Hypocrisy - Abducted

Review

Anders als in den Jahren zuvor gab es die größte Neuerung im Vorfeld des neuen Albums „Abducted“ hinter den Kulissen: HYPOCRISY hatten sich in ihrem Dasein als Trio (mit Live-Unterstützung an der zweiten Gitarre) eingerichtet, Frontmann Peter Tägtgren konnte jetzt also in aller Ruhe weiter an seinem Gesang feilen, und musikalisch hatte das Vorgängeralbum „The Fourth Dimension“ das Feld weitestgehend bestellt.

„Abducted“ bringt eine entscheidende Neuerung

Was „Abducted“ allerdings von seinen Vorgängeralben massiv unterschied, war der fette Sound. Waren die ersten beiden Alben noch unter einfachen Verhältnissen bei einem Freund aufgenommen worden, versenkten die Schweden und Nuclear Blast Records vergleichsweise viel Geld im Park Studio in Stockholm, um die Scheibe dann doch mit einem bescheidenen Sound ins Presswerk zu geben. Davon hatte Tägtgren genug, so dass er einfach das zur Verfügung stehende Geld selbst in die Hand nahm und sich sein Abyss Studio einrichtete. Ergebnis: „Abducted“ wartete mit einem mächtigen Sound auf, bei dem sowohl die Gitarren schön fett klingen als auch das Schlagzeug mit räumlicher Präzision punktet. Vorbei die Zeiten, wo Effektgeräte gerade verliehen waren, die Tontechniker mit Metal nichts anfangen konnten oder beim Mastern gerade über den Reglern eingenickt waren.

Jetzt kam also im Februar 1996 „Abducted“ in die Läden, und überraschte mit einer ziemlich direkten Coverabbildung – sorry, doch noch eine Änderung: Denn fragte man sich bei „The Fourth Dimension“ noch, wer da aus welchen Gründen eingewickelt auf dem Stuhl sitzt, ob die Szenerie konkret gemeint ist oder eher ein Gefühl darstellen soll – „Abducted“ kommt ohne diesen Umweg aus: Dass es um Aliens geht, ist ziemlich direkt klar. Nicht zuletzt durch den Opener „Roswell 47“, der vom vermeintlichen UFO-Vorfall in New Mexico handelt.

Aliens, UFOs, melodischer Death Metal

Ansonsten trug „Abducted“ aber ziemlich geschickt das musikalische Erbe von „The Fourth Dimension“ fort: Mal krachender, mal getragener Death Metal, der recht melodisch daherkommt, im richtigen Moment aber das Tempo anzieht und in seiner Mischung äußerst kurzweilig ist. Da gibt es das genannte „Roswell 47“, das nicht nur durch sein mächtiges Eingangsriff punktet, sondern auch mit der ausgefeilten Melodieführung. „Killing Art“ setzt dagegen zunächst auf Alarm, um in den Strophen in groovendes Midtempo zu wechseln. Das wiederum ist das Hauptmerkmal von „Buried“, das beim Hören sofort die Nackenmuskulatur anspricht. „The Arrival Of The Demons (Part 2)“ und „When The Candles Fade“ reduzieren dagegen das Tempo komplett und ziehen ihre Kraft aus dem langsamen Riffing, das zwar melodisch ist, aber gleichzeitig als steter Fluss immer weiterläuft.

Dagegen klingt der Titeltrack „Abducted“ fast schon punkig, schnell und direkt in die Fresse. Bleiben noch das melodische „Paradox“, das flotte „Point Of No Return“, bei dem der Mittelteil wieder fieses Nackenfutter ist, und das im brutalen Midtempo verharrende „Carved Up“. Das wurde für den amerikanischen Markt übrigens von Relapse vorab als Single veröffentlicht, wobei das Cover am ehesten in die Kategorie „Auweia“ fällt. Ansonsten hat „Roswell 47“ die Funktion als Leadtrack übernommen, wurde dazu doch mit schmalem Budget und einfachen Mitteln ein Video abgedreht. Zu diesem Zeitpunkt hatten Nuclear Blast allerdings noch einen nicht ganz so brillanten Ruf, was die filmische Unterfütterung ihrer Musik anging – da waren andere Plattenfirmen schon deutlich weiter, und das sollte sich erst in den folgenden Jahren ändern. Insofern bleibt hier am ehesten in Erinnerung, wie Drummer Lars Szöke Pizza isst, was die Lyrics nur ansatzweise untermalt.

Pizzaessen und eine Zugabe

Nach dem Outro „Reflections“ ist das Album mit elf Tracks abgerundet und gefühlt vorbei – allerdings folgen danach noch zwei Stücke, die ein wenig aus der Reihe fallen: „Slippin‘ Away“ wird in den Strophen von Akustikgitarren getragen und kommt vergleichsweise melancholisch und gefühlvoll daher (selbst wenn es im Text äußerst düster zugeht). „Drained“ wiederum klingt wie eine Adaption von BLACK SABBATHs „Seventh Star“-Phase, wo ein bluesiges Grundgerüst auf endlose Gitarrensoli treffen – und der Sound trotzdem modern krachend klingt.

Wobei wir beim Stichwort sind: Denn den Sound hat Peter Tägtgren durch die Produktion im eigenen Studio auf ein neues Niveau gehoben. Modern, klar, differenziert und kraftvoll – und somit war klar, dass es in der Folgezeit gleich dutzendweise Bands gab, die nach Pärlby pilgerten, um sich im Abyss Studio für ihre Alben genau diesen Sound auf den Leib schneidern zu lassen. Bleiben die Texte, die ein weiteres Mal im Booklet nicht abgedruckt waren – dass es aber zumindest teilweise um Außerirdische ging, machten das Intro („This is weird …“), „Roswell 47“ und „Abducted“ deutlich. Heißt es da aber wirklich „I masturbated, cause when I woke up, they were all gone, what’s going on“? Nun …

Do it yourself als Motto

Außerdem hat Peter Tägtgren deutlich am Ausdruck seines Gesangs gefeilt, der häufig fies krächzend daherkommt, es dabei aber nicht an Kraft vermissen lässt, weswegen das Ganze weniger als zeitgeistiger Kompromiss verstanden werden kann. Da gab es Mitte der Neunziger mit dem Abklingen der Death-Metal-Welle ganz andere Beispiele.

Insgesamt markiert „Abducted“ in mehrfacher Hinsicht den Beginn einer neuen Ära von HYPOCRISY: Das neue Logo blieb, der Sound auch, die Hinwendung zu melodischeren Spielarten des Death Metals ebenfalls und das Faible für Aliens und Entführungen auf Raumschiffe sowieso. Ob die Scheibe aber  den Höhepunkt der Diskografie der Schweden darstellt, hängt ganz von den persönlichen Vorlieben der Hörer ab: Manche ziehen eben die frühen Kracher den späteren vor, andere lieben eher die melodischeren Sachen. Ganz unabhängig davon hatte sich „Roswell 47“ aber umgehend zu einem Fanliebling gemausert. Außerdem ist „Abducted“ richtig gut gealtert und lässt sich auch heute noch gut hören, ohne irgendwie ‚dated‘ zu klingen.

Nase voll, Pause und Fortsetzung

Allerdings sollte Peter Tägtgren bald schon die Nase voll haben – oder wollte er mit seinem drastischen Schritt lediglich seine Mitstreiter aufrütteln? Jedenfalls verkündete er mit dem kommenden Album „The Final Chapter“ 1997 das Ende der Band, da er sich von seinen Bandmitgliedern Mikael Hedlund und Lars Szöke sowie dem Plattenlabel mehr Engagement wünschte. Allein: Nach einer vergleichsweise kurzen Pause kam es dann doch anders, und in derselben Konstellation ging es 1998 schließlich weiter. Das sollte sich doch als richtige Entscheidung herauskristallisieren.

15.10.2025

- Dreaming in Red -

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