

Unter "Blast From The Past" erscheinen jeden Mittwoch Reviews zu Alben, die wir bislang nicht ausreichend gewürdigt haben. Hier gibt es alle bisher erschienenen Blast-From-The-Past-Reviews.



Freitagabend in Detroit, Michigan: Die Cobo Hall ist mit 12.039 Besucher*innen ausverkauft, KISS spielen auf der Tour zu ihrem zwei Monate zuvor veröffentlichen dritten Album „Dressed To Kill“. Es verkaufte sich wie die beiden vorigen Alben „KISS“ und „Hotter Than Hell“ nur schlecht, obwohl KISS seit anderthalb Jahren schon intensiv Nordamerika betouren. Casablanca Records steht deswegen kurz vor dem Bankrott. Das Quartett aus Queens hat aber im Vorprogramm von Bands wie BLUE ÖYSTER CULT, BLACK SABBATH oder ARGENT einen Ruf als gute Liveband erspielt. Aus der Not eine Tugend gemacht, versucht es das Label nun mit einem Livealbum, das an diesem Abend aufgenommen werden soll. Also mehr oder weniger.
Nicht nur, dass das Konzert in Detroit das erste von vier ist, sondern weil sich auf dem Album auch deutlicher ein Unterschied zu dem Konzert in Detroit findet: Dieses Konzert startete nämlich nicht mit dem berühmten „You wanted the best, you got the best…“ und „Deuce“, sondern mit „Rock Bottom“. Das Akustikgitarrenintro läuft vom Band und dann kommen KISS auf die Bühne. Weil das Publikum dadurch weniger aktiviert wird als bei „Deuce“, kehrte die Gruppe auf den folgenden Konzerten schnell wieder zum bewährten Einstieg zurück. Bei alten Konzertaufnahmen fällt zudem auf, dass die Band damals schneller spielte als auf „Alive!“.
Alive or unalive?
Doch statt einer unerschöpflichen Aufzählung dessen, was an dem Album konstruiert ist, ergibt sich die spannendere Frage, was es denn überhaupt konstruieren soll: „KISS Alive“ steht vor allem in Abgrenzung zu den drei vorangegangenen Studioalben. Diese zeigten die Songs auf eine viel zahmere Art, als man es von einer Rockband erwarten würde. Zudem war der Sound dünn. Bei „Dressed To Kill“ saß etwa Labelchef Neil Bogart selbst an den Reglern um sich das Geld für den Produzenten zu sparen.
Bei den Konzerten gaben KISS ein Bild ab, das damit wenig zu tun hatte: Vier geschminkte Männer, die zwischen Explosionen herumsprangen, ihre Gitarren zum Rauchen brachten und Blut spuckten. Das spiegelte sich akustisch in ihrem Proto-Metal wieder, der Generationen von Metaller*innen beeinflusste. Bei dem Potential machte es Sinn, den Songs eine zweite Chance zu geben. Und dabei helfen sollte niemand geringeres als der ehemalige JIMI-HENDRIX-Produzent Eddie Kramer. Er hat schon das KISS-Demo produziert und der Legende nach das BOSTON-Debüt abgelehnt, um dieses Album zu produzieren.
KISS klingen locker wie ein Brett
Für KISS war es ein Glücksfall, denn Kramer hat der Platte einen Sound verpasst: Die New Yorker klingen dank der härteren Gitarren und der höheren Geschwindigkeit nicht mehr wie die BEACH BOYS ohne ausgefeilte Gesangsharmonien, sondern können besser ihren Proto-Metal vermitteln. Das liegt auch an der Chemie: KISS sind durch die ununterbrochenen Tourneen der vorigen anderthalb Jahre gut eingespielt, wodurch „Alive!“ luftiger als die Platten klingt.
Diese Veränderungen haben der Band dabei geholfen, ihren Stil zu definieren: Zwar stellt der Nachfolger „Destroyer“ mit seinem pompösen Sound die Antithese zum lauten, energischen Hard Rock des Livealbums dar, aber er hat einen KISS-Sound skizziert, der sich auf „Rock & Roll Over“ und „Love Gun“ noch deutlicher herausgeschält hat: Schnell, knackig, straight-forward, einfachere Songstrukturen. Endgültig die Psychedelic-Rock-Einflüsse der WICKED LESTER-Tage hinter sich lassend. Das hat zwar die Abwechslung rausgenommen, aber dafür härtere Songs geschaffen, die einen Meilenstein bei der Entwicklung des Heavy Metals darstellen.
Ein Best-of als Visitenkarte
Interessant ist auch die Verteilung der Songs, denn sie stellt – sowohl aus damaliger als auch heutiger Sicht – ein Best-Of dar: Das Debüt nimmt fast die Hälfte ein, während „Dressed To Kill“ mit gerade einmal vier Songs vertreten ist. Bestimmt wollte das Quartett da auf Nummer Sicher gehen, aber es ist schade um die vielen guten Songs von „Dressed To Kill“, die auch hinterher sich nicht mehr im Repertoire etablieren konnten.
„KISS Alive!“ hat somit zur Kanonisierung ihrer ersten drei Alben beigetragen und stellt auch heute noch eine Art Visitenkarte dar. Das liegt aber nur in zweiter Linie an den Songs, denn diese Konzertaufnahme war auch der Durchbruch für die Band. Das Album verkaufte sich millionenfach, „Rock and Roll All Nite“ wurde ein Hit und die Konzerte von KISS wurden größer. Das Album hat nicht nur die damalige Krise der Band und des Labels gelöst, sondern auch mehrere Generationen von Metalheads inspiriert, ihre eigenen Bands zu gründen.
Wahrscheinlich auch, weil KISS auf diesem Album das Klischee zur Handlungsmaxime erheben.
Mit den schlüpfrigen Songtexten, den hypermotivierten Ansagen und den Kunstfiguren zelebrieren sie einen Unapologetic Rock ‚n‘ Roll, der ein bisschen zu verzweifelt nach Sex und den Schreien des Publikums bettelt. Und auch wenn „Alive!“ kein historisches Zeugnis ist, so lohnt es sich dennoch, sich das Album anzuhören. Es transportiert eine Idee von Rock ‚N‘ Roll, die sich vor allem durch seine Energie auszeichnet und damit im direkten Gegensatz zu den damaligen Veröffentlichungen von etwa LED ZEPPELIN, BLACK SABBATH und DEEP PURPLE steht, die immer pompöser und ausufernder wurden.
Review von Philipp Gravenhorst
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