St. Anger
Früher war ALLES besser! Oder?

Special

Hoppla, bin ich wieder abgeschweift? Heute war alles anders. Mit frisch duftenden vierzig Mark in der geballten Faust rauschte ich an der Ticketverkäuferin vorbei und zog mit einer überheblichen Geste eines Mannes, der sein eigenes Geld verdiente, „Clandestine“ von ENTOMBED und „Human“ von DEATH aus dem Regal.

In die Alben hatte ich im Vorfeld reingehört und in den Magazinen nur das Beste über sie gelesen. Magazine waren Anfang der 90er natürlich nur im Printformat erhältlich, Fanzines wurden selbst kopiert und Videoclips haben wir beim Headbangers Ball geschaut. Hin und wieder haben wir uns gegenseitig Platten, CDs und VHS-Kassetten geliehen (von denen bestimmt fünfzig ihren Weg nicht mehr zu mir gefunden haben).

Heute ziehe ich mein Smartphone aus der Hosentasche und höre unendlich viel komprimierte Musik auf meinem Spotify-Family-Account für 15 € im Monat. Eine Band hat ein neues Video? YouTube wird es schon richten. Und wenn mir der Schwof nicht taugt, skippe ich das Werk einfach und klicke auf den nächsten Vorschlag.

Die Wertschätzung an der Kunst, mit allem, was sie dazu werden lässt: Pffft! Wen interessieren schon so schnöde Dinge wie ein liebevoll inszeniertes Cover-Artwork, das nicht etwa digital mit Maus und Software oder gar mittels künstlicher Intelligenz entstanden ist. Früher wurde noch der ganz große Pinsel mit Ölfarben geschwungen oder Bandmitglieder haben Logos und Demohüllen mit einem schwarzen Edding in kindlicher Selbstüberschätzung einfach selbst gestaltet.

Songs, die analog aufgenommen wurden, in denen jeder Spur eine stunden-, tage- oder in Einzelfällen sogar wochenlange Vorbereitungszeit zugestanden wurde, damit wirklich das letzte Flirren einer Gitarrensaite genau so klang, wie es sich die Band wünschte, interessieren heute nur noch peripher. Schnell rein, schnell aus – so lautet das Motto flächendeckend.

Den Schwarm mit einem speziell zusammengestellten Tape beeindrucken oder im Freundeskreis mit schwer erhältlichen Importscheiben angeben? Schnöde Sinnlosigkeiten im Hier und Jetzt. Stattdessen werden Playlists geteilt und niemals komplett durchgehört.

Gerade kapiere auch ich es: Ich klinge wie ein arroganter Snob aus der „Früher war alles besser“-Generation. Das war es nicht. Bin ich ein tiefgründigerer Musikliebhaber, weil ich für meine ersten Platten schwer arbeiten musste? Auf keinen Fall. Bin ich ein Connaisseur, weil ich es liebe, ein Vinyl aus dem Innersleeve zu holen, daran zu schnuppern und spätestens beim Knistern der Plattennadel Befriedigung zu verspüren? Wohl kaum. Es kommt gar nicht darauf an, wie man Musik hört und wann man damit angefangen hat. Es kommt auf die Leidenschaft, das Lebensgefühl und die Verbundenheit an. All diese Attribute lassen sich auch heute erfüllen.

Und doch: Als vor zwei Jahren das Gesamtwerk der schwedischen Deather von DISMEMBER noch einmal als Vinyl-Boxset namens „Historia Mortis“ erschien und ich die Vorbestellung aufgrund eines längeren Auslandsaufenthaltes verpasst habe, kam mir schon in den Sinn, dass ich hier das Opfer war. Warum? Nun, nachdem das Boxset restlos vergriffen war (im Originalpreis übrigens für weniger als 200 €), versuchte ich mein Glück auf einschlägigen Seiten für Kleinanzeigen und Auktionen. Dort sollte „Historia Mortis“ 500 € und mehr kosten, obwohl es wenige Wochen auf dem Markt war. Für mich konnte das nur heißen, dass einige geldgeile Nicht-Metaller:innen die Sets auf Vorrat gekauft und über die unsägliche wie unbelastbare Preisbestimmungsplattform Discogs gleich mal den Wert der Box im hochkarätigen Bereich bestimmt hatten. Und hier war ich: Mit 13 Jahren das erste DISMEMBER-Konzert besucht. Die Band gehörte für mich zu den wichtigsten Ratgebern während meines Erwachsenwerdens, also hätte ich doch ein Vorrecht auf den Erwerb der Box besitzen müssen. Oder etwa nicht?

Ein vierzig, fünfzig Jahre altes Album hat die Zeit, zu so einem Wert zu reifen. Ein frisches Gesamtwerkt als Wiederveröffentlichung sicherlich nicht. Nachdem ich mich unbescheiden, wie ich war, mit einigen Händlern per PN angelegt hatte, ruderte ich zurück und kaufte das Set letztlich für 450 €.

Was lernen wir aus dieser Geschichte? Wahrscheinlich nichts. Es handelt sich um eine Kolumne, in der die persönliche Meinung oder Erinnerungen geteilt werden sollen. Mehr nicht. Ich bin mir aber ganz sicher, dass es da draußen noch viele andere gibt, die es einst kaum erwarten konnten, bis der Geburtstag gefeiert wurde oder Weihnachten vor der Tür stand. Das waren die Momente, in denen wir neue Platten geschenkt bekamen und zur Musik eine innige Beziehung aufbauten. Ganz einfach, weil der inflationäre Zugang zu mehr schlichtweg fehlte. Waren das die besseren Zeiten für Musikliebhaber:innen? Keine Ahnung. Aber es war auf jeden Fall die beste Zeit meines Lebens!

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15.06.2025

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1 Kommentar zu St. Anger - Früher war ALLES besser! Oder?

  1. Se Wissard sagt:

    „Die beste Zeit meines Lebens“…ich weiß nicht. Als ich 96 ernsthaft mit halblangen Haaren in den Metal (und 97 dann gleich in extremere Gefilde) eingestiegen bin, war ich im Nachhinein gesehen so dermaßen unreif und unreflektiert, dass ich mich da eher schäme, als es als beste Zeit anzusehen. Ich hab auch für meine CDs arbeiten müssen, bei mir war es der Müller in der nächstgrößeren Stadt, ich habe aber damals auch eher in der Masse gekauft und viel Mist mitgenommen, den ich später verkauft habe. Insgesamt würde ich behaupten, dass ich jetzt aktuell weit offener bin und wesentlich gründlicher die Sachen, die ich kaufe, durchhöre. Ich glaube, ich weiß jetzt wesentlich mehr die Platten zu schätzen, verzichte dabei aber auf diese ganzen großen Boxen….

    Wobei ich eine Sodomkomplettbox schon geil fände…hm, naja.

    Letztendlich kann ich deine Aussagen verstehen, den Ministranten jetzt nicht so, aber in Bayern macht man das halt und meist waren die Kinder der evangelischen Pfarrer bei uns ja auch die schlimmsten, haha.

    Musikalisch hänge ich der alten Zeit hin und wieder durchaus nach. Aber insgesamt gibt es auch jetzt so viel richtig gute Musik, da versuche ich nicht in allzu große Nostalgie zu verfallen. Früher war eben nicht alles besser. Man musste damals Sachen ohne Anhören per Brief bei Mailorder bestellen und hatte immer für Wundertüte zwischen großartig und großer Scheisse. Auch da hab ich etlichen Müll mitgenommen, nur weil die Mailorder schrieb „für Fans von…“. Bandcamp ist dagegen ein wahrer Segen für mich (nein, nicht Spotify!!), man fühlt sich dabei näher an den Musikern, vor allem, wenn man sie tatsächlich halbwegs direkt unterstützen kann. Auch das ist sicherlich heute besser.

    Insgesamt bin ich froh, dass ich mittlerweile mit Mitte 40 ein anderes Mindset habe als damals 😀