Sangre - En Memoria

Review

Eigentlich hätte es dieses Album gar nicht gegeben, denn Abhorrent hatte schon lange nicht mehr mit dem Gedanken gespielt, jemals wieder Musik zu produzieren.
Seit Mitte der Neunziger war er in diversen Projekten aktiv, das populärste darunter war ACID ENEMA, mit dem er auf einige Veröffentlichungen zurückblicken kann, u.a. eine Split mit XASTHUR. ACID ENEMA war das emotionale Ventil für Hass, Frust und Wut, für ein Leben, was eine ganze Zeit lang ziemlich beschissen lief. All diese negative Energie entlud sich in kompromißlosem Hardcore Techno, Breakcore und Speedcore, und irgendwann verschlug es ihn auf die Seite des Black Metals, zu der sich Abhorrent schon länger als Hörer zählte.

Doch nicht immer läuft es im Leben so, wie man es sich wünscht. Zunächst sah es nämlich nach einem echten Wendepunkt aus: Mit seiner Heirat änderte sich vieles zum Guten, bis zu einem Punkt, an der die Musik als Ventil ausgedient hatte. Ein anderer Grund war die Weiterentwicklung in der Szene, in der sich Abhorrent nie wirklich wohl gefühlt hatte. Broken Beats und IDM, das war die neue Generation der „intelligenteren“ Musikstile, während ACID ENEMA immer für traditionellen Hardcore stand: 4/4 Beats, krachende Bassdrums – die alte Schule eben.
Doch 2002 erlitt Abhorrent mehrere gesundheitliche Rückschläge, und eine lange Zeit der Regneration begann, die bis heute anhält. Der nächste Schlag war der Tod seines Grossvaters 2003 und alles Negative kam zurück.

Unter dem neuen Namen SANGRE kreierte Abhorrent ein Kleinod mit Seltenheitswert. Denn solch eine Mischung aus klassisch orientiertem Speedcore mit teils sehr langsamen Hardcore-Passagen, dazu Elemente von Black Metal in der Tradition der frühen 90er und einem Hauch Industrial aus der gleichen Epoche – das hört man nicht oft und findet es noch seltener.
Die verstörenden Songs auf „En Memoria“ weisen bei näherer „Betrachtung“ mehr Tiefe auf, als sie anfangs vermuten lassen – denn zunächst liegt es am Hörer, sich überhaupt auf diesen Stil einzulassen. Die meisten Black Metal Hörer kehren schon um, wenn überhaupt ein Wort von Vermischung mit elektronischen Spielweisen fällt, vor allem, wenn es sich um gleichermaßen extreme handelt. Für die digitale Hardcorefraktion wird es aber auch nicht so leicht, da es eben kein typisches Speedcoregemetzel gibt.

Energische Kickdrumblasts, dazu fast bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Gitarrenspuren und extremes, verfremdetes Gekreische – das ist alles andere als Metalbrauerei nach Reinheitsgebot. Tonangebend in den Hochgeschwindigkeitspassagen bleibt immer die Bassdrum, hinter der Hi-Hats und Snare zurückstecken müssen. In den gemäßigten Passagen ergibt sich durch das starke, elektronische Schlagwerk allerdings ein noch massiverer Eindruck, als wenn sie mit echtem Schlagzeug gespielt würden.
Die Synthesizer klingen fast schon antiquiert und erzeugen schnell die Atmosphäre der Black Metal Alben, als jener dabei war, seinen ersten Kinderschuhen zu entwachsen, aber auch die Kompositionen an sich verbreiten diesen Charme durch ihre primitive Struktur und dem authentischen Gekreische Abhorrents.
Direkte Nähen neben den bereits erwähnten stilistischen Verwandtschaftsbeziehungen lassen sich zum Beispiel bei den Industrial-Black-Metallern von MYSTICUM finden, aber auch bei Kotzaak-Klan-Chef JACK LUCIFER, auch wenn dessen Weg eher Richtung Death Metal und Grindcore geht (oder „ging“, denn sein lange geplantes Album wird wohl nie mehr erscheinen). Aber auch er hat gezeigt, dass sich Extreme nicht zwangsweise ausschließen müssen.

Den Kontrapunkt zur extremen Instrumentierung bilden die Melodien und die Atmosphäre der Songs, die genau das ausströmen, womit Abhorrent zu kämpfen hatte: Trauer, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung an den scheinbar nicht zu meisternden Aufgaben des Lebens. Hat man erst einmal den Zugang zu dieser Platte gefunden, gewinnt man auch ein Auge für die ganz und gar nicht offensichtliche Vielschichtigkeit dieses Werks. „En Memoria“ ist anstrengend, und wird auf die meisten Hörer abweisend oder schlicht „unkonsumierbar“ wirken. Extreme Musik jenseits aller Tellerränder. Wer den Weg zu ihr gefunden hat, wird die sicherlich kontroverse Wertung verstehen.

„En Memoria“ erschien 2005 bei den Kanadiern von D-Trash Records als limitierte CDr, sowie als Vinyl-version beim deutschen Label Restroom Records (mit einem weitaus schöneren Cover).
Da die CD mittlerweile hoffnungslos vergriffen ist, hat man sie bei D-Trash (www.dtrashrecords.com) freundlicherweise komplett zum Download freigegeben, inklusive drei Bonustracks von Abhorrents Projekten PYRRHON und DESTINED TO FAIL, die von der „demerol.promo.2004“ entnommen wurden und eine ganze Ecke rauher als SANGRE klingen.

12.11.2007

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