Kauan - Ice Fleet

Review

Wenn KAUAN ein neues Album veröffentlichen, dann ist das, als wenn in einem Weingut eine alte Flasche Merlot nach vierzig Jahren Reifung zur Verkostung geöffnet wird: ein Ereignis, dem Gourmets entgegenfiebern, weil sie es nicht abwarten können, diesen auf ihrer Zunge zu spüren – Gelegenheitstrinker aber lediglich kaum oder schulterzuckend hinnehmen. Denn KAUAN haben sich in den sechzehn Jahren Bandgeschichte und ihren insgesamt neun Studioalben nur bei hartgesottenen Undergroundenthusiast*Innen einen sehr großen Stein im Herzen erspielt.

KAUAN verstehen lernen

Das mag zum einen an der musikalischen Entwicklung der Band liegen, zum anderen aber auch daran, dass sie nie großen Wert auf Marketing oder ausgedehnte Touren gelegt haben (die wenigen Konzerte fanden ausschließlich in Osteuropa statt). Das Beschäftigen mit KAUAN fällt gar nicht so leicht. Von der Musik an sich abgesehen handelt es sich bei KAUAN nämlich um eine Band, die ursprünglich aus der russischen Metropole Tscheljabinsk stammt, ihre Texte komplett auf Finnisch (!) schreiben und mittlerweile in Estland leben. Das Nebenprojekt von Sänger und Mastermind Anton Belov (A NOEND OF MINE – auch sehr empfehlenswert) ist allerdings in der Ukraine beheimatet.

Musikalisch machen es KAUAN Neulingen ebenfalls nicht einfach, denn die Band hat ihren Stil über die verschiedenen Alben hinweg teils maßgeblich verändert (wobei sie dabei weit weg von ULVER sind). So begannen KAUAN als Death-Doom-Projekt mit leichten Spuren von Post und Progressive Metal. Gerade die Elemente des Post-Metals wurden dann zunehmend ausgebaut und mit Ambient-Elementen vermischt. Auf dem letzten Album „Kaiho“ (2017) haben sie sogar den Metal-Anteil komplett fallen gelassen und verträumten Post-Pop gespielt. Weiterhin sind die Songs gerne mal in Überlänge und weisen teils längere, ruhigere Passagen auf. Fans von schnell, hart und roh werden also mit KAUAN keine Freude haben.

KAUAN mit Liebe zum Detail

Sternstück ihrer Diskographie ist allerdings das 2015 bei Blood Music erschienene „Sorni Nai“, auf dem sie sich auf dem Höhepunkt ihres Schaffens präsentiert haben und das als Meisterwerk gefeiert wird. Das Konzeptalbum erzählt die Geschichte des Dyatlov-Pass-Mythos auf düstere und beklemmende Weise nach. Sechs Jahre nach diesem Album kehren KAUAN mit „Ice Fleet“ wieder zurück zu ihren Wurzeln und haben sich an einem ähnlichen Konzept wie bei „Sorni Nai“ gewagt. Wie auch bei dem großen Vorbild, setzen KAUAN hier auf eine mysteriöse Geschichte, die sich in den 1920er Jahren in Russland ereignet haben soll und viel Raum für (Verschwörungs-)Theorien und Spekulationen lässt. Kurz zusammengefasst:

Bei der Erschließung von Eispassagen an der nordöstlichen Küste der damaligen Sowjetunion stoßen Forscher auf eine Flotte aus Segelschiffen, deren Schiffsnamen und -nummern unkenntlich gemacht worden sind. An Bord befanden sich zahlreiche Leichen von anscheinend reichen Persönlichkeiten. Die Körper der Toten weisen keine Hinweise auf Erfrieren auf. Vielmehr scheint es so als ob sie vor ihrem Tod Grauenhaftes erlebt haben müssen. Einzelheiten über den Fall sind nicht weiter bekannt, da die Regierung diesen Fall schnell unter Verschluss gehalten hat. Und auch heute kann eine Akteneinsicht nur auf Nachfrage geschehen.

In sieben Kapiteln erzählen KAUAN die Geschichte der „Ice Fleet“ auf Grundlage von Briefen und Artikeln nach. Der Veröffentlichung soll wohl zu jedem Kapitel ein kleiner Text beigefügt sein, dieser lag uns nicht vor, weswegen keine tiefergehenden Details genannt werden können. Weiterhin haben KAUAN zu „Ice Fleet“ ein 40-seitiges Pen-&-Paper-Rollenspiel ausgearbeitet, das den physischen Kopien (CD und Vinyl) beiliegt. Auch hier haben wir keinen weiteren Infos erhalten.

Mit der „Ice Fleet“ ins Ungewisse

Doch zur Musik. KAUAN kehren nicht nur inhaltlich wieder zu ihrem gefeierten Album „Sorni Nai“ zurück. Auch musikalisch richtet die Band sich wieder stark an diesem aus. Sehr zum Gefallen der Fans, die von „Kaiho“ mehr als überrascht gewesen sind. Das erste Kapitel „Enne“ ist ein ruhiges Instrumentalstück, bei dem im Hintergrund das Knarzen der sich durch das Eismeer bahnenden „Ice Fleet“ zu hören ist. Der Hörer wird direkt in die Geschichte hineingesogen und manche Stellen erinnern an ALCEST. Nach über vier Minuten holt „Taistelu“ in die harsche Welt des Eismeeres. Doomige Gitarrenwände schweben zusammen mit atmosphärischen Keyboard-Salven über dem eiskalten Wasser. Und als langjähriger Fan zuckt einem unweigerlich ein Lächeln ins Gesicht. Das sind KAUAN wie man sie lieben gelernt hat.

Wer bei dem dritten Song „Maanpako“ denkt, dass es sanft weitergeht, der hat sich geirrt. Der fast schon an Doom-Jazz erinnernde Anfang wird nach zwei Minuten von donnerndem, aber dennoch atmosphärischen Death-Doom aufgebrochen und wer sich schon über „Taistelu“ gefreut hat, verliert nun endgültig seine Fassung. KAUAN sind nun endgültig zu alter Stärke und Größe zurückgekehrt. Auch wenn der Vergleich komisch klingen mag wirkt es fast so, als hätten sich ALCEST und MOONSORROW zu einem gemeinsamen Projekt zusammengetan. Auf Song Nummer Vier „Kutsu“ geht es atmosphärisch scheppernd weiter. Der Gesang ist hier eher hintergründig und von der glockenklaren Stimme Belovs getragen. Auch hier sind KAUAN unverkennbar KAUAN. Immer wieder schwebt eine engelsgleich wirkende Frauenstimme über der getragenen Melodie.

Episch wird es dann bei dem achtminütigen „Raivo“, bei dem aus anfänglich noch ruhigem Post-Rock ein wahres Death-Doom-Gewitter über den Hörer einbricht. Ganz klar der Höhepunkt des Dramas beziehungsweise von „Ice Fleet“. Auf „Ote“ geht es dann wieder vergleichsweise ruhiger zu. Der Höhepunkt der Geschichte wird hier überschritten und das Ende eingeläutet. Über sieben Minuten hinweg breitet sich ein Gewand aus atmosphärischem Post-Metal über den Hörer aus, der auf dem Finale „Hauta“ noch einmal minimal härter ausfällt und die Brücke zu „Kutsu“ und „Enne“ schlägt.

Ist „Ice Fleet“ das neue „Sorni Nai“?

Dadurch ist „Ice Fleet“ ein Album geworden, dessen einzelne Songs sicherlich seinen Gefallen finden werden, aber vor allem in der Gesamtheit ein wunderbares Ganzes bilden. KAUAN machen es damit abermals Neulingen und Interessierten nicht leicht. Sinn und Schönheit gehen beim sporadischen Anspielen einzelner Songs verloren. Um zu dem am Anfang aufgeworfenen Vergleich eines guten Weines zurückzukehren, reicht es bei KAUAN nicht, einmal kurz daran zu nippen. Man muss sich das gesamte Album auf der Zunge zergehen lassen.

Nur so wird einem das vollmundige Aroma offenbar. Für Fans von KAUAN ist „Ice Fleet“ auf jeden Fall ein Must-Have, vor allem, da sie hier (endlich) wieder zu ihren gewohnten Stärken zurückkehren und aus ihren Schwächen der Vergangenheit gelernt haben. Wird „Kaiho“ als Experiment außen vor gelassen, kann man „Ice Fleet“ mit Fug und Recht als würdigen Nachfolger von „Sonai Nai“ betrachten, auch wenn „Ice Fleet“ nicht ganz an dessen Größe herankommt (aber das ist auch Meckern auf allerhöchstem Niveau). Mit „Ice Fleet“ haben KAUAN dennoch ein wahres Fest für Fans von Bands wie ALCEST, SWALLOW THE SUN, AGALLOCH, EMPYRIUM, LES DISCRETS und ELDAMAR geschaffen. Wobei KAUAN hier schon eine eigene Klasse für sich aufgemacht haben.

Text: Tim Otterbeck

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02.04.2021

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2 Kommentare zu Kauan - Ice Fleet

  1. Watutinki sagt:

    Wow… der Song aus dem Video hat neugierig gemacht und wenn man sich auf der Bandcamp Page den dann Raivo anhört, ist man dem Ganzen gänzlich verfallen. Sehr starkes Teil! Da müssen sich die im Review häufig angeteaserten Alcest, aber schon sehr weit hinten anstellen.
    Die Äthetik des Konzeptes und des Covers, wird musikalisch perfekt vermittelt. Lediglich die recht vorhersehbaren Songstrukturen, leiser Beginn, bombastischer Mittelteil, leiser Abklang, wissen weniger zu gefallen. Auch die Melodien klingen irgendwie recht bekannt und sind nicht ganz auf dem Level von bspw. frühere Opeth oder Empryrium. Wem Empyrium aber bspw. ZU romantisch daherkommt, wird hier eher glücklich werden. Bin mal auf das ganze Album gepsannt. Auch tolles Review, man merkt, dass der Redakteur hier ein persönliches Kleinod bespricht.

  2. Watu sagt:

    Immer noch großartig und auch das im Februar neu erschienene Album Atm Revised ist wunderbar – zum dahinschwelgen und dahinträumen. Zumindest Atm Revised erinnert mich an eine eigenständige Schnittmenge zwischen Tenhi und Emyprium, wenn auch nicht ganz so stark, dafür aber irgendwie etwas luftiger, unbefangener, vielleicht sogar charmanter. Fühlt sich wirklich so an, „als wenn in einem Weingut eine alte Flasche Merlot nach vierzig Jahren Reifung zur Verkostung geöffnet wird.“

    8/10