Dark Tranquillity
Listening Session zu "Moment"

Special

Vor kurzem schrieb Kollege Lattemann noch „ungewöhnliche Zeiten erfordern ja bekanntlich ungewöhnliche Maßnahmen“ über die digitale Listening Session der Isländer von SÓLSTAFIR, da lädt mit DARK TRANQUILLITY auch schon die nächste Band dazu ein, online in ihr neuestes Werk reinzuhören. Tatsächlich muss man sich wohl an solche Events gewöhnen, zumal sicher auch Ökobilanz und nicht zuletzt Kosteneffizienz für die Virtualisierung sprechen.

Die Melo Death-Pioniere haben es sich in ihrer Heimatstadt Göteborg in einem Studio gemütlich gemacht, um ihr neuestes Werk „Moment“ erstmals der Presseschar zu präsentieren. Bereits während das Album läuft, können die eingeloggten Journalisten außerdem per Shoutbox Fragen stellen, die anschließend in einer launigen Pressekonferenz beantwortet werden, bei der allerdings leider Christopher Amott fehlt. Nicht nur für die schreibende Zunft ist „Moment“ übrigens Neuland, auch die Band hört die Scheibe das erste Mal komplett in ihrer fertigen Form und kann endlich genießen, statt bis ins kleinste Detail zu analysieren.

Hinter den Kulissen der Pressekonferenz – Foto: Darren Ewards

Bereits im Vorfeld steht fest: Viel verändert wurde eigentlich gar nicht. Aufgenommen wurde wieder im Studio von Keyboarder Martin Brändström, der auch produziert hat, gemischt wurde „Moment“ erneut von Jens Bogren. Die Grundgerüste der Songs stammen außerdem, wie schon auf „Atoma“, weitgehend aus der Feder von Brändström und Drummer Anders Jivarp. Den entscheidenden Unterschied dürften vor allem die beiden Neuzugänge an den Gitarren machen: Johan Reinholdz und Christopher Amott waren erstmals auch an der Entstehung der Songs beteiligt. Außerdem hatte die Band von einem dieses Mal deutlich mehr: Zeit.

DARK TRANQUILLITY setzen auf konsequente Weiterentwicklung statt „Back to the roots“

In den letzten Jahren hat sich so etwas wie ein typischer DARK TRANQUILLITY-Opener entwickelt. Meistens eine etwas schreddernde Nummer, ausschließlich mit gutturalem Gesang angereichert und eher noch ein wenig geizend mit spektakulären Melodien. Auch wenn „Phantom Days“, das in der Zwischenzeit als erste Single veröffentlicht wurde, letztlich auch in diese Kategorie passt, wurde dieses Mal absolut nicht an großartigen Melodielinien gespart. Das zusammen mit den Vocals einsetzende Killer-Riff erinnert dabei ein wenig an das unvergessene Duo Sundin/Henriksson.

„Transient“ ist mit seinen geschickten Tempowechseln und einem hymnischen Refrain schon ein erster kleiner Hit und im hervorragenden Solo zeigt sich bereits, welch einen Gewinn die beiden Neu-Gitarristen für die Band tatsächlich darstellen. Während „Identical To None“ der erste Live-Kracher der Platte sein dürfte, der zum Ende sogar ein paar Black-Metal-Gitarren parat hat, wird aber auch eines klar: Wer immer noch auf ein raues Back-to-the-roots-Album wartet, dass sich wieder in Richtung des Klassikers „The Gallery“ bewegt, dürfte erneut enttäuscht werden.

Das kann allerdings auch nicht der Anspruch von DARK TRANQUILLITY im Jahr 2020 sein, die ihren Stil immer stetig weiter entwickelt haben und es sicher nicht nötig haben auf eine Retro-Trendwelle aufzuspringen. Die dramatisch-melancholische Keyboard-Melodie zu Beginn kündigt schon an, dass „The Dark Unbroken“ sich ein wenig Richtung „Projector“ orientiert. Passenderweise kommen hier auch das erste Mal die Clean-Vocals von Mikael Stanne zum Einsatz. Der stampfende Rhythmus am Ende des Songs bietet außerdem eine so von DT auch noch nicht gehörte Variation.

„Remain In The Unknown“ bleibt melancholisch, getragen von Gothic-lastigem, fast schon romantischem Klargesang. Der Song erinnert – übrigens nicht zum letzten Mal auf dem Album – ein wenig an DEPECHE MODE. Während der Refrain hier einen Tick schwächer ausfällt, kann „Standstill“ dafür direkt mehr als entschädigen. Nicht nur ist der Chorus unfassbar eingängig, Stanne brilliert hier auch mit abermals deutlich weiter entwickeltem Klargesang.

DARK TRANQUILLITY fahren ordentlich Technik auf – Foto: Darren Ewards

„Ego Deception“ ist zwar vor allem in den Strophen die bislang schnellste Nummer auf „Moment“ – dies wird aber von einem getragenen Refrain gelungen kontrastiert. Die starke Keyboardmelodie steht stärker im Fokus als bisher, harmoniert aber auch besonders gut mit den Riffs. Letztlich der Song, der am ehesten auch auf „Atoma“ funktioniert hätte. Die leicht orientalisch angehauchte Melodie, die in „A Drawn Out Exit“ immer wieder auftaucht, erinnert tatsächlich mehr als einmal an „Wherever I May Roam“ – erfreulicherweise bleibt dies aber die einzige Reminiszenz an METALLICA. Die Growls von Stanne kommen hier leicht verzerrt daher, was ihnen eine gewisse Brutalität verleiht und den Song zum bislang düstersten und härtesten der Platte macht.

Die auf „Atoma“ eingeführten Rhythmus- und Tempowechsel kommen in „Eyes Of The World“ wieder zum Einsatz, lockern die Struktur angenehm auf. Vor allem zeigt sich aber erneut das Gespür für enorm eingängige Refrains, die auf „Moment“ so stark im Mittelpunkt stehen, wie schon lange nicht mehr bei DARK TRANQUILLITY. „Failstate“ lässt aber auch die Heavyness nicht zu kurz kommen – die düstere Nummer erinnert stark an die Phase der drei Alben „Haven“, „Damage Done“ und „Character“.

Das dort, wo viel Schatten herrscht, immer auch ein wenig Licht mit schwingt, beweist die geradezu fröhliche Melodie in „Empires Lost To Time“, die mit ihren leicht folkigen Anleihen fast ein wenig an BLIND GUARDIAN erinnern möchte. Nun könnte die Band das Album mit dieser Euphorie ausklingen lassen, stattdessen wird es aber mit „In Truth Divided“ noch einmal traurig und vor allem elektronisch. Wer aber glaubt, dass es sich dabei einfach um einen weiteren Song in der Tradition der beiden Bonus-Tracks auf dem letzten Album handelt, hält DARK TRANQUILLITY für berechenbarer als sie tatsächlich sind. Natürlich klingt „In Truth Divided“ erneut nach DEPECHE MODE, der Einsatz von Gitarre und Schlagzeug im – übrigens extrem starken – Refrain ergibt aber eine geniale Kombination und einen der stärksten Songs überhaupt als gelungenen Abschluss.

„Moment“: Mehr Zeit – mehr Melodie

Nein, „Moment“ ist in der Tat kein Back-to-the-roots-Album, sondern vielmehr ein Querschnitt durch die Bandhistorie ab „Projector“. Mal heavy und düster, mal wildromantisch und melancholisch, ist es dabei das mit Abstand eingängigste, was DARK TRANQUILLITY seit Jahren veröffentlicht haben. Nein, „Moment“ ist kein Grower, sondern zündet sofort.

Einer der möglichen Gründe dafür dürfte sein, dass die beiden „neuen“ Gitarristen sich direkt am Songwriting-Prozess beteiligt haben, was sich laut Fronter Stanne vor allem in den großartigen Soli zeigt. Johan Reinholdz gibt zwar während der Beantwortung der Fragen zu, dass er während der Entstehung des Albums erst so richtig gelernt hat, was musikalisch für DARK TRANQUILLITY funktioniert und was nicht, was man dem Ergebnis aber zu keiner Sekunde anmerkt.

Cover Artwork von Niklas Sundin

Ansonsten sind die Veränderungen im Bandkosmos insgesamt jedoch eher marginal. Nicht nur hat der in diesem Jahr offiziell ausgestiegene ehemalige Gitarrist Niklas Sundin erneut das Cover Artwork übernommen – und dabei eine seiner besten Kreationen seit langem abgeliefert – auch der Rest des Umfelds der Band ist noch dasselbe. Auch die Covid-19-Pandemie hat die Band, nach eigener Aussage, zumindest bei der Entstehung des Albums, kaum beeinflusst, da sich das Einschließen im Studio im Grunde ohnehin immer wie ein Corona-Lockdown anfühle.

Es sind letztlich also eher die kleinen Details, wie die stärkere Fokussierung auf das Schreiben wirklich fesselnder Melodien und eben vor allem das Plus an Zeit für die Pre-Production und das Mixing, die „Moment“ zu einem derart starken Album werden ließen. Die Wartezeit bis zum 20. November wird in jedem Fall noch lang.

Tracklist:

1. Phantom Days
2. Transient
3. Identical To None
4. The Dark Unbroken
5. Remain In The Unknown
6. Standstill
7. Ego Deception
8. A Drawn Out Exit
9. Eyes Of The World
10. Failstate
11. Empires Lost To Time
12. In Truth Divided

Quelle: Listening-Session zu "Moment"
21.09.2020

"Time doesn't heal - it only makes you forget." (Ghost Brigade)

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