
Wer musikalische Leichtgewichte sucht, darf gleich weiterklicken. THE RETICENT sind nämlich schwer, verdammt schwer.
THE RETICENT – verdammt schwer
Multiinstrumentalist, Sänger und Songwriter Chris Hathcock (auch XAEL) hat wieder Spaß daran, sich selbst und die geneigten Hörer mit seinem neuen Album „Please“ gehörig zu fordern. Die musikalische Melange aus Progressive Metal/Rock, Jazz, Death Metal, Djent und Mathcore ist unbequem bis schwierig, widersetzt sich jeglicher kommerzieller Anbiederung und ist schwer verdaulich, sicher nicht auf Anhieb zu verstehen. Dabei sind Musik und Texte von Hathcock das mentale Ventil für dieses Konzeptalbum, dessen Inhalte ebenfalls unschön bis deprimierend sind.
Unschön bis deprimierend
„Please“ beschäftigt sich inhaltlich mit psychischen Ausnahmezuständen wie Depressionen, Angststörungen, Selbstmordgedanken. Das ist vielseitig wie beklemmend, was THE RETICENT hier aufgreifen, wobei sich das Projekt immer wieder mit schwierigen Themen auseinandersetzt. Dieses inhaltliche Konzept erinnert ein wenig an „Six Degrees Of Inner Turbulence“ von DREAM THEATER. Aber zum einen sind THE RETICENT musikalisch anders, wenngleich ebenfalls Progressive Metal, zum anderen wirken auch die lyrischen Inhalte dunkler, abgründiger, emotionaler, intimer. Dass man dies miterlebt, sich mit manchem auch identifiziert, wird durch die verwendeten und verfremdeten Sprach-Beiträge der Betroffenen verstärkt. „Please“ ist eine schwierige musikalische Gedankenreise, die irgendwo aufwühlend, verstörend, vielleicht auch heilend ist.
Eine musikalische Gedankenreise
THE RETICENT bieten und auf dem Album einen harschen, kühlen Sound. Die verzerrte E-Gitarre ist das Hauptinstrument und klingt oftmals verhallt, diffus-bedrohliche Ambientklänge in Zwischenstücken, heftige musikalische Eruptionen zeugen vom emotionalen Chaos, über allem diese greifbare bedrückend tiefe Melancholie bis tiefe Verzweiflung. Ruhige Momente mit Akustikgitarre, sakral anmutende a Capella-Gesänge, Piano, auch mal abgefahrene Rhythmen und Percussion, minimalistische Hooklines. Da gibt es wenig bis keine Eingängigkeit. Die verschieden, vielseitigen Stile und ungewöhnliche Strukturen der anspruchsvollen Stücke brechen mit Konventionen und sind teils zunächst schwierig zu folgen. THE RETICENT sind unbequem und gleichzeitig intensiv.
Hathcock trifft den wunden Punkt, durchlebt in seinem Gesang das Vorgetragene, singt, schreit, hochemotional. „Intake“ ist die kurze Eröffnung, wir erfahren, dass Suizid in den USA eine Epidemie geworden ist – zack ist man drin, das schmerzt. Unruhe, Panik, alles zerreißende Spannung, ein innerer Kampf mit sich selbst: „The Concealment (Those Who Don’t Want To Wake)“ ist ein intensives Erlebnis dessen. Dann verstummen Gitarre, Bass, Schlagzeug und Stimme, ein plötzlicher Moment dunkler Ruhe, nur Herzklopfen, der nächste krachende Ausbruch. „The Night River (Those Who Cannot Rest)“ – tatsächliche Rastlosigkeit, rasende Blast Beats, Growls, Dissonanzen, Keyboardmotive, flackernde Riffs, alles dreht sich, rasende Unruhe, kein Frieden.
Den zweiten Teil von „Please“ trennen THE RETICENT mit „Diagnosis 1“, sachliche Stimme, kalter Schnitt. Präzise wie unbequem. Es braut sich was zusammen…
…und entlädt sich mit „The Bed Of Wasps (Those Who Consumed With Panic)“. Der Titel hält, was er verspricht. Die Panik ist zurück, stärker als zuvor. Schreiende Gitarren, krasse Blastbeats, harsche Growls, Djent und Mathcore. Nein, überhaupt nicht schön, aber intensiv. „The Scorn (Those Who Don’t Understand)“ – verstehen kann man THE RETICENT tatsächlich nicht immer. Aber darum geht es nicht. Auch hier wieder harsche Kälte, unvorhersehbare Eskalationen und Ausbrüche. Und die greifbare Wut. Aber da ist noch mehr wie folkloristische Percussion, schamanischer Gesang und orientalisches Gitarrenmotiv.
Das Zwischenstück „Diagnosis 2“ trennt den mittleren vom abschließenden Teil auf „Please“. Und es ändert sich wieder was…
Die Wut ist noch da, aber Verzweiflung und Resignation gewinnen Oberhand. Das getragene „The Riptide (Those Without Hope)“ verzichtet auf Schlagzeug, auf Wucht, auf Metal. Leise Gitarre, brechende, stille Stimme. Nichts bleibt mehr, nicht einmal die Hoffnung. Das schleifende „The Chance (Those Who Let Go)“ geht noch weiter, Klavier, geflüsteter Gesang, entrückt, ein Abschied. Kontrastierend dazu wenige zuversichtliche Harmonien, doch es sind nur Irrlichter. „Discharge“ ist das Ende und hinterlässt nur Leere. Was für ein schwerer Brocken!
Ein schwerer Brocken!
Es erfordert viel Muse und Geduld, das ehrliche wie eindringliche „Please“ zu erforschen, zu erarbeiten, ja zu ertragen. Das ist tiefsitzender Schmerz, wehtuend vertont. Es ist kein schönes, aber forderndes, intensives Erlebnis.

Markus Endres































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