab und an eher Qual als Genuss, das Album ist alle Mühe wert. Ist der Weg erst einmal gefunden, berührt die Musik zutiefst, löst Emotionen und Bilder aus, wo anderes nur belanglos ist. Will ich mich als Hörer wirklich dermaßen anstrengen, wenn ich Musik höre? Will ich das überhaupt noch hören? Ja, ich will!

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02.03.2008

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