Paradise Lost - Lost Paradise

Review

Jede Geschichte hat ihren Anfang, am Anfang dieser Geschichte steht das verlorene Paradies. Als PARADISE LOST im Februar 1990 ihr Debütalbum „Lost Paradise“ veröffentlichen, ahnt niemand, nicht einmal die Band, dass dies der Startschuss nicht nur für eine bis heute andauernde Karriere ist, sondern den (Death) Metal für immer verändern sollte.

Aus dem Morast von West Yorkshire – PARADISE LOST erheben sich

Ende 1987 gründen die Jugendfreunde Nick Holmes (Gesang, Anfangs auch Bass), Gregor Mackintosh (Gitarre) und Matthew „Tuds“ Archer (Schlagzeug) aus Halifax, West Yorkshire, PARADISE LOST. Beeinflusst sind sie insbesondere von extremer Musik wie Death Metal und Hardcore, sowie etwas später Doom Metal. Für ihren düsteren Sound benennen sich die Freunde nach John Miltons größten Werk: PARADISE LOST. Ein Jahr später stoßen Aaron Aedy (Gitarre) und Steve Edmondson (Bass) dazu und komplettieren die Band, die in der Konstellation bis 1993 Bestand haben sollte.

PARADISE LOST sind gezwungen, langsamer als die anderen zu spielen

Der Death Metal Ende der Achtziger war in der Regel von hoher Geschwindigkeit geprägt. Insbesondere in den USA, Schweden und England hatten sich eine Vielzahl junger Bands gegründet, die zunächst danach strebten, die Extreme immer weiter auszuloten. Grundsätzlich galt das zunächst auch für die embryonalen PARADISE LOST. Entgegen vieler anderer Bands, die damals auf Hochgeschwindigkeit setzten, wie NAPALM DEATH, BOLT THROWER oder EXTREME NOISE TERROR, waren die allerdings gezwungen, einen etwas anderen Weg einzuschlagen. Matthew konnte nicht so schnell spielen, was an einer Kombination aus mangelhaften Fähigkeiten sowie Diabetes lag. Diese Erkenntnis brachte Mackintosh als Hauptsongwriter dazu, sich stattdessen von CANDLEMASS, TROUBLE und BLACK SABBATH zu inspirieren und das in ihren Death Metal einfließen zu lassen. Was dazu führte, dass PARADISE LOST die gewünschte Brutalität mit getragenen Rhythmen und schleppenden Riffs erreichten. Zwischen 1988 und 1989 veröffentlichten sie die drei Demos „Paradise Lost“, „Frozen Illusion“ und „Plains Of Desolation“.

Hier fanden PARADISE LOST langsam ihren Stil wie ihrer Gitarrenformel, die darauf beruht, dass Mackintosh ein Lead spielt, während Andy abgedämpfte Powerchords darunterlegt. Holmes Death Metal Growls waren anfangs noch stark von Jeff Becerra von POSSESSED inspiriert. Paul „Hammy“ Hamshaw, Betreiber des jungen, aufstrebenden Labels Peaceville Records, nahm in der Folge die Band unter Vertrag.

„Lost Paradise“ entsteht unter nicht idealen Bedingungen

Für die Aufnahmen begaben sich PARADISE LOST im Winter 1989 in die Academy Studios in West Yorkshire. Da Peaceville, damals noch von Hammy alleine betrieben, kaum Budget zur Verfügung hatten, fungierte der als Produzent, obwohl er noch so gut wie keine Erfahrung hatte. Zum Missfallen der Gitarristen nahm Hammy die Gitarren fast clean und ohne Effekte mit direktem Verstärkersignal auf, um sie erst hinterher zu verzerren. Dies führte zu einem völlig eigenen, dreckig dumpfen Klang, völlig entgegengesetzt dem damaligen Zeitgeist. Hier hatten Scott Burns im Morrisound Studio in Tampa oder Tomas Skogsberg im Sunlight Studio die Messlatte hoch gesetzt und einen neuen Standard für die Produktion von Death Metal definiert. Ein kräftigerer Gitarrensound würde hier einen großen Unterschied machen, aber zumindest hat der Klang einen besonderen Charme.

Die Schreie der gefallenen Engel werden zu düsteren Symphonien

Das Band Foto auf der Rückseite von „Lost Paradise“ zeigt fünf schwarz gekleidete, ernst dreinblickende Gestalten in Harmonie mit der trostlosen Landschaft. Ist zwar das Cover mit dem Roboter, der den rechten Arm hebt, mindestens unglücklich, entfaltet das Foto von PARADISE LOST eine freudlose Stimmung, die von den auf dem Album zu erwartenden düsteren Symphonien kündet.

PARADISE LOST entwickeln den Death Metal weiter

Mit ihrer Kombination aus extremen Death Metal mit dunklem Doom entwickelten PARADISE LOST bereits mit „Lost Paradise“ den Todesblei weiter und erschufen ihre eigene Nische. Tiefe Gitarren, harsche Melodien, Holmes röhrt finster wie gemartert, schleppende Rhythmen bis maximal Midtempo. Die morbiden, sinisteren Songs sind im Gegensatz gerade zu den amerikanischen Kollegen seinerzeit einfacher gehalten, PARADISE LOST zielten mit ihrem morastig behäbigem Sound eher auf Atmosphäre als auf Tempo und Technik, ohne dabei weniger brutal zu sein. Das führte zu einer bemerkenswert unheimlichen, beklemmenden Aura. Zu dem einfacheren Ansatz passt, dass der Bass eher noch den Gitarren nachspielt, als wirklich eigene Akzente zu setzen. Edmondson sollte sich erst noch in den kommenden Jahren entsprechende Fähigkeiten als Musiker erarbeiten.

Den Anfang macht das schlichte „Intro“, eine unheimlich wirkende Geräuschkulisse, die in den ersten Song „Deadly Inner Sense“ überleitet. Nick frägt „Where is your god now?“ – in diesem verlorenen Paradies sicherlich nicht. Holmes schreit kraftvoll abgründig, voller Pein, was dem wuchtigen Stück sofort Intensität verleiht. Das Lied ist schwerfällig, gleichmäßig schreitend mit einigen wenigen Ausbrüchen, prägnante Powerchords, verstörende Leads. Und alles in traurigem Moll. Das war neu und anders als so gut wie alles, was man damals kannte. Das namensgebende „Paradise Lost“ ist sehr schleppend heavy und glänzt mit Bendings verziertem Hauptriff und von Greg eingespielten, stimmungsvollen Keyboards, die die düstere Atmosphäre verstärken. Weitere Höhepunkte sind das antireligiöse, zunächst rhythmisch stakkato artige, hektisch riffende „Our Savior“ und das regelrecht böse, kraftvolle „Frozen Illusion“.

Mit „Rotting Misery“ erschufen PARADISE LOST eine frühe Definition dessen, was britischen Death Doom Metal ausmacht. Eindringliche Kirchenglocken, gramvolle Melodien, doomiges Riffing, ausdruckstarke Growls, gezielt eingesetzte Keyboards, die inspiriert von „Chapel Of Ghouls“ von MORBID ANGEL scheinen. „Breading Fear“ setzt ebenfalls neue Akzente, hier trauten sich die Briten als erste Death-Metal-Band bereits auf ihrem Debütalbum, mit der lokalen Sängerin Kay Field weiblichen Gesang in ihre Finsternis einfließen zu lassen. Mit dieser zunächst noch zurückhaltend eingesetzten Erweiterung ihrer klanglichen Bandbreite folgten PARADISE LOST den Spuren von „Into The Pandemonium“ von CELTIC FROST. Die Briten zeigten auf, wohin sie in Folge gehen würden und wurden damit zur Vorlage aller folgenden Gothic-Metal-Bands. Ein Genre, das überhaupt erst von PARADISE LOST mit dem nachfolgenden, deutlich melancholischeren und melodischeren Referenzwerk „Gothic“ erfanden. Aber das ist eine andere Geschichte.

In Anbetracht der Jugend und noch fehlenden Erfahrung war „Lost Paradise“ zwar noch nicht der große Wurf, manchen Songs fehlt noch die Stringenz der kommenden Jahre. Die Produktion ist mangelhaft, verlieh dem Album aber zusätzlich eine besondere Aura.

PARADISE LOST waren mit ihrer schleppend zähen Version des Death Metals, der später die Bezeichnung Death Doom Metal erhalten sollte, sehr innovativ. Ähnliches hatten in der Welt des extremen Metals nur AUTOPSY zu bieten, die aber deutlich blutiger, weniger atmosphärisch und zu der Zeit etwas schneller waren.

Die unheilige Dreifaltigkeit

Peaceville nahmen in der Folge MY DYING BRIDE und ANATHEMA unter Vertrag, die in ihrer Frühphase ebenso dem Death Doom Metal frönten und teils ebenfalls in den Academy Studios aufnahmen. Daher wirft man die drei Bands gerne in einen Topf, aber den Keim, welcher die Wurzel bilden sollte, pflanzten PARADISE LOST mit „Lost Paradise“.

Ein Grundstein mit Ecken und Kanten

„Lost Paradise“ ist weit davon entfernt, perfekt zu sein. Aber mit einer festen Vision gelang es PARADISE LOST trotz damals noch nicht ausgereiften Fähigkeiten, dem Death Metal neue Impulse zu geben. Sie setzten einen Grundstein für ihre eigene Kariere und auch des Genres Death Doom Metal. Unabhängig davon hat das intensive Album nach all den Jahren nichts von seinem Reiz eingebüßt.

13.12.2023

Geschäftsführender Redakteur (stellv. Redaktionsleitung, News-Planung)

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