Gravenhorsts Graveyard
Wacken Wohnzimmer Wide

Special

Dienstag, der 28. Juli 2020. Heute sollten eigentlich Freunde von mir zum Wacken Open Air aufbrechen, doch das ist wegen Corona abgesagt. Der Klimawandel sei zu abstrakt, damit man Angst vor ihm haben könne. Ganz anders natürlich Corona. Während man im April noch die Überlastung des Gesundheitssystems fürchtete, liegt heuer der öffentliche Fokus darauf, wie man verhindert, dass durch Urlauber eine zweite Welle ausgelöst wird. Grenzen dicht? Das hält die Tourismusbranche nicht aus. Man lässt also bei enormem gesundheitlichen Risiko unbekümmert den Spaß weiterlaufen. Wie hat das die Bundesliga nochmal gemacht? Ach ja, Testen. Während also Testkapazitäten aufgewandt werden, um das Menschenrecht auf Saufen unter der spanischen Sonne und das Vollfressen an türkischen Stränden durchzusetzen, bleiben die Äcker in Schleswig-Holstein verwaist und die Kassen der Musikindustrie leer. In der 30. Kalenderwoche standen ja auch nur läppische 177.687 Corona-Tests am Tag zur Verfügung.

Niemand kümmert sich um mein Bedürfnis nach Mega-Festivals. Ein überteuertes Ticket zu kaufen, auf dem Campingplatz genau neben den Ballermännern zu landen und im Matsch zu versickern. Es fehlte mir so sehr. Daher habe ich halt mein Heim-Festival gemacht. Zuhause. Es macht im Prinzip keinen Unterschied. Die Bands kann ich ohnehin nur auf der Leinwand sehen, die meisten Menschen dort gehen mir auf die Nerven (BLÄKK MEDDL LEUDDE. FOLL KVLT.) und so spare ich mir die Wege, die sich eigentlich nur deswegen so lang anfühlen, weil man immer ein bisschen im Matsch versickert. Los geht’s.

Der Einkauf: Es sollte natürlich so authentisch wie möglich sein. Warmes, ekliges Bier und labberiges Essen. Ich durfte also nur Fertiggerichte und Bier, bei dem das Pfand mindestens 30 % des Endpreises ausmacht, kaufen. Das warf allerdings neue Probleme auf. Normalerweise gibt es auf Festivals keine Lasagne, aber die war so widerlich und zäh, dass sie genau den Spirit hatte, den ich suchte. Gekauft. Das Bier-Regal war voll mit 5,0-Dosen in Deutschland-Farben. Weil die Europameisterschaft verschoben wurde, wurden die Dosen nur von Leuten gekauft, die finden, dass man auch mal positiv auf Deutschland blicken müsse, aber trotzdem Halstücher mit der Aufschrift „Merkels Maulkorb“ tragen. Und weil junge Menschen nicht so viel Bier wie möglich für so wenig Geld wie nötig kaufen mussten, fällt auch diese Zielgruppe weg. Ich bekam Mitleid und habe sofort ein paar Paletten eingepackt. Einer gepflegten Kotzerei stand nichts im Wege.

Der Campground: Es sollte natürlich so authentisch wie möglich sein. Mein vollgewucherter Garten bot dafür die perfekte Umgebung, mit all den Widrigkeiten der Natur. Zelt aufgeworfen, Pavillon aufgebaut. Hach, so hättte man das erste Bier des Festivalwochenendes genießen können. Da fiel mir auf, dass ich mich in keinen Stuhl setzen konnte. Ich habe keinen eigenen Campingstuhl, sondern setze mich immer in einen meiner Mitcamper. Okay, so authentisch wie möglich. Mein Blick fiel auf die Hecke zum Nachbarn. Elendiger Mistkerl. Ich habe ihm Zucker geliehen und er hat ihn mir nie zurückgegeben. Er müsste gerade bei der Arbeit sein. Auf Zehenspitzen spähte ich über die Hecke. Ich sah seine Gartenstühle. Passte nicht ganz, war aber so authentisch wie möglich. Elegant schwing ich mich rüber und landete aus Gründen der Tarnung auf meinem Bauch. Ich schnappte mir seinen Stuhl und warf ihn rüber. Danach auch mich. Stolz sitzend im Gartenstuhl meines Nachbarn blickte ich auf mein Wurfzelt. So ließ sich das erste Bier des Festivalwochenendes genießen. (Lieber Nachbar, wenn du das liest: Die Kolumne ist natürlich fiktiv. Den Stuhl hast du wahrscheinlich nur verlegt.)

Die Bühne: Es sollte natürlich so authentisch wie möglich sein. Hier kam es mir zu gute, dass ich oft zu besoffen bin, um nach vorn zu laufen oder gar meinen Platz dort zu verteidigen. Ich machte den Stream auf meinen Handy an, stellte es ins Bücherregal und entfernte mich drei Meter von ihm. Fast so, als ob ich da wäre.

Die Bands: Es sollte natürlich so authentisch wie möglich sein, daher habe ich die ersten Bands verpasst, um mich zu betrinken. Zu ANTHRAX hab ich mich vor mein Regal bequemt. Sie haben ‚I Am The Law‘ gespielt. Ein Live-Publikum ist für diesen Song anscheinend nicht würdig. Kann ich absolut nachvollziehen. Auf dem Rock-Hard-Festival letztes Jahr wurde ‚Antisocial‘ mehr gefeiert als ‚A.I.R.‘, folglich bekamen sie auch ‚I Am The Law‘ nicht zu hören. Charlie Benante spricht anschließend darüber, wie die Pandemie für ihn war. Darauf kann ich mich aber nicht konzentrieren. Sein Ace-Frehley-Shirt ist total geil, yeah. Danach BODY COUNT. Ham dieses Jahr ne geile Platte rausgebracht. Vorbildlicherweise tragen einige in der Band Maske. Sehr rücksichtsvoll, muhahahaha. Aber auch ein geiler Auftritt. Dann kam dieses ganze weichgespülte Zeug. Erstmal raus in den Garten. Ich scrolle auf dem Handy und sehe, dass ANGEL OLSEN einen neuen Song veröffentlicht hat. Geil. Und so autentish wie möglich. Auf den meisten Campinggrounds, auf denen ich rumhänge, wird ohnehin kein Metal gespielt. Danach verschwimmt langsam meine Erinnerung. Gut, dass ich später alles nochmal im metal.de-Bericht nachlesen konnte.

Der Kater: Nach den vier Tagen Festival lichtete sich so langsam der Nebel in meinen Kopf. Ich spürte die Rückenschmerzen, weil ich auf dem nackten Boden lag, spürte einen dumpfen, undefinierbaren Schmerz in meinem Kopf und roch das Split-Album meiner Alkoholfahne und der Kotzlache vor meinem Zelt. Als ich den Blick aus dem Zelt heraus warf, sah ich die totale Zerstörung. Der Stuhl war kaputt, auch das Pavillion und der Gartenzwerg, wem auch immer er gehörte. Erfüllt mit Scham las ich meinen Text für die August-Kolumne und wünschte mir, dass ich auch nur annähernd Jeanettes Eloquenz hätte. Aber egal, nächstes Jahr wieder.

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17.08.2020

Redakteur mit Vorliebe für Hard Rock, Heavy Metal und Thrash Metal

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