Emigrate
"Ich wollte mit Musik aufhören."

Interview

Bei „Freeze My Mind“ ist auch viel Bandperformance im Video zu sehen. Würdest du sagen, EMIGRATE wird mehr zur Band als zum Projekt?

Das Interessante bei den Dingen, die wir kreieren, ist, dass die Dinge auch ein Eigenleben entwickeln. Es ist nicht umsonst so, dass ich das Projekt nicht „RZK“ genannt habe, sondern ihm einen eigenen Namen gegeben habe. Im Moment ist es immer noch so, dass ich der Kapitän bin und steuere. Das muss aber nicht immer so sein. Ich glaube, dass so Projekte irgendwann eine eigene Form annehmen und eine eigene Bedeutung bekommen und dadurch auch eine eigene Verantwortung.

Als ich gestern diese Storys gehört habe von den Menschen, habe ich überlegt, dass das der Wahnsinn ist, wie vielen Menschen die Musik, die ich geschrieben habe, geholfen hat, weiterzumachen. Das waren so herzzerreißende Storys, dass ich gedacht habe, ich kann nicht einfach aufhören, ich muss einfach weitermachen. Das hat einen großen, therapeutischen Wert. Und vielleicht wollen das irgendwann auch andere Leute innerhalb der Band weiterführen. Das kann man dann noch weiterspinnen, inwieweit eine Einzelperson für das Projekt noch wichtig ist oder, ob wir nur Diener für das Projekt sind.

Es gibt ja bestimmte Trademarks von Bands, die den Fans wichtig sind, sei es ein bestimmter Sänger oder Gitarrist.

Genau. Das stimmt natürlich, aber bisher hat mir das Leben gezeigt, dass es doch immer weiter geht. Es mag sein, dass es nicht mehr so cool ist oder du es nicht mehr so gut findest. Wie damals bei AC/DC, als Malcom Young gestorben ist. Kein Malcom Young mehr, kein Bon Scott mehr, aber die Art, wie sie gespielt haben und die Tatsache, dass sie überhaupt weiter gemacht haben, hat vermutlich mehr bewirkt, als wenn sie das nicht getan hätten. Es ist halt immer möglich, wir nehmen uns da wahrscheinlich etwas zu wichtig.

Bei RAMMSTEIN ist das natürlich noch extremer, dass es wichtig ist, das wir da sind. Aber mittlerweile denke ich, wir sind auch ersetzbar. Es kann natürlich auch sein, dass die Band nicht mehr will und die Band eben nur diese Musiker sein können, wie bei den BEATLES, das ist auch okay. Ich glaube aber, anderes Beispiel, dass die ROLLING STONES auch ohne Charlie Watts weiter auf Tour gehen werden. Oder noch extremer gedacht, ich denke KISS wird irgendwann die erste Band sein, die komplett ausgetauscht ist.

Wenn das, was du kreiert hast, ein Eigenleben entwickelt und immer noch Leute berührt und eine Existenzberechtigung hat, dann werden diese Dinge einfach weiterleben und weitergetragen werden. Aber bei einem kannst du dir sicher sein. Wenn das so ist, dann bin ich nicht mehr auf dem Cover (lacht).

Bedingt dadurch, dass die Songs innerhalb der letzten 20 Jahre entstanden sind, ist das Album sehr divers geworden. Würdest du dir mit EMIGRATE Grenzen setzen oder ist prinzipiell alles möglich?

Es ist auf jeden Fall alles möglich. Das ist auch der Frieden, den ich mir ein bisschen gönne, gerade weil ich in einer anderen Band spiele, aus deren Schema sie nur schwer ausbrechen kann. Das ist der Grund, warum ich diese Balance mit EMIGRATE brauche. Was ich bei RAMMSTEIN nicht ausleben kann, lebe ich dort aus. Deswegen will ich mich nicht in irgendeiner Form beschränken.

Rockmusik ist ja nicht mehr die Volksmusik, die es mal war. Das liegt daran, dass Rockmusik als solches nicht mehr rebelliert. Die Rebellion findet heutzutage woanders statt, meistens in Texten. Deswegen kaufen die Kids heutzutage so viel Hip Hop, weil es die Rebellion in den Texten ist.

Vielleicht hat das auch mit dem Alter zu tun, dass ich andere Musik mehr schätze. In der Corona-Zeit habe ich angefangen, mehr Songs auf dem Klavier zu schreiben und die Vielfalt eines neuen Instrumentes zu schätzen. Ich bin interessiert an Elektro-Musik und war schon immer, auch als Jugendlicher, vielseitig interessiert. Es gab damals dieses Metal-Lager und dem war es schwer zu erklären, dass ich eben auch KRAFTWERK und DEPECHE MODE geil finde.

Das Komische an der Sache ist, dass keines der Musiklager irgendwie offen für sein Gegenüber ist. Ich habe mal versucht, Dinge als DJ zu veröffentlichen, da wurde mir gesagt, ich kann kann doch nicht Elektro mit Rock verbinden. Da wurde mir klar, wie engstirnig manche Leute Musik hören.

Daher ist es zuallererst etwas ganz Egoistisches, was ich tue, weil ich meine eigenen Ideen mit EMIGRATE auslebe. Aber wenn ich dann damit auch noch Leute emotional berühre, ist das etwas Schönes. Demzufolge, wenn ich mich für Trap interessieren würde, würde ich das machen.

Sind auch EMIGRATE-Songs komplett auf Deutsch denkbar?

Klar. Es ist nicht einfach, Texte zu schreiben, ich hole mir da auch immer Hilfe, aber es ist für mich einfacher, auf Englisch zu schreiben. Vermutlich, weil ich mit der englischen Rockmusik aufgewachsen bin. Aber dadurch, dass ich in einer Band spiele, die hauptsächlich auf Deutsch singt, überlege ich natürlich, wie das funktionieren könnte.

Ich saß letztens in meinem Kabuff und bei Radio Eins wurde ein Schlageralbum vorgestellt. Und bei den Texten habe ich mir gedacht, das kann doch eigentlich nicht sein. Ich kapiere die Lyrics im Schlager sowieso nicht, die sind in meinen Augen so unehrlich. Insofern habe ich auch diesen Anspruch an mich selber, aber ich probiere es auf jeden Fall mal.

Mit jedem Album werden die Stimmen nach Liveauftritten von EMIGRATE lauter. Wie sieht es damit aus?

Der Grund, warum ich mit EMIGRATE nicht live spiele, ist, dass ich das Gefühl habe, ich müsste dann noch mehr live spielen. Ich möchte die Balance zwischen diesen beiden Welten halten. Ich möchte mich wohlfühlen mit dem, was ich tue. Natürlich heißt es „Sag niemals nie“, aber zur Zeit habe ich das Gefühl, dass ich nicht noch mehr live spielen möchte. Das hat sich durch die vergangenen Jahre natürlich verändert, aber nun gehe ich nächstes Jahr wieder mit RAMMSTEIN auf große Tournee und ich hoffe erstmal, dass ich das überlebe.

Im Moment steht live spielen mit EMIGRATE nicht an. Bedingt durch die Leute, die mit mir zusammen darin spielen, wird das Eis in der Hinsicht zwar dünner, aber es ist noch Eis da.

Du bist also nicht der Mensch, der jedes Jahr touren muss?

Überhaupt nicht. Ich bin mehr daran interessiert, zu kreieren. Ich habe immer das Gefühl, dass das, was du kreiert hast, auf der Bühne nur noch eine Rekreation ist. Es gibt natürlich ein wunderschönes Gefühl, wenn du auf der Bühne stehst und diese Energie mit den Menschen teilst. Aber das habe ich mit RAMMSTEIN, das brauche ich nicht noch mit EMIGRATE.

Manche Stücke wie „Freeze My Mind“ sind an die 20 Jahre alt. Wie stark haben sie sich von ihrer Ursprungsversion verändert?

Bei „Freeze My Mind“ habe ich gar nicht so viel gemacht. Das war so die Zeit, als ich von Berlin nach New York City übergesiedelt bin, wo ich auch das Gefühl hatte, ich müsste mal was Neues machen und raus aus meinem alten Leben. Da habe ich nur im Arrangement ein bisschen was verändert. Der Text ist gleich geblieben. Das ist der Song auf dem Album, bei dem am meisten von der ursprünglichen Identität übriggeblieben ist.

„You Can’t Run Away“ zum Beispiel war so eine Idee, die ich mal hatte. Ich wollte einen Bond-Song schreiben, fand aber die Lyrics nicht so cool und habe ihn erst einmal liegen gelassen. Dann saß ich mit den Jungs von RAMMSTEIN zusammen, während wir ein Album aufgenommen und über Selbstmord geredet haben. Nach der Diskussion habe ich den Refrain geschrieben und der Song entwickelte sich in eine ganz andere Richtung. Ich habe jeden Song noch einmal neu aufgenommen und alles neu eingespielt, aber jeder hat so seine Geschichte, wie viel ich verändert habe.

Es gibt deutlich weniger Featuregäste als auf den Vorgängeralben. Wieso ist das so?

Weil die Idee gar nicht da war, ein Album zu machen. Das war ja mehr dieser therapeutische Ansatz, da kam ich gar nicht auf die Idee, andere Leute zu fragen. Und ich war auch im Reinen mit meiner Gesangsperformance. Das ist ja auch immer so ein Prozess als Sänger, bei dem ich viel gelernt habe und viel mehr Respekt für meinen Sänger Till bekommen habe, den ich ja auch gefragt habe, ob er mit mir diesen Coversong („Always On My Mind“) singt.

Vor Jahren wurde ich mal von einer Plattenfirma angefragt wegen eines Coveralbums und da war nur noch dieser Song übrig zum Covern. Da habe ich mir diese Version von ELVIS PRESLEY angehört und war so begeistert von seiner Gesangsleistung. Ich bin jetzt kein großer Fan von ihm, aber die Art, wie diese Stimme durch jede Gitarrenwand durchgedrungen ist, hat mich total begeistert. Dann gab es aber wegen des Coveralbums Probleme und habe es sein gelassen.

Ich bin ganz spät erst auf Till als Sänger für diesen Song gekommen. Ich habe überlegt, wer denn noch so eine Stimme wie Presley haben könnte, die so eigen ist. Und manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. Till war die letzte Person, an die ich gedacht habe. Dann ging alles aber recht schnell.

Wenn Till Englisch singt, klingt es recht hart. Ich habe mir gedacht, es fehlt so ein bisschen die emotionale Komponente und habe mich noch einmal selbst ans Mikrofon gestellt und diese emotionale Komponente reingebracht.

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Quelle: Zoom-Call mit Richard Z. Kruspe
23.11.2021

Redakteur für alle Genres, außer Grindcore, und zuständig für das Premieren-Ressort.

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