Heretoir
"Für uns ist Atmosphäre das A und O."

Interview

„Solastalgia“ heißt das neue Album von HERETOIR, das zwar kein Konzeptalbum wie sein Vorgänger ist, aber trotzdem immer wieder zum Thema Solastalgie zurückkommt. Was das Wort genau bedeutet, wie die Band es klanglich umgesetzt hat und was man dagegen machen kann, verraten HERETOIR uns in einem Interview.

Der Albumtitel „Solastalgia“ beschreibt das Gefühl des Verlusts, wenn die Heimat sich verändert oder verschwindet. Wie kamt ihr auf diesen Titel und wie prägt er das Album?

„Solastalgia“, Solastalgie im Deutschen, setzt sich aus lateinisch solacium (Trost) und der griechischen Wurzel -algia (Schmerz) zusammen. Es handelt sich um einen philosophischen Neologismus, der den Schmerz beschreibt, den jemand empfindet, wenn er vom Verlust der natürlichen Welt berührt wird. Es geht also weniger um einen patriotisch, nationalstaatlich geprägten Heimatbegriff, sondern mehr um die ökologische Komponente des Verlustes.

Ich denke, eine gewisse Verbindung zur natürlichen Welt, bzw. zur vertrauten Umgebung der Kindheit oder des Wohnortes, haben die meisten Menschen. Wenn diese vertraute, liebgewonnene Umwelt verschwindet, zum Beispiel weil sie im Zuge industriellen Wachstums zerstört wird, dann können Gefühle der Trauer bzw. der Schmerz des Verlustes mit dem Begriff der Solastalgie beschrieben werden.

Wir waren schon immer eine Band, die sich in ihren Texten mit menschlichen Gefühlswelten befasst hat. Insbesondere die Entfremdung in modernen Gesellschaften war dabei seit der ersten Demo Thema. Im Laufe der Zeit haben wir mehr und mehr ökologische Themen in unsere Texte aufgenommen. Ich denke, wer heute verstehen will, was menschliches Dasein in unseren Breitengraden ausmacht, der muss sich auch das Verhältnis von Gesellschaft und Natur ansehen. Dieses ist meines Erachtens stark gestört.

Eine wirkliche Verbindung zur Natur bauen viele Menschen nicht mehr auf. Wir leben in Städten, in künstlich generierten Umwelten, die die natürliche Welt technologisch überformen. Wildnis existiert kaum mehr, uns umgeben Kulturlandschaften. Hubert Markl hat bereits vor einigen Jahren darauf hingewiesen, dass nicht mehr die Natur die Umwelt des Menschen ist, sondern dass der Mensch bzw. seine Bauwerke und Infrastruktur mittlerweile die Umwelt der Natur geworden sind. Naturbelassene Gebiete verschwinden.

Zwischen 1992 und 2018 hat Deutschland deutlich mehr als 10 Millionen Brutvögel verloren. Aufgrund solcher Verluste verspüren immer mehr Menschen negative Emotionen und Trauer. Mir persönlich geht es ganz genauso. Mich schmerzt der respektlose Umgang mit der Natur, der in industrialisierten Massengesellschaften auf der Tagesordnung steht. Menschliche Interessen scheinen stets über den Interessen der natürlichen Welt bzw. über den Bedürfnissen nicht-menschlicher Lebewesen zu stehen.

Nicht wenige HERETOIR-Songs sind aus einem Gefühl der ökologisch motivierten Trauer heraus entstanden – das letzte Album „Nightsphere“ hat sich ja bereits stark mit dem Verhältnis von Mensch und Natur auseinandergesetzt. Es ergab für uns Sinn, diesen Pfad weiter zu beschreiten und so kamen wir zum Albumtitel.

Ich muss jedoch dazusagen, dass „Solastalgia“ kein Konzeptalbum ist, wie es „Nightsphere“ war. Auf unserem neuen Album geht es nicht nur um ökologische Themen, sondern auch um zwischenmenschliche Gefühle, um die Verlorenheit des Individuums in der Spätmoderne, also um ganz klassische „HERETOIR-Themen“.

Heretoir Solastalgia Cover

In euren Texten schwingt oft die Verbindung von Natur und menschlicher Gefühlswelt mit. Seht ihr „Solastalgia“ eher als Kommentar zur ökologischen Krise oder als Metapher für persönliche innere Landschaften?

Du sprichst zwei treffende Interpretationsmöglichkeiten des Titels an. Es finden sich auf dem Album sowohl Songs, die sich mit der ökologischen Kernthematik der Solastalgie befassen, als auch Stücke, die mit Solastalgie wenn überhaupt, dann eher indirekt in Verbindung stehen. Bei Letzteren kann die Solastalgie zur „Metapher für persönliche innere Landschaften“ werden, denn emotional und atmosphärisch ist die Musik definitiv und zahlreiche Texte des Albums drehen sich explizit um das menschliche emotionale Innenleben.

Das Album trägt den Untertitel „Extinction Songs“. Damit versuchen wir, einen gewissen Bogen zu spannen. Unser Albumcover ziert ein ausgestorbener Vogel und das Booklet beinhaltet Zeichnungen weiterer bereits ausgestorbener Tierarten. Wir leben in Zeiten des Umbruchs. Apokalyptische Zukunftsvisionen sind an der Tagesordnung. Faschistische Regime dominieren weltweit die Tagespolitik, der ungebremst voranschreitende Klimawandel scheint niemanden wirklich zu interessieren.

Während solcher Zeiten möchten wir mit unserem Album auch anregen, über die menschliche Existenz auf der Erde nachzudenken. Vielleicht sind wir eine (von uns selbst und unseren technologischen Vernichtungsoptionen) bedrohte Spezies, in naher Zukunft vielleicht ausgestorben? Falls dem so ist, lohnt es sich eventuell, über die Bedeutung des Lebens, über die menschliche Existenz, über die natürliche Welt, aber auch über die angesprochenen persönlichen inneren Landschaften nachzudenken und herauszufinden, was man im Leben wertschätzt, was einem wirklich wichtig ist und was man erreichen möchte bzw. welche Rolle man selbst spielen will.

Welche Songs bilden für euch das thematische Rückgrat des Albums?

Ich denke, das Album funktioniert perfekt im Zusammenspiel aller Songs. Das schönste Hörerlebnis wird man haben, wenn man das Album am Stück durchhört. Müsste ich zentrale Songs auswählen, dann währen das definitiv die drei Singles („The Ashen Falls“, „Season Of Grief“ und „You Are The Night“). Ich würde aber auch den Titeltrack als elementaren Bestandteil des Albums sehen. Er schließt das Ganze in gewisser Weise thematisch ab und nimmt dabei Bezug auf die Opener des Albums.

Gab es einen Song, der für euch besonders emotional oder schwer im Entstehungsprozess war?

Emotional sind sie alle. Mich persönlich berührt „You Are The Night“ auf emotionaler Ebene sehr, denn es ist ein kraftvoller, aber gleichzeitig auch melancholischer Song, dessen Lyrics von Sehnsucht und Dunkelheit geprägt sind. Raum für Hoffnung gibt es im Song eher weniger. Die fragilen Parts von „Season Of Grief“ und „Solastalgia“ berühren mich ebenfalls und auf ganz spezielle Weise. Ich denke, sie transportieren eine gewisse Verletzlichkeit, die von den atmosphärischen Metalparts gut eingerahmt wird.

Tauchen in den Texten wiederkehrende Motive oder Symbole auf, die wie ein roter Faden wirken?

Es handelt sich nicht um ein Konzeptalbum, aber wie vorher schon gesagt, begegnen einem im Laufe des Albums Gefühle wie Verlust, Trauer und Melancholie in unterschiedlichen Formen immer wieder.

Seit eurem Debüt hat sich euer Sound kontinuierlich entwickelt – von Post-Black-Metal-Wurzeln hin zu atmosphärischeren, teils shoegazigen Elementen. Wo würdet ihr „Solastalgia“ in dieser Entwicklung einordnen?

Ich denke, das neue Album fügt sich gut in unsere Diskographie ein. Es ist in bestimmten Aspekten moderner und vielleicht auch härter als bisherige Alben, letzten Endes ist es uns aber gelungen, den klassischen HERETOIR-Sound bzw. die der Band eigene Emotionalität zu bewahren. Wir haben als Musiker nicht den Drang, das Rad neu zu erfinden, aber wir wollen auch den musikalischen Stillstand vermeiden. Aus diesem Anspruch heraus sind die neuen Songs entstanden und ich denke, dass „Solastalgia“ ein einzigartiges, tiefgründiges und vor allem vielseitiges bzw. facettenreiches Album geworden ist.

Welche Rolle hatten Produktion und Sounddesign diesmal – gab es neue Ansätze oder Experimente?

Wir waren mit der Arbeit von Justin Felder und David Deutsch von 1408 Productions aus Hannover beim letzten Album sehr zufrieden. Die beiden verstehen ihr Handwerk und sind einfach richtig liebe Menschen. Daher war für uns klar, dass wir auch diesmal wieder mit ihnen zusammenarbeiten wollten. Lasse Lammert vom LSD-Studio hat die Platte gemastert und auch damit sind wir wieder einmal sehr zufrieden.

Manche Songs wirken fast cineastisch, mit elektronischen und ambientartigen Texturen. Welche Funktion haben diese Soundflächen für euch?

Für uns ist Atmosphäre das A und O. Wenn wir bestimmte Klangkulissen entwerfen können, die unsere Fans in andere Welten entführen, dann haben wir alles richtig gemacht. Die Nutzung von Sounds, die man bei uns eher weniger erwarten würde, reizt uns und ich denke, in Maßen eingesetzt kann sich dadurch eine neue klangliche Ebene unserer Musik öffnen, die durchaus bereichernd ist.

„Solastalgia“ klingt sehr dynamisch und kontrastreich. Wie wichtig war euch, Extreme – Härte vs. Melodie, Dissonanz vs. Harmonie – noch deutlicher auszureizen?

Für uns war es reizvoll eine gewisse Dynamik zu erreichen und vor allem ein vielschichtiges Album aufzunehmen. David, Nils und ich  schreiben die Musik von HERETOIR gemeinsam und allesamt haben wir vielseitige und breitgefächerte Geschmäcker was Musik angeht. Unsere Inspirationen und Einflüsse sind vielfältig und ich denke, das merkt man dem neuen Album auch an. Man findet Anflüge von melodischem Death Metal, Post Black Metal, Shoegaze, Post Rock und sogar eine Spur Neofolk, Ambient und Crustpunk.

Gibt es Stücke, die ihr bewusst als Brücke zwischen alten HERETOIR-Klangwelten und neuen Experimenten angelegt habt?

Es fällt mir schwer, bestimmte Stücke zu nennen, aber was ich definitiv sagen kann ist, dass wir versucht haben, das Album im Ganzen so aufzubauen, dass es zwar neue Einflüsse und gewisse klangliche Experimente enthalten, aber eben auch die klassische Stimmung eines HERETOIR-Albums transportieren kann. Was uns ein Anliegen war, war Davids Stimme in ihrem vollen Umfang bzw. in ihrer ganzen Vielfältigkeit auf dem Album zu haben. Von verzweifelten Screams, über brutale Shouts bis hin zu zerbrechlichen ruhigen, aber auch kraftvollen und energiegeladenen Cleanpassagen gibt es diesbezüglich auf dem Album viel zu entdecken.

Heretoir-3-Anne C- Swallow

Wie hat die Arbeit am Album euch selbst verändert – als Musiker, aber auch als Menschen?

Ich denke, wir sind sowohl als Musiker, als auch als Menschen noch enger zusammengerückt.

Was unterscheidet „Solastalgia“ inhaltlich am stärksten von früheren Alben wie „The Circle“ oder „Nightsphere“?

Wie gesagt ist der Hauptunterschied zwischen „Solastalgia“ und „Nightsphere“, dass ersteres kein Konzeptalbum ist, zweiteres jedoch schon. Beide Alben verbinden Themenkomplexe wie das Verhältnis von moderner Menschheit und Natur. Ökologische Aspekte finden sich in den Texten beider Alben wieder. Ich denke, insgesamt ist „Nightsphere“ etwas näher an den Wurzeln der Band geblieben, sowohl was den Stil der Texte, als auch die Songs selbst anbelangt.

„Nightsphere“ orientierte sich stärker am Post-Black-Metal-Sound der frühen Alben, jedoch könnten Songs wie „Season Of Grief“ oder der Titeltrack des neuen Albums „Solastalgia“ auch unverändert und dennoch passend Teil von „Nightsphere“ sein. Ich denke, dass „Solastalgia“ dem Sound von „The Circle“ in vielerlei Hinsicht ähnelt. Das Album zeichnet sich durch Atmosphäre, Vielseitigkeit, einer Mischung aus Rhythmik und Fläche bzw. aus Moderne und Tradition aus. Ganz ähnliches ließe sich über „Solastalgia“ sagen.

Was möchtet ihr, dass die Hörer:innen nach dem Durchlauf des Albums fühlen oder mitnehmen – Katharsis, Mahnung, Hoffnung… oder vielleicht alles zugleich?

Wir wollen den Menschen nicht vorgeben, was sie beim Hören unserer Musik zu fühlen haben. Ich denke, die Songs sind vielschichtig genug, dass verschiedene Menschen ganz unterschiedliche Zugänge zu ihnen finden können. Dementsprechend hoffen wir, dass eine hohe Bandbreite an unterschiedlichen Emotionen auftritt, während man sich das neue Album anhört.

Wenn ihr Solastalgie als Gefühl beschreibt – was ist eurer Meinung nach das beste Mittel dagegen? Musik, Natur, Gemeinschaft? Oder etwas ganz anderes?

Für mich gibt es kein Heilmittel gegen diese Form des Weltschmerzes. Ein Ende der industrialisierten Zivilisation würde vermutlich die Zerstörung der Natur beenden. Da mit beidem nicht zu rechnen ist, versuchen wir mit unserer Musik zum Nachdenken anzuregen, auf Zusammenhänge aufmerksam zu machen und letzten Endes Trost zu spenden.

Ich denke, dass es generell immer eine gute Idee ist, Zeit mit den Menschen, die man liebt, zu verbringen und sich in die Natur zu begeben und von den „Anderen“, die diese Welt bewohnen, zu lernen. Selbstverständlich ist Musik eine hervorragende Medizin für alle, die mit dem bitteren Status Quo bzw. der sich abzeichnenden düsteren Zukunft dieser sterbenden Welt nicht wirklich zufrieden sind.

Galerie mit 15 Bildern: Heretoir - Walpurgisnacht 2025 Vol. 4 in Berlin
Quelle: Heretoir
19.09.2025

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